8. Kapitel

Die fragenden und besorgten Blicke der Eltern. Die skeptischen in der Schule. Sie alle sagen: Du weißt doch, wo sie ist, wo sie sich versteckt hält. Dir war doch klar, dass sie illegal hier ist. Auch die Polizei lässt nicht locker. Vielleicht schätzt er sich viel zu wichtig ein, aber er hat Angst, dass sie ihm folgen könnten, wenn er zu Eugenia und Isabel ins Waldhaus fährt.

 

Er hört Radio, einen lokalen Sender, aber sie bringen nicht mehr außer der kurzen Nachricht, dass ein Mann in Kreuzberg ermordet worden ist. Ebenso im Lokalfernsehen. Kein Hinweis auf zwei Frauen, die gesucht werden.

Er blättert Zeitungen durch, filzt die Lokalteile. Nur in einer wird der Mord an Kröger groß aufgemacht, es wird wild spekuliert, hier sind auch die beiden Frauen genannt, Isabel und Eugenia H. Ein Foto, auf dem sie verschwommen zu sehen sind. Niemand würde sie aufgrund dieses Fotos erkennen, wenn er ihnen auf der Straße begegnete, da ist Christoph sicher – und es erleichtert ihn.

 

Wer hat den Zeitungsleuten das Foto gegeben? Die Polizei vermutlich nicht, denn sie hätte in der Wohnung von Isabel und Eugenia bessere finden können. Isabel und Eugenia sitzen auf einer Bank, jede hat ein Getränk in der Hand, sie lächeln beide. Vielleicht ist das Foto bei einem Hausfest gemacht worden, dann hat einer von den Bewohnern es an die Zeitung gegeben. Aber wer macht so was? Kriegt man dafür Geld?

 

Er schickt Isabel eine SMS: Kann nicht kommen. Polizei. Alles klar bei euch?

Die Antwort sieht ähnlich aus. Sie schreibt, dass alles in Ordnung ist. Aber er weiß, dass sie lügt. Er schreibt ja auch nicht alles, was er weiß, hört, denkt. Er verbirgt seine Angst und Sorge, sie tut es auch.

 

Sein Vater verwickelt ihn in ein Gespräch über Recht und Gesetz. Über Ausländerpolitik. Über den großen Gesamtzusammenhang und die kleinen Schicksale. Und darüber, dass er sich strafbar macht, wenn er der Polizei etwas Wichtiges verschweigt.

Gerade noch wollte er ihn fragen, wie die Polizei vermutlich weiter vorgehen wird, doch nun weiß er, dass er besser den Mund hält, wenn er seinen Dad nicht noch misstrauischer machen möchte.

»Lass den Jungen«, mischt sich seine Mutter ein.

»Ich kann doch nicht zusehen, wie unser Sohn seine Zukunft riskiert wegen falsch verstandener Solidarität!«

»Es spricht für ihn, dass er seiner Freundin helfen will.« Das sagt die Heilpraktikerin.

»Sie ist in einen Mordfall verwickelt.« Das sagt der Anwalt.

»Wenn ich die Polizei richtig verstanden habe, ist dieser Hausmeister die Treppe runtergefallen.« Moms Stimme wird spitz.

»Nachdem ihn jemand geschlagen und gestoßen hat.«

»Die kleine Isabel soll den großen Mann verprügelt haben?« Mom lacht ungläubig.

»Wenn die Tatwaffe eine Art Holzprügel ist, wie vermutet, dann kann das jeder, auch du.«

»Du glaubst doch selbst nicht, dass Isabel die Mörderin ist!« Wieder Mom.

»Dann wird sie auch nicht verurteilt werden.« Das ist Dad.

»So naiv kannst du als Jurist gar nicht sein! Und selbst wenn sie nicht verurteilt wird, abgeschoben wird sie auf alle Fälle.«

Christoph hört sich die Diskussion seiner Eltern an, als ob sie ihn gar nichts anginge. Dabei geht es doch nur um ihn. Irgendwann rauscht seine Mutter ab und lässt die Tür laut ins Schloss fallen.

Er möchte nicht mit seinem Vater allein im Zimmer sitzen. Er steht auf.

»Möchtest du nicht wenigstens mir sagen, wo sie sind?«, fragt sein Dad und verstellt ihm den Weg. Christoph streift ihn nur kurz mit einem Blick, dann will er an ihm vorbei. Doch sein Vater ist hartnäckig: »Vielleicht kann ich ihnen helfen.«

»Du denkst doch, dass sie hier in Deutschland gar nichts verloren haben.«

»So schlicht sind meine Gedanken nun auch wieder nicht. Aber man muss sich schon an die Spielregeln und Gesetze des Landes halten, in dem man leben möchte.«

»Hättest du das 1940 auch gesagt?«

»Hör auf mit diesen polemischen Vergleichen!«

»Dann sag du mir, wie sie sich an die Gesetze eines Landes halten sollen, das ihnen noch nicht einmal einen Ausweis geben will!«

»Man kann eine Einbürgerung beantragen – unter bestimmten Umständen …«

»Verkauf mich nicht für dumm, Dad. Ich weiß genau, dass das nicht so einfach ist.«

»Wenn sie Verwandte hier hätten …«

Christoph denkt an Hajo Bruckner, einen kleinen Moment überlegt er, ob er seinem Vater davon erzählen soll. Dann aber lässt er es.

