Endlich dürfen sie gehen. Kein Wort sagt sein Vater. Öffnet die Beifahrertür des Autos, sieht ihn auffordernd an. Christoph zögert einen Moment, da packt ihn der Vater am Arm, zieht ihn näher. Gerade noch, dass er ihm nicht die Hand auf den Kopf legt und ihn ins Auto drückt, wie es Polizisten im Fernsehen manchmal bei einer Verhaftung machen.
»Ich muss Eugenia anrufen«, sagt Christoph.
»Es ist zu spät, das hast du doch gehört.«
»Vielleicht hat sie noch eine Chance …«
Keine Antwort.
»Sie verdächtigen nun Isabel oder Eugenia, nicht wahr?«, fragt er seinen Vater.
»Reicht es dir nicht, dass du raus bist?«
»Nein. Vor allem nicht, wenn es zulasten meiner Freundin geht.«
Der Vater schnallt sich an, startet den Wagen und fährt los. Beherrscht und konzentriert, doch Christoph sieht, dass er vor Wut kocht.
Die Umarmung seiner Mutter, die vielen Fragen. Er versucht von zu Hause Eugenia zu erreichen, aber es gelingt ihm nicht. Auch Isabel geht nicht an ihr Handy. Er duscht, zieht sich frisch an, hält sich an Alltagsdingen fest, denn seine Gedanken drehen sich im Kreis.
Was ist passiert? Was kann er für die beiden noch tun?
»Mom, könntest du nicht zum Waldhaus von Reichardts fahren …«
»Hör auf, Christoph, es ist vorbei.«
»Woher willst du das wissen?«
»Was auch immer mit Eugenia und Isabel passiert – du kannst ihnen nicht mehr helfen.«
»Aber der Mörder von Kröger …«
Da verliert sein Vater die Beherrschung.
»Hör auf!«, brüllt er. »Du sitzt tief genug in der Scheiße! Hör verdammt noch mal auf, den Helden zu spielen. Du hast alles nur noch schlimmer gemacht!«
Christoph zuckt zusammen. Nie hat er seinen Vater so laut erlebt. Mom offenbar auch nicht. Sie starrt ihren Mann fassungslos an.
»Es ist keine Schande, anderen Menschen helfen zu wollen«, sagt sie.
»Aber es ist ein Fehler, wenn man es so dilettantisch macht wie dein Sohn.«
Der Hieb ist gut platziert und er trifft. Christoph sitzt da, er fühlt sich klein, schwach und dumm. Auch Eugenia war der Meinung, er habe alles nur schlimmer gemacht.
Wo und wann hätte er anders handeln können?
Wenn er sich klüger verhalten hätte, wäre dann alles anders gekommen?
Wären Eugenia und Isabel in Sicherheit?
Christoph geht alles noch einmal durch. Diese wenigen Tage, Stunde für Stunde. Der Anruf von Isabel, die Fahrt nach Köpenick und von dort weiter Richtung Erken.
Lag hier schon der Fehler?
Sein Besuch bei Dr. Bruckner, Isabels Flucht vor dem verhassten, unbekannten Vater. War das der Knackpunkt?
Ihr Zusammentreffen auf der Wrangelstraße. Die Versöhnung, ihre Umarmung. Er hätte trotzdem die Augen offen halten sollen. Aber er hat es nicht getan. Ein Moment der Zuneigung hat ihn unvorsichtig gemacht.
Nein, den Fehler hat er viel früher begangen. Er hätte den Vater nicht nur suchen und finden sollen. Sondern recherchieren. Dann hätte er gewusst, dass Isabel legal in Deutschland bleiben könnte. Aber: Hätte sie das getan? Ja, er glaubt fest, dass sie sich hätte überzeugen lassen. Heraus aus dem Schatten, in die Legalität. Mit Bruckners Hilfe. Aber er hat nicht gründlich recherchiert. Sein Versäumnis.
Er kann es nicht mehr ändern.
Sein Vater lässt ihn nicht aus den Augen. Er ist ein Gefangener im eigenen Haus. Natürlich könnte er es auf eine Auseinandersetzung, einen Kampf ankommen lassen. Aber er weiß selbst nicht, was er jetzt noch tun kann.
Dann die Idee: Er muss Bruckner erreichen. Das ist der Einzige, der noch etwas tun könnte – wenn er denn will.
»Ich gehe ins Bett«, sagt Christoph und steht auf. Es ist noch nicht Schlafenszeit, aber natürlich leuchtet den Eltern ein, dass er hundemüde ist.
»Du haust nicht ab!« Es klingt wie ein Befehl. Auf Befehle gibt es keine Antwort, also sagt er nichts.
»Ich kann dir vertrauen?«, fragt der Vater nach.
Christoph nickt und zwingt sich, seinem Vater bei dieser Lüge in die Augen zu sehen.
Er ruft Bruckner an.
Was ist mit Isabel?
Was ist mit Eugenia?
Jeder von beiden weiß etwas von den zwei Frauen, keiner weiß genug, um viel zu unternehmen.
Bruckner wollte noch einmal zu Eugenia ins Waldhaus fahren, wie er es mit Christoph vereinbart hatte. Doch als er da ankam, da war sie bereits weg. Sein Anwalt hat sich erkundigt: Eugenia war festgenommen worden.
Christoph gesteht, er habe Isabel aus den Augen verloren.
