Isabel steht am Ufer und beobachtet das Hausboot, das sacht auf den Wellen schaukelt. Es ist still, alle schlafen, die Welt wirkt friedlich und ruhig. Doch das Boot in der Dunkelheit, es hat für sie etwas Bedrohliches. Aber sie hat keine Wahl. Sie braucht ein Versteck.
Niemand hat sie beachtet, als sie im Schutz der Nacht durch die Köpenicker Straße ging. Als sie in einem Haustor verschwand, den gepflegten Hinterhof durchquerte und hinunter zur Spree ging. Die letzten zwei Wochen vor Krögers Tod ist sie diesen Weg öfter gegangen, nie freiwillig.
Sie hört das Plätschern der Wellen, die gegen das Boot schlagen. Sie zieht es am Seil etwas heran, springt hinauf.
Er kommt nicht, das muss sie sich immer wieder vorsagen. Er kann nicht kommen, er kann ihr nichts mehr tun, er ist tot.
Sie scheut sich davor hineinzugehen. Sie will das alles nicht sehen. Tisch, Stuhl, Bett. Sie will sich nicht setzen an diesem Ort, der ihr so zuwider ist, mit dem sie so viele schlimme Erinnerungen verbindet.
Sie bleibt draußen, aber ihr wird kalt. Es nieselt ein bisschen, sie hat keine warmen Sachen dabei. Also öffnet sie doch die Tür zur Kajüte, geht hinein, setzt sich in der Dunkelheit auf einen Stuhl. Unbeweglich hockt sie da, starrt hinaus auf das Ufer.
Liebesnest hat er es immer genannt und gelacht.
Ein Würgen. Isabel führt die Hand vor den Mund. Sie muss sich fast übergeben. Unwillkürlich geht ihr Blick zum Bett.
Für sie war dieses Boot eine Falle, so stellt sie sich die Hölle vor.
Nun ist es ihre Rettung, ihr Versteck.
Warum fühlt sie sich nicht sicher? Weil sie hier nie sicher war? Weil sie hier die schlimmsten Stunden ihres Lebens verbracht hat mit einem Mann, der sie anekelte, den sie fürchtete, der sie benutzte?
Sie denkt an Christoph. An ihre Versöhnung mitten auf der Straße. Es war gut gewesen, seine Nähe zu spüren, dass er bei ihr war, obwohl er wusste, was passiert war. Vielleicht hätte sie ihm früher vertrauen sollen. Erzählen, wie Kröger sie unter Druck gesetzt, dann bedroht hatte, wie sie keinen Ausweg mehr wusste. Aber sie hatte kein Wort über die Lippen gebracht. Es auszusprechen war unmöglich. Sie konnte es ja nicht einmal ihrer Mutter sagen. Zwei lange Wochen verbarg sie vor ihr, dass der Kerl sie gezwungen hatte, mit ihm zu schlafen.
Sucht euch eine neue Wohnung, zieht um, ich finde euch überall. Und wenn du nicht brav bist, rufe ich die Polizei. Das waren seine Worte.
Sie hatte keinen Ausweg gewusst. Sein Tod war eine Erlösung – einerseits. Aber er war auch der Anfang dieser Flucht.
Das Schwanken des Bootes ist kaum zu spüren, aber es ist da. Kein fester Boden unter den Füßen. Keine Sicherheit. Aber ein Versteck.
Sie möchte ihre Mutter anrufen. Ihre Stimme hören, wissen, wie es ihr geht. Doch der Akku ihres Handys ist leer. Bei der Flucht hat sie natürlich nicht daran gedacht, ein Ladegerät einzustecken. Sie hat keinen Kontakt mehr, nicht zu ihrer Mutter und auch nicht zu Christoph.
Wie geht es ihm? Hält die Polizei ihn noch fest oder ist er wieder auf freiem Fuß? Was können sie ihm anhaben? Was wird er aussagen?
Sie würde gerne schlafen, aber auf dieses Bett will sie sich nicht legen. Ihr ist noch schlecht, aber vielleicht wird es besser, wenn sie etwas trinkt. Irgendwo müsste noch Mineralwasser stehen. Aber wo?
Sie kann jetzt doch Licht machen, niemand wird darauf achten, die Menschen schlafen noch.
Aber sie mag die Lampe nicht. Wenn Kröger sie anmachte, war es zwar vorbei, aber es ging ihr elend. Sie hatte dann die Augen geschlossen, um nicht sehen zu müssen, wie sich dieser ekelhafte Kerl anzog, wie er sie zufrieden angrinste. Sie stellte sich schlafend, das Licht machte alles nur noch schlimmer.
