9. Kapitel

Als Isabel die Augen aufschlägt, blickt sie in Christophs Gesicht. Er ist ihr so nah, lächelt sie zaghaft an. Sie lächelt zurück.

»Gut, dass du da bist.«

Er nimmt sie in den Arm. Sie drückt ihr Gesicht an seine Schulter. Sie hört ihn sagen, dass er sie liebt, wie sehr er sie vermisst hat, dass er sie niemals im Stich lassen wird, dass alles gut wird.

»Die Polizei sucht uns noch?«

Isabel gibt sich keinen Illusionen hin.

»Sobald sie den Mörder von Kröger haben, werden sie damit aufhören.«

Isabel merkt, dass Christoph Zuversicht verbreiten will.

»Haben sie dich oft verhört?«

»Sie können mir nichts nachweisen.«

»Hilft dir jemand?« Sie spürt Christophs Zögern.

Setzt nach: »Was ist mit deinen Eltern, mit Ben und den anderen aus deiner Clique?«

»Mom hat mir Geld gegeben – für euch.«

Isabel möchte dankbar lächeln, aber es gelingt ihr nicht.

Sie schiebt ihre kalten Hände unter Christophs T-Shirt, sie spürt ihn erschauern, aber sie weiß auch, dass er diese Berührung genießt. Sie kann nachfühlen, wie sehr er sich nach ihr gesehnt hat. Denn auch wenn sie daran zweifelt, ob und wie er ihnen helfen kann, an seinen Gefühlen hat sie nie gezweifelt.

»In ein paar Monaten bin ich achtzehn und wir heiraten, dann kannst du hierbleiben«, verspricht er ihr, und sie möchte lieber nicht nachfragen, ob das wirklich so einfach geht. Sie braucht eine Hoffnung. Sie sind erst kurze Zeit hier und doch haben diese paar Tage in der Waldhütte sie zermürbt. Sie sieht aus dem Fenster, ob fremde Menschen in der Nähe sind, sie wagt sich kaum vor die Tür, sie liegt, versucht zu schlafen und spricht mit ihrer Mutter. Die Unsicherheit quält sie, verfolgt sie in ihre Träume, ebenso wie die Bilder des toten Hausmeisters.

Wie lange kann ein Mensch sich verstecken? Manche tun das jahrelang. Aber was macht es mit einem Menschen, wenn er nicht existieren darf?

Sie weiß es doch. Es war die ganzen Jahre so, dass sie eigentlich nicht da sein durfte. Zumindest nicht hier, in Deutschland. Sie lebten wie Schatten. Jetzt dürfen nicht einmal mehr ihre Schatten sichtbar sein.

 

Sie küsst Christoph, sie hält ihn fest. Sie hört seine tröstenden, zuversichtlichen Worte, er klingt so optimistisch, er gibt ihr Kraft. Wo nimmt er sie nur her? Auch für ihn müssen diese Tage doch die Hölle gewesen sein. Sie spürt, dass er einsam ist da draußen in der Welt. Niemand hält zu ihm, vielleicht noch seine Mutter. Doch auch ihr wäre es sicherlich lieber, wenn ihr Sohn sich nicht um dieses illegale Mädchen kümmern würde, denkt Isabel. Riskiert er nicht eine Anzeige, ein Gerichtsverfahren? Setzt er nicht seine Zukunft aufs Spiel – für sie und ihre Mutter?

 

Stimmen von unten. Ihre Mutter. Ein Mann.

Isabel löst sich von Christoph, sieht ihn fragend an.

»Wer ist da?«

»Ich habe jemanden mitgebracht, der euch helfen kann.«

»Wer?«

»Ihr braucht bald eine neue Unterkunft. Vielleicht hat er eine Idee.«

»Wer?«

Isabel spürt sein Zögern. Sie rückt weiter von Christoph ab.

»Wer ist es, Christoph?«

»Johannes Lehnert.«

Sie spürt die Wut in sich hochsteigen und die Enttäuschung. Christoph hat sich nicht an ihre Vereinbarung gehalten; ihre Gefühle, ihr Hass auf diesen Mann, das alles war ihm egal. Er hat einfach getan, was er selber für richtig hielt, ohne Rücksicht auf sie. Die Verantwortung für uns ist ihm zu groß geworden, denkt sie, er will uns loswerden, die Last abwälzen. Sie weiß, dass sie ihm Unrecht tut, aber es fühlt sich gut an, diese Wut zuzulassen nach diesen Tagen der Vorsicht und Resignation.

Er redet weiter, und sie weiß, warum. Er will verhindern, dass sie ihm ihre Vorwürfe ins Gesicht schreit, er hofft, sie würde sich beruhigen, wenn er gut argumentiert.

