7. Kapitel

Da muss doch was zu machen sein!

Das sagte ich, nachdem ich erfahren hatte, dass sie keine Papiere hatte.

Typisch deutsch, sagte Isabel. Machen, tun, schaffen.

Manchmal sagte sie noch: Du hast doch keine Ahnung.

Dann war ich richtig sauer.

Wie sollte ich Ahnung haben, wenn sie es mir so lange nicht erzählt hatte?

Aber hatte ich wirklich wissen wollen, was meine Freundin vor mir verbarg? Hätte ich nicht schon viel früher erfahren können, was sie bedrückte und bedrohte?

Vermutlich schon. Aber ich wollte vor allem schöne Tage mit ihr haben. Und schöne Nächte. Ich wollte sie, nicht ihre Probleme.

Egoistisch, okay. Aber auch ehrlich.

 

Wie schlimm es wirklich war, verstand ich erst, als ich mehr Geschichten über Menschen ohne Papiere hörte. Die Angst war ihr ständiger Begleiter, die Angst, erwischt und abgeschoben zu werden.

Isabel sprach immer noch nicht mit mir über dieses Problem, und sie hasste es, wenn ich darauf zu sprechen kam.

»Es ist mein Problem, mach es nicht zu deinem«, sagte sie, wenn sie bei mir war. Oder: »Ich will hier vergessen, was draußen ist.«

Doch ich wollte meine Freundin verstehen. Ihr helfen. Damit alles gut würde. Keine Probleme mehr, ein gemeinsames sorgloses Leben.

 

Ich stürzte mich in Aktivitäten. Christoph, der Retter der Ausweislosen.

Mein erster Vorschlag war reines Wunschdenken: Ihr müsst deutsche Staatsbürger werden. Damit ihr legal hier sein dürft.

Eugenia lächelte und nannte mich einen guten Jungen.

Isabel aber warnte mich: Ich könnte sie in Gefahr bringen, wenn ich das Thema aufmache gegenüber meinen Eltern, meinen Freunden, meinen Bekannten oder gar den Behörden. Allein die Frage: Wie wird man eigentlich Deutscher? Schon könnte jemand auf den Gedanken kommen, dass mit meiner Freundin und deren Mutter etwas nicht stimmt.

So weit hatte ich nicht gedacht.

Trotzdem versuchte ich es. Aber mein Vater, der Anwalt, wurde sofort misstrauisch: »Wie kommst du darauf?«

»Einfach so. Wir reden in der Schule drüber.«

Er schwieg, musterte mich argwöhnisch. Meine Mutter wechselte das Thema.

Wie ich es sonst hasste, wenn sie das tat. Streit unter den Teppich, neues Gespräch drauf, alles in Ordnung.

Jetzt war ich froh darum.

»Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte mich Isabel, als sie das nächste Mal bei mir war.

»Nein, wieso?«

»Er sieht mich anders an.«

Und dann hatten wir Krach. Denn ihr war klar, dass ich meine Klappe nicht gehalten hatte. Die gute Absicht war ihr egal.

»Ich hab’s gewusst. Du bist eine Gefahr für mich, für uns.«

 

Da Isabel so wenig über ihre Lage redete, besorgte ich mir Bücher, las Fallgeschichten im Internet. Von Menschen, die in einer Parallelwelt leben. Mitten in Deutschland.

Ich hatte gehofft, dadurch auf Schlupflöcher zu stoßen.

Ich wünschte mir Storys mit Happy End.

Aber ich fand sie nicht.

Trotzdem war es gut, diese Beispiele zu lesen.

Denn Isabel erzählte nichts von ihrer Angst.

Doch hier konnte ich sie in fast jeder Zeile erkennen.

Die Angst vor der Ausweiskontrolle.

Vor dem prüfenden Blick des Nachbarn.

Die Wut auf Vermieter, die überhöhte Mieten verlangten.

Auf Chefs, die nur zwei Euro die Stunde für harte Arbeit zahlten.

»Gehen Sie doch zur Polizei, wenn Ihnen das nicht passt.«

Sie konnten nicht gehen. Es wäre das Ende gewesen.

 

Immer auf dem Sprung.

Nie wirklich zu Hause.

Nie ganz ruhig schlafen.

Die Polizei kommt auch nachts.

Freunde und Bekannte waren auf einmal nicht mehr da.

Mussten zurück. Nach Burkina Faso. Nach Chile. Nach Weißrussland.

