17. Kapitel

Christoph sieht sie an, als würde er sie zum ersten Mal sehen.

Als wären sie neue Menschen. Er bemerkt ihren Blick und spürt: Es geht ihr genauso.

Es ist, als würde ihre Geschichte noch einmal ganz von vorne beginnen.

 

Die letzten Tage und Nächte haben sie verändert.

Sie haben sich fast verloren. Aber jetzt sind sie einander nah.

Mitten auf der Straße in Kreuzberg.

Sie sehen sich an mit dem Gefühl, dass sie wirklich eine Chance haben, noch einmal von vorne anzufangen. Als wäre nichts gewesen.

 

Sie verstecken sich nicht voreinander.

Aber sie verstecken sich auch nicht vor der Welt.

Nachdem sie so lange vorsichtig waren, niemandem trauten, nicht einmal einander, sind sie jetzt offen. Aber auch schutzlos.

 

Christoph hält Isabel im Arm, sie können nicht reden. Er weiß, er sollte wachsam sein, die Augen offen halten, sie sind mitten in Isabels Viertel, jeder Passant könnte sie hier erkennen. Er will sie doch beschützen, er will, dass alles gut wird.

Doch er übersieht die Frau mit den Plastiktüten voller Einkäufe, die auf der anderen Straßenseite geht und ihnen einen zunächst irritierten Blick zuwirft, der nach und nach hasserfüllt wird. Würde er ihr in die Augen sehen, dann könnte er die Gefühle entdecken, die einen Menschen zerfressen: Neid, Eifersucht, Missgunst, Enttäuschung, Wut.

 

Isabel schmiegt sich in seine Arme und weint. Er genießt ihre Nähe. Er hört Isabels Versprechen, dass sie ihm nie mehr misstrauen will. Er wiederum verspricht ihr, dass er immer für sie da sein möchte. Er spürt den Zauber des Neuanfangs – aber auch, wie diese Magie Sekunden später verflogen ist.

 

Denn Christoph kennt das Gefühl, wenn Isabel sich verhärtet. Er weiß aber nicht, warum sie es ausgerechnet jetzt tut, in diesem innigen Moment.

Sie blickt an ihm vorbei, irgendetwas in seinem Rücken macht ihr Angst. Er sieht diese flackernde Panik, er sieht, wie sie lautlos das Wort formt: Polizei.

»Lauf«, flüstert er. »Ich halte sie auf.«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht mehr.«

Sie zittert am ganzen Leib. Er möchte ihr seine Kraft geben, er fühlt sich stark durch ihre Versöhnung.

»Hau ab. Bitte.«

»Ich schaff das nicht mehr.«

Hinter ihm schon die Stimme: »Ihre Ausweise bitte.«

Er stößt sie von sich. »Lauf!«, brüllt er und jetzt beginnt sie zu rennen. Einer der Polizisten will ihr nach, doch Christoph stellt ihm ein Bein. Er knallt aufs Pflaster, ein grässlicher Fluch, sein Kollege greift sich Christoph, nicht gerade zimperlich.

 

Da sieht er sie stehen, die Frau des Hausmeisters.

»Da ist sie!«, schreit die und deutet auf Isabel, die geschickt zwischen all den Menschen hindurch ihren Weg findet.

Christoph sieht sie an. Jetzt kann er erkennen, dass sie ihnen nicht gönnt, was sie selbst nie gehabt hat. Dieses Gefühl, füreinander da zu sein, bedingungslos.

 

Es ist wie immer, überlegt er, als ihn die Polizisten zu ihrem Wagen bringen.

Gerade war Isabel noch da, jetzt ist sie verschwunden.

Intensive Nähe, flüchtig wie ein Hauch. Dann ist sie weg.

Es fühlt sich an, als könnte sie sich in Luft auflösen.

Immer hat ihn das verwirrt und verärgert.

Zum ersten Mal freut er sich darüber. Sie konnte fliehen.