Unter der Spüle ertastet sie statt der Wasserflaschen eine Kerze. In einer Schublade der Küchenzeile liegen Streichhölzer. Sie weiß, dass die da sind. Kröger brauchte sie für seine Zigarillos. Ein Glas Wein davor und einen Zigarillo danach … Dann sein dreckiges Lachen. Wieder muss sie würgen.
Sie zündet die Kerze an und fühlt sich wohler. Ein warmer Schein geht von ihr aus, ein sanftes Licht, das wie ein Weichzeichner auch diesen Ort der bösen Erinnerungen leichter erträglich macht.
Das Schiff bewegt sich plötzlich heftig. Sie hört einen dumpfen Ton. Sie kennt das Geräusch. Jemand ist aufgesprungen.
Sie sieht den Schatten der Frau in der Tür. Erkennt sie an der Stimme.
»Ich hätte es mir denken können: Du bist gerne hier, du Schlampe.«
Instinktiv weicht Isabel zurück, als die Frau auf sie zukommt. Doch hinter ihr ist nur die Wand. Das Schiff ist klein – und es gibt kein Entrinnen. Das Versteck ist plötzlich wieder eine Falle.
Die Frau lacht böse: »Denkst du wirklich, du bist die Erste, mit der er sich hier trifft? Glaubst du vielleicht, du bist was Besonderes?«
Sag nichts, ermahnt sich Isabel. Provoziere sie nicht. Sie wird sich beruhigen. Alles wird gut.
»Ich habe es schon lange gewusst«, faucht die Frau. »Aber mit keiner war es so schlimm wie mit dir. Meinst du, das habe ich nicht gemerkt? Wie er dich mit den Blicken ausgezogen hat, jedes Mal, auf dem Flur, im Hof …«
Wie soll sie darauf eine Antwort geben, es ekelt sie doch schon, wenn sie daran denkt.
»Deshalb habt ihr doch die Wohnung bekommen, weil er von Anfang an scharf auf dich war«, redet die Frau weiter und ist ihr jetzt so nah, dass Isabel nicht mehr weiß, wie sie ausweichen soll. Noch ein Schritt zurück und sie steht mit dem Rücken zur Wand.
»Ich habe das nicht gewollt.«
Die Frau lacht höhnisch auf.
»Ihr habt es alle gewollt! Ihr sucht doch alle einen deutschen Mann, damit ihr hierbleiben könnt.«
Isabel schüttelt den Kopf, doch das provoziert die Frau nur noch mehr. Sie packt Isabel an den Schultern, starrt sie hasserfüllt an. Und in diesem Moment wird Isabel klar: Vor ihr steht Krögers Mörderin.
»Sie waren es.« Sie kann nicht verhindern, dass ihr dieser Satz herausrutscht.
Die Frau nickt nur, ihr Grinsen wirkt aufgesetzt.
»Er wollte mich verlassen. Wegen dir, du Schlampe.«
Wieder schüttelt Isabel den Kopf.
»Aber …«
»Halt’s Maul! Er hat’s mir selbst gesagt an diesem Abend. Er hat doch sogar bei dir geklopft!«
»Aber ich habe nicht aufgemacht.«
Isabel will sich verteidigen, doch der Blick der Frau verrät ihr, dass sie keine Chance hat, sie noch mit Worten zu erreichen.
»Du hast ihn mir weggenommen. Aber ich lasse mir nicht alles gefallen.«
Isabel hat wieder die Bilder vor Augen. Der tote Hausmeister am Fuße der Treppe, das Blut, die Verletzungen. Sie sieht aber auch, dass im Kopf der Frau die Minuten vor dem Tod Krögers ablaufen, dass diese Frau ihre Geschichte jetzt zum ersten Mal erzählt, dass ausgerechnet sie, Isabel, sie anhören muss.
»Da hat er mir gesagt, dass er mich verlässt. Und sich dann im Keller ein Bier geholt. Aber ich lass mich nicht so abfertigen. Bin ihm gefolgt. Er hat mich angeschrien, dass ich ihm eklig bin …«
Ein hasserfüllter Blick.
»… dass er dich will.«
»Aber ich wollte ihn nicht.«
In diesem Moment schlägt die Frau zu. Isabel war auf den Hieb ins Gesicht nicht gefasst, sie zuckt zusammen. Es ist wie bei Kröger, schießt es ihr durch den Kopf. Sie hat bei ihm zugeschlagen – und jetzt bei mir. Instinktiv spürt sie, dass sie in Lebensgefahr ist.
Die Angst kommt, aber mit ihr auch die Wut.
Isabel greift neben sich. Eine leere Flasche. So leicht gibt sie nicht auf.