Vielleicht wurden sie nicht gleich umgebracht. Wurden »nur« bestraft. Kamen »nur« ins Gefängnis. Führten »nur« ein Leben unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Sie wollten es alle gerne besser haben.

Deshalb waren sie nach Deutschland gekommen.

Ihren Familien regelmäßig Geld schicken.

Jetzt lebten sie in Deutschland. Wieder unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Sie wollten einen Teil vom besseren Leben. Das war ihr Vergehen.

Sie bekamen ihn nicht. Vielmehr baute unser Wohlstand auf ihrer Notlage auf. Für wenig Geld schufteten sie auf Baustellen, in der Gastronomie, in Privathaushalten.

Sie waren da, aber irgendwie unsichtbar. Denn keiner redete darüber, dass es sie gab.

Es war eine Straftat, illegal in Deutschland zu sein. Bei den meisten Menschen ohne Papiere aber war es ihre einzige Straftat. Ansonsten waren sie gesetzestreuer als jeder ›Legale‹. Denn sie durften ja nicht auffallen. Kein Schwarzfahren, kein Ladendiebstahl. Brav sein, ducken, arbeiten. Es hatte etwas von Sklavenhaltung. Und alle schauten weg.

 

Eine halbe Million Menschen ohne Papiere, hieß es in einem Buch. Mindestens drei Mal so viele Personen, das las ich im Internet.

So viele Begriffe, die ich nicht verstand: Duldung, Rücknahmeersuchen, Übernahmezusicherung, Grenzübertrittsbescheinigung, Beantragung der Aufenthaltsgenehmigung, Härtefallantrag. Wie mochte es sein, wenn man neu in dieses Land kam und diese Worte über das eigene Schicksal entscheiden konnten, vielleicht sogar über Leben und Tod?

 

Wie gnadenlos dieses Leben war, das wurde mir klar, als Eugenia mir erzählte, warum sie ihren linken Arm nicht mehr so belasten konnte. Sie hatte ihn sich gebrochen bei einem Sturz, vor Jahren. Beim Einkaufen hatte sie auf dem Bürgersteig einen hervorstehenden Stein übersehen und war gestürzt. Passanten halfen ihr auf und riefen einen Krankenwagen. Sie hatten es gut gemeint. Eugenia aber nahm ihre ganze Kraft zusammen und machte sich aus dem Staub. Ob sie verrückt sei, rief ihr jemand nach. Undankbar, das Wort hörte sie auch noch. Dann war sie weg und hatte Einkäufe im Wert von fast 50 Euro zurückgelassen.

Eugenia hatte Angst vor den Rettern. Angst, dass sie sich eine Behandlung nicht leisten oder dass ein Mitarbeiter des Krankenhauses sie den Behörden melden könnte. Damals hatte sie sich an den Pfarrer der Kirche gewandt, in die sie sonntags zum Gottesdienst ging. Er kannte einen Arzt, der half. Ohne nach Papieren oder einer Krankenversicherung zu fragen.

 

Es war eine harte Zeit gewesen, erzählte Eugenia weiter. Sie wollte gerne arbeiten mit ihrem Gips, aber manche Menschen, bei denen sie putzte, waren dagegen. Entweder vermuteten sie, dass sie weniger oder schlechter arbeitete. Oder sie befürchteten, vor sich selbst wie Menschenschinder dazustehen. Das Geld fehlte natürlich. Eugenia nahm den Gips ab und legte eine harte Bandage an, die sie unter einem weiten Ärmel verbarg. Sie arbeitete mit Schmerzen. Der Arm heilte nie ganz aus.

 

»Wie habt ihr all das überstanden?«, fragte ich Eugenia und Isabel. »Die erste Zeit in diesem Land, die Kinderkrankheiten, Fieber, Durchfall, Zahnschmerzen, Bauchweh …«

»Manchmal hilft Gott, manchmal der Mensch«, sagte Eugenia. Isabel aber nahm meine Hand und zog mich aus der Wohnung: »Lass uns was unternehmen.«

Sie hasste das Thema.

 

Wir hatten immer öfter Stress miteinander.

Ich spürte jetzt, unter welchem Druck sie stand.

Ich sprach sie darauf an.

Doch sie sagte, sie wolle die gemeinsame Zeit nicht mit ihren Problemen kaputt machen.

»Ich bin dein Freund. Ich will alles mit dir teilen.«

»Bleib in deinem Leben und tu so, als ob du nichts merkst.«

»Das kann ich nicht.«

»Du konntest es doch die erste Zeit auch.«

Ich blickte überhaupt nicht mehr durch.