»Er war lange in Spanien, er wusste doch gar nicht, dass er eine Tochter hat, gib ihm eine Chance …«

Isabel will es nicht hören, sie springt auf. »Du hast uns verraten.«

»Sei vernünftig. Wir brauchen ihn.«

»Nicht diesen Mann.«

»Aber er ist der Einzige …«

»Ich will ihn nicht sehen.«

Sie weiß nicht, was sie denken, fühlen soll. Sie weiß nur, dass sie hier wegmuss. Weg von Christoph. Und weg von diesem Mann, der da unten mit ihrer Mutter sitzt. Sofort! Sie zieht sich einen Pullover über, Strümpfe, Schuhe. Schubst Christoph weg, der sie beruhigen will.

»Was hast du vor?«

Sie antwortet ihm nicht. Als er nach ihrem Arm fasst, faucht sie ihn an.

»Lass mich los.«

Mit schnellen Schritten die Treppe hinunter. Da sitzen sie. Eugenia, weinend. Daneben dieser Fremde, der angeblich ihr Vater ist.

Christoph kommt hinter ihr die Treppe herunter.

»Isabel, bitte, lass uns reden.«

Isabel möchte nicht reden. Nicht mit Christoph, nicht mit ihrer Mutter, schon gar nicht mit dem Fremden.

»Isabel …«, sagt dieser und versucht ein Lächeln.

Sie würdigt ihn keines Blickes, ebenso wenig wie Christoph, der an der Treppe steht. Isabel sieht noch, dass er den Mund aufmacht, sich einmischen will, aber sie lässt ihm keine Chance.

Sie rennt zur Tür, reißt sie auf und läuft hinaus.

»Isabel!«

Sie hört Christoph und ihre Mutter schreien. Aber sie weiß, dass die beiden sie nicht mehr sehen können. Die Nacht und der Wald haben sie verschluckt. Irgendwie wird sie auf die Hauptstraße kommen. Irgendwie nach Berlin. Ein paar Euro hat sie noch.

Sie fühlt sich von allen betrogen. Von Christoph, weil er diesen Mann mitgebracht hat. Von ihrer Mutter, weil sie mit diesem Typ spricht.

Sie braucht ihn nicht, sie will ihn nicht brauchen. Denn er hat sie nicht gewollt, sie kann nicht glauben, dass er ihnen jetzt helfen wird.

Vielleicht hat Christoph recht, denkt sie. Wenn der Tod des Hausmeisters geklärt ist, dann wird die Polizei auch die beiden illegalen Frauen vergessen, die im Zusammenhang mit diesem Verbrechen gesucht wurden. Sie werden zwar nicht mehr in die Wrangelstraße zurückkehren können, aber ein neues Leben in einem anderen Berliner Kiez, das ist möglich. Sie hatten schon so viele Leben, wieso sollen sie nicht noch einmal von vorne anfangen?

Es gibt also noch eine Chance – auch ohne ihren Vater: Sie muss den Mörder Krögers finden, dann kehrt Ruhe ein. Wenn sie nur wüsste, wo sie suchen, wie sie vorgehen soll. Am besten redet sie mit Esra und Mehmet. Sie ist sicher, dass die beiden nicht die Polizei rufen werden.

Sie muss nach Kreuzberg, Esra morgen von der Schule abholen. Oder Mehmet vor seiner Arbeitsstelle abfangen. Sie weiß nicht, wie hier draußen die Busse fahren. Im Notfall geht sie eben zu Fuß bis Köpenick. Sie hat ja die ganze Nacht.

Wenn Mehmet oder Esra ihr helfen, das wäre zumindest ein Anfang. Aber sie weiß auch, dass sie vorsichtig sein muss. Nicht nur die Polizei, auch Christoph wird sie suchen. Er möchte sie bestimmt wieder ins Waldhaus zurückbringen. Er wird sicher nicht akzeptieren, dass sie sich an Mehmet wendet. Er war immer auf ihn eifersüchtig. Es stimmt, Mehmet mochte sie von Anfang an. Seit sie in dieses Haus gezogen sind. Und er hat sie immer vor Christoph gewarnt: »Er ist nicht für dich da, wenn du ihn brauchst.« Nun wird sich zeigen, ob Mehmet für sie da ist.

 

Sie überlegt, während sie durch den Wald läuft. Christoph wollte mit Leuten aus ihrem Haus reden, um etwas über Krögers Tod zu erfahren. Hat er das überhaupt getan? Oder hat er aufgegeben, nachdem ihn die Witwe dort erwischt hat? Hätte ihm überhaupt jemand etwas gesagt? Er ist doch ein Fremder in ihrer Welt. Es ist gut, dass sie die Dinge selbst in die Hand nimmt.