 

›Du fehlst mir‹, schreibt er in einer SMS. ›Ich vermisse dich und fühle mich so ohnmächtig, weil ich nicht mehr für euch tun kann.‹

›Schreib nicht so viel, wenn es gefährlich ist‹, mahnt sie ihn und nimmt ihre eigene Mahnung gar nicht ernst, indem sie eine Frage stellt, auf die er antworten muss: ›Was macht die Polizei?‹

›Sie befragen alle Hausbewohner und suchen euch als wichtige Zeugen.‹

›Gib’s zu: Sie verdächtigen uns.‹

Er kann nicht einmal per SMS lügen.

 

»Da bist du ja ganz schön in die Scheiße getappt«, brummt Ben, als Christoph zur Schule kommt.

Er antwortet nicht.

»Ich hab mir gleich gedacht, dass mit der was nicht stimmt«, legt Ben nach.

»Mit ihr stimmt alles, sie hat nur keinen Ausweis«, antwortet Christoph.

Aber er weiß, es ist sinnlos zu argumentieren. Denn nun sieht er das Misstrauen in Bens Augen.

»Du hast es also gewusst?«

Christoph schüttelt nicht einmal den Kopf. Er hat keine Lust und keine Kraft mehr zu lügen.

 

Erst jetzt merkt Christoph, wie wenig er in die Welt von Isabel und Eugenia eingetaucht ist, obwohl er dachte, er sei ein Eingeweihter, ein Vertrauter. Er weiß, dass sie Freunde haben, die auch illegal in Deutschland leben. Aber er kennt kaum Namen, er weiß nicht, wo er sie treffen, woran er sie erkennen kann. Sind sie wirklich Freunde oder nur Leidensgenossen, können sie ihn überhaupt unterstützen, wenn er sie um Hilfe bittet? Muss nicht jeder von ihnen selbst sehen, wie er über die Runden kommt, ohne von der Polizei erwischt zu werden?

Er besucht den Pfarrer, in dessen Kirche Eugenia öfter zum Beten war. Aber selbst der sieht keine Möglichkeit, wie man den Frauen nun helfen kann.

»Es ist fatal, wenn die beiden mit einem Mord in Verbindung gebracht werden.«

»Aber sie sind unschuldig!«

»Davon möchte sich die Polizei sicherlich gerne selbst überzeugen – und deshalb wird sie die beiden auch mit allen Mitteln suchen.«

»Wo sie jetzt sind, können sie nicht ewig bleiben. Können die beiden vielleicht zu Ihnen … oder wissen Sie eine Möglichkeit?«

Der Pfarrer schüttelt bedauernd den Kopf.

»Alle wissen, dass ich Menschen ohne Papiere helfe. Wer untertauchen muss, kommt nie bei mir vorbei, vor lauter Angst, die Polizei könnte hier nach ihm suchen.«

 

Als Christoph das Pfarrhaus verlässt und auf seinen Roller steigt, hört er, wie ein Autofahrer hinter ihm seinen Wagen startet. Er sieht sich um. Doch der Mann fährt aus der Parklücke und verschwindet. Er fühlt sich ständig verfolgt. Er traut niemandem mehr. Besser als je zuvor versteht er nun Eugenia, die bei jedem Menschen in Uniform zusammenzuckte, die in jedem Hausflur verschwand, wenn ein Polizeifahrzeug auch nur in der Nähe war, die jeden Ort mied, wo viele Ausländer waren und wo deshalb häufig kontrolliert wurde, die in jedem Bus, in jeder U-Bahn nahe an der Tür stand. Ruhig wirken, wachsam bleiben. Und das Tag und Nacht, viele Jahre lang. Er weiß nicht, ob er das geschafft hätte.

 

Dieser Mann ist seine letzte Hoffnung. Er ist unbescholten, wird von niemandem mit Eugenia und Isabel in Verbindung gebracht. Auch wenn er Isabels Vater ist. Das weiß keiner.

Er hat sich übel benommen, damals als Eugenia von ihm schwanger war. Er hat lieber die Tochter eines angesehenen Internisten geheiratet und ist mit in die Praxis eingestiegen, statt zu seiner Verantwortung zu stehen.

Aber jetzt hat er die Chance, etwas wiedergutzumachen. Christoph fand den Mann doch bei seinem ersten Besuch in der Praxis gar nicht unsympathisch. Vielleicht bereut er das, was er damals getan hat. Vielleicht ist er froh um die Gelegenheit, etwas für Isabel und Eugenia zu tun. Zum Beispiel helfen, eine neue Unterkunft für die beiden zu finden, denn ewig können sie nicht im Waldhaus bleiben. Manche Illegale haben falsche Papiere – vielleicht kann man welche für Isabel und Eugenia anfertigen lassen, wenn Bruckner ihm das Geld dazu gibt?