»Die Polizei wird sie finden, wenn es nicht schon längst passiert ist«, sagt Bruckner. »Aber ich werde mich um sie kümmern, versprochen.« Er räuspert sich. »Ich werde die Anerkennung der Vaterschaft in die Wege leiten. Isabel kann dann auf alle Fälle bleiben.«
»Sie wird sich von Ihnen nicht helfen lassen.«
»Warten wir’s ab.«
»Sie kennen sie nicht.«
»Aber ich möchte meine Tochter kennenlernen.«
»Und was ist mit Eugenia?«
»Das ist etwas komplizierter, aber mein Anwalt sieht auch da eine Möglichkeit.«
Erst ganz langsam realisiert Christoph, was das bedeutet.
Vielleicht haben Eugenia und Isabel die Chance auf einen Neuanfang. Ohne Geheimnisse oder Schattenleben. Hier in Deutschland.
Wenn sie nichts mit dem Mord an Kröger zu tun haben. Wenn …
Er kann es sich noch gar nicht vorstellen. Es klingt zu schön, um wahr zu sein. Und er ist zu erschöpft und zu verwirrt, um sich wirklich freuen zu können.
Aber es gibt ihm neuen Auftrieb. Er muss Isabel finden. Es ihr erzählen. Die Jahre in der Illegalität waren unnötig, sinnlos. Aber sie sind vorbei. Sie muss zu ihrem Vater, sich mit ihm versöhnen. Er ist ihre Rettung, ihre Hoffnung.
Er ruft sie an.
Sie geht nicht ran.
Wo könnte sie sein?
Sie geht sicher nicht zurück zum Waldhaus.
Wenn sie Hilfe sucht, dann vielleicht bei den Hausbewohnern.
Er muss sie dort suchen, wo sie Menschen kennt, denen sie vertraut.
Mehmet, Adamu, Tatjana.
Das ist seine einzige Chance.
Christoph hört seine Eltern streiten, die Haustür knallt, sein Vater ist gegangen. Vermutlich schläft er in der Kanzlei. Das tut er manchmal, wenn zu Hause dicke Luft ist.
Als er aus seinem Zimmer kommt, steht seine Mutter da und beobachtet ihn skeptisch.
»Ich glaube auch, es wäre besser, wenn du hierbleibst.«
»Noch ein Versuch, bitte.«
»Ich kann dich sowieso nicht aufhalten.«
Sie legt ihm wieder Geld hin. Er küsst sie auf die Wange.
»Das werde ich dir nie vergessen.«
Sie lächelt traurig: »Doch, das wirst du.«
Wieder treibt er sich stundenlang auf der Wrangelstraße herum und starrt auf das Tor mit den Graffitis. Noch ist es dunkel, aber in zwei oder drei Stunden wird die Sonne aufgehen. Er sollte sich besser verstecken. Er geht hinein in den Hinterhof, verbirgt sich hinter den Büschen, setzt sich auf einen Stein und wartet. Sollte jemand kommen oder das Haus verlassen, er kann jederzeit hinter den Busch oder die Mülltonnen schlüpfen.
Nichts passiert. Seine Hoffnung, Isabel hier zu finden, wird von Minute zu Minute kleiner. Sie ist nicht hier und sie wird auch nicht kommen. Davon ist er auf einmal genauso überzeugt wie vorher davon, dass sie hier auftauchen wird.
Er will gerade gehen, als jemand das Haus im Schatten der Dunkelheit verlässt. Christoph huscht hinter die Mülltonnen. Eine Frau, so scheint es. Sie macht nirgends Licht, sie geht leise, sieht sich um. Offenbar will sie nicht gesehen werden.
Nein, es ist nicht Isabel. Diese Frau ist größer, breiter, ihr Gang ist nicht leicht und federnd, sondern schwer. Sie sperrt ein Rad auf.
Verdammt. Sie will wegfahren.
Wer ist sie? Und wohin will sie um diese Zeit? Das hat doch alles mit Isabel nichts zu tun, oder?
Ein Rascheln. Er hat mit seinem Fuß ein paar welke Blätter erwischt. Die Frau wendet den Kopf. Misstrauisch, forschend. Da erkennt er sie. Es ist Krögers Frau. Vielleicht fährt sie zur Arbeit, sie jobbt in einem 24-Stunden-Supermarkt, das hat Isabel ihm einmal erzählt.
Ein Bild taucht in seinen Gedanken auf. Isabel und er, als sie sich draußen auf der Straße wiedergesehen, in den Arm genommen und sich einen Neuanfang versprochen haben. Diese Frau stand auf der anderen Straßenseite. Er erinnert sich noch an ihren Blick voller Hass und Neid. Kam nicht kurz darauf die Polizei?
Die Frau hat ihn jetzt offenbar nicht entdeckt in seinem Versteck. Sie steigt aufs Rad und fährt los. Wie einen Film sieht er die Szene wieder vor sich. Wie die Polizei auf ihn und Isabel zukam, nach den Papieren fragte. Wie Isabel aufgeben wollte, wie er sie anschrie, sie solle weglaufen, wie er dem Polizisten ein Bein stellte und dann festgenommen wurde. Da stand diese Frau und sah zu. Stand sie schon länger da? Er weiß es nicht. Was hat sie gerufen? »Da läuft sie!« – und dann hatte sie mit dem Finger auf die fliehende Isabel gezeigt. Schlagartig wird ihm klar: Diese Frau hat die Polizei verständigt, sie hat Isabel verraten.
Er läuft hinaus auf die Straße und sieht sich um. Da hinten, der schwache Schein einer Radlampe auf dem Bürgersteig. Sein Roller steht um die Ecke. Er hat keine Zeit, ihn zu holen, dann wäre sie längst weg.
Soll er ihr im Laufschritt folgen? Schafft er das? Ist es überhaupt sinnvoll?
Er hört auf seinen Instinkt.
Los, hinterher.