Der Vorwurf, ich hätte mich nicht für ihr Leben interessiert.

Jetzt der Vorwurf, ich würde mich zu viel einmischen.

Was denn nun?

Ich konnte ihre Verzweiflung hinter diesen Widersprüchen nicht erkennen.

 

Leben, ohne aufzufallen. Da sein, ohne gesehen zu werden. Arbeiten und dabei ausgebeutet werden. Jede Krankheit eine Katastrophe, jeder Polizist eine Gefahr, jede Kontrolle eine Falle. Andere Jugendliche machten sich einen Spaß daraus, zu provozieren und aufzufallen, Isabel blieb im Hintergrund. Ein Mensch ohne Papiere existiert nicht.

 

Nachdem meine Versuche, Isabels Lage zu verbessern, so kläglich gescheitert waren, wagte ich einen letzten und ziemlich mutigen Vorstoß: »Wir suchen deinen Vater.«

»Nein.«

»Er kann euch helfen.«

»Vergiss es.«

»Aber …«

»Ich – will – das – nicht.«

Sie sprach laut und klar, bemühte sich, ihre Anspannung vor mir zu verbergen.

»Der muss doch zu finden sein!«

Sie verdrehte genervt die Augen.

»Wir haben hier ein Meldesystem …«

»Das brauchst du mir nicht erzählen«, fauchte Isabel mich an.

Natürlich. Das wusste sie nur zu gut.

 

Ich redete mit Eugenia. Isabels Vater könnte sie doch wenigstens finanziell unterstützen. Er hatte Medizin studiert. Wenn er als Arzt arbeitete, war er vermutlich nicht ganz mittellos.

»Du willst uns helfen, ich weiß. Aber pass auf, dass du Isabel dabei nicht verlierst.«

Obwohl sie meinen Recherchen skeptisch gegenüberstand, sagte sie mir, was sie wusste.

Der Mann hieß Johannes Lehnert. Angeblich war er nach dem Studium nach Berlin gegangen.

Ich recherchierte im Internet. Kein Dr. Johannes Lehnert in Berlin.

Ich sah mir das Umland an. Nichts.

Andere große deutsche Städte. Erste Treffer.

Ich recherchierte weiter. Manche hatten Websites.

Zu alt, zu jung, einer schrieb, er habe in Tübingen studiert. Nicht Bochum.

Ich verbrachte Stunden und Tage damit. Wenn Isabel arbeitete.

Nach ihrer heftigen Reaktion hatte ich ihr verschwiegen, dass ich nach ihrem Vater suchte.

 

Ich wandte mich an einen Privatdetektiv.

Log ihn natürlich an. Sprach von meinem leiblichen Vater, den ich suchte.

Bat ihn um Hilfe, sagte ihm, was ich von Eugenia über diesen Mann wusste.

Er glaubte mir kein Wort, aber mit einer Vorauszahlung konnte ich ihn sogar davon überzeugen, dass ich schon volljährig war.

Es war das Geld, das ich für unseren ersten gemeinsamen Urlaub gespart hatte.

Aber Isabel und ich würden nie verreisen, solange sie eine Illegale war.

Viel zu riskant.

 

Wie der Typ es geschafft hatte, verriet er mir natürlich nicht.

»Berufsgeheimnis«, meinte er nur und grinste.

Dann erfuhr ich Name und Adresse.

Dr. Hajo Bruckner. Berlin. Internist. Praxis am Ludwigkirchplatz in Wilmersdorf.

»Er hat den Namen seiner Frau angenommen«, erklärte mir der Privatdetektiv.

Und seinen Vornamen Johannes ein bisschen umfrisiert.

Das konnte ich mir selber denken.

 

Ich ging mit undefinierbaren Bauchschmerzen zu ihm.

Als ich drankam, hatte ich Herzrasen.

Isabels Vater, das Schwein, das sie und Eugenia einfach aus seinem Leben geworfen hatte, indem er mit einer anderen Frau und einem neuen Namen eine Existenz aufbaute.

Hajo Bruckner sah gut aus. Anfang bis Mitte 40, sportlich, braun gebrannt, ein nettes Lachen, coole Sprüche.

Er tastete meinen Bauch ab, fragte nach der Schule, was ich mal werden wollte. Erzählte sogar von sich selbst. Wie er auf die Idee gekommen war, Medizin zu studieren.