 

Christoph richtet es so ein, dass er der letzte Patient in Bruckners Praxis ist. Der Arzt guckt kurz in die Patientendatei, dann mustert er ihn aufmerksam.

»Wieder Bauchschmerzen?«

Christoph schüttelt den Kopf.

»Ich möchte Sie bitten, Eugenia und Isabel zu helfen.«

Der Arzt stutzt. Er hat’s kapiert, denkt Christoph. Bruckner nimmt seinen Füller, spielt damit, will seine Unruhe kaschieren.

»Eugenia lebt illegal in Deutschland, seit fast fünfzehn Jahren – mit Isabel, die Ihre Tochter ist.«

Bruckner sieht ihn fassungslos an: »Ich habe eine Tochter?«

Christoph nickt: »Die beiden sind in Schwierigkeiten …«

Der Arzt sagt nichts, starrt nur vor sich hin. Christoph setzt nach.

»Eugenia hat damals Ihr Kind nicht abgetrieben, Herr Lehnert.«

Er muss seinen ganzen Mut zusammennehmen, um den Arzt mit seinem Geburtsnamen anzusprechen, den dieser mit der Heirat abgelegt hat. Um nicht gefunden zu werden?

Dass Bruckner nicht antwortet, verunsichert ihn. Soll er ihm noch drohen, zum Beispiel, dass das eine Super-Geschichte für die Boulevardzeitungen wäre? Lieber nicht. Er will doch, dass Bruckner ihm hilft.

Auch von den Mordermittlungen sagt er noch nichts. Offenbar hat der Arzt nicht die Zeitung gelesen, in der das Foto von Isabel und Eugenia zu sehen war, in welcher ihre Vornamen abgedruckt waren.

»Wer hat dir das alles erzählt? Und woher willst du wissen, dass das alles so stimmt?«

Bruckner-Lehnert versucht, Zeit zu gewinnen.

»Ist es denn gelogen?«, fragt Christoph zurück. »Die Geschichte von der Freundin aus Kolumbien, die nach Hause flog und feststellte, dass sie schwanger war?«

Er war nie ein Held, auch kein Provokateur wie Ben, er hat zu Hause gelernt, dass man andere Menschen respektvoll behandelt. Es macht ihm Probleme, den Arzt so anzugehen. Er tut es für Isabel. Der Mann ist seine letzte Hoffnung. Wenn das nicht klappt, dann weiß er nicht, wie er Eugenia und Isabel noch helfen kann.

 

Das Schweigen dauert ewig. Zumindest kommt es Christoph so vor. Dann steht Bruckner auf und zieht seinen Kittel aus. Er nimmt das Telefon und wählt eine Nummer.

»Wen rufen Sie an?« Christoph wird unruhig. Doch Bruckner ignoriert ihn.

»Richten Sie meiner Frau bitte aus, dass es etwas später wird. Ein Notfall.«

Dann wendet er sich an Christoph.

»Bring mich zu ihnen.«

 

Der Blick Eugenias, als sie die Hütte betreten.

Sie steht auf, sie starrt diesen Mann an.

Sie sagt kein Wort.

Auch Bruckner sagt nichts.

Doch sein Blick verrät, wie sehr ihn diese Begegnung nach so vielen Jahren bewegt. Mehr als ihm lieb ist.

 

»Ich hatte keine Ahnung, dass ich eine Tochter habe. Und dass du in Deutschland bist«, sagt Bruckner.

»Du hast gewusst, dass ich dich immer suchen werde«, antwortet Eugenia.

»Ich war einige Jahre als Arzt im Ausland, in Spanien«, sagt Bruckner und lächelt schmal. »Du konntest mich gar nicht finden. Und als ich dann geheiratet habe …«

Eugenia weicht seinem Blick aus. Er sagt einige Worte auf Spanisch, die Christoph nicht versteht. Sie klingen nach Vertrautheit und Bedauern, nach Wehmut und ein bisschen sogar nach Reue, findet er.

Eugenia ist den Tränen nahe.

»Wo ist meine Tochter?«

»Sie hat sich oben hingelegt.«

 

Eugenia und Bruckner setzen sich an den Tisch, sie können die Augen nicht voneinander wenden. Christoph lässt sie allein. Er will hinauf zu Isabel, ihre Nähe spüren, ihr zuflüstern, wie sehr er sie liebt, sie schonend darauf vorbereiten, dass der unbekannte, aber verhasste Vater da ist.

Isabel schläft tatsächlich, eingemummelt in einen alten Schlafsack, der wohl irgendwo hier herumlag. Sie sieht blass und erschöpft aus. Christoph legt sich leise zu ihr, betrachtet sie, streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er spürt ihren Atem, greift nach ihrer Hand. Er will sie nicht wecken, aber ihr nahe sein. Er könnte ewig so liegen.