»Mein Vater war Verwaltungsbeamter, das kam mir so sinnlos vor.«

»Sie wollten also anderen Menschen helfen …«

Er überlegte kurz, dann nickte er: »Ja, ich war ein Idealist.«

Du bist ein Drecksack, dachte ich. Trotzdem war er mir irgendwie sympathisch. Obwohl ich wusste, was er getan hatte.

 

Natürlich fand er nichts. Mir tat auch nichts mehr weh.

Gestern hatte es wehgetan, erzählte ich. Sehr sogar. Hier und da.

Ich deutete in die Ecke, wo ich den Blinddarm vermutete.

»Soll ich dich krankschreiben?«

Er duzte mich von Anfang an. Ich glaube, es hätte ihn nicht einmal gestört, wenn ich zu ihm auch ›Du‹ gesagt hätte. Er sah mich an wie einen guten Kumpel. Auch das Zwinkern und die Idee, mir ein paar freie Tage durch Krankschreibung zu verschaffen … Klar, er dachte, ich wollte blaumachen.

Ich schüttelte den Kopf.

»Wenn du morgen wieder Schmerzen hast, komm gleich vorbei.«

Er drückte mir die Hand und lachte wieder.

Isabels Lachen.

 

»Ich habe ihn gefunden.«

Nur diese vier Worte, aber Isabel verstand sofort.

Zum zweiten Mal erlebte ich, wie sie vollkommen die Fassung verlor.

Sie schrie, sie tobte, sie räumte vor Wut mit einem Wisch ein ganzes Regalbrett bei mir ab. Bücher fielen zu Boden, eine kleine Tonfigur zerbrach.

Sie war eine andere. Das Gesicht verzerrt, die Augen sprühten Funken, sie brüllte mir ihre Vorwürfe ins Gesicht.

Wie ich dazu käme, mich in ihr Leben einzumischen.

Dass sie mich nicht darum gebeten habe, das Schwein zu suchen.

Dass sie ihn nicht kennenlernen wolle.

Selbst wenn er ihr helfen könnte.

Denn er wollte nicht, dass sie zur Welt kam.

Er hatte ihre Mutter im Stich gelassen und damit auch sie.

Er sollte in ihrem Leben keine Rolle spielen. Niemals.

 

Leider endete dieser Streit nicht so romantisch wie unser erster. Kein Kuss, keine Versöhnung. Sie nahm ihre Tasche, lief hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

 

Ein echter Kerl hätte sich anders verhalten. Sich mit einer Flasche Bier vor den Fernseher gehockt. Oder wäre mit Freunden durch die Kneipen gezogen. Vergiss sie. Oder: Die kommt wieder. Oder: Weiber ticken anders.

Ich war nie ein echter Kerl. Ich war der Verzeihmir-ich-habe-es-gut-gemeint-Typ. Ich ging zu ihr, um mich zu entschuldigen. Sie öffnete zunächst nicht. Ich wollte nicht laut klopfen und rufen, es war schließlich schon Nacht.

Als sich Schritte vom Treppenhaus her näherten, versteckte ich mich im Kelleraufgang. Ich sah Kröger, wie er an Isabels Tür klopfte. Sie machte auch ihm nicht auf.

»Ich weiß, dass du da bist.«

Keine Antwort. Er klopfte heftiger. Horchte. Fluchte. Donnerte mit der Faust gegen die Tür.

Irgendwann gab er auf. Brummte nur noch »Blöde Schlampe«, dann torkelte er weg in Richtung Treppe.

Das war der Augenblick, in dem ich ihn gerne umgebracht hätte. Aber ich habe es nicht getan.

Ich war wütend, enttäuscht und müde zugleich. Warum warten? Isabel wollte nicht mit mir reden. Als ich durch den Hof hinaus auf die Straße trat, kam mir Eugenia entgegen. Sie wirkte erschöpft von ihrer Arbeit, aber sie ließ sich von mir noch zu einem Kaffee an der Ecke überreden.

»Isabel schläft bestimmt schon«, versuchte sie mich zu trösten, als ich ihr erzählte, dass sie nicht aufgemacht hatte.

»So wie Kröger an die Tür gedonnert hat … das konnte sie nicht überhören!«, sagte ich. Eugenia wirkte beunruhigt, fragte noch einmal nach, ob Kröger denn gesagt hatte, was er wollte. Ich verschwieg die Beschimpfung, die er von sich gegeben hatte, bevor er verschwunden war.

»Hauptsache, sie hat nicht aufgemacht«, sagte Eugenia leise.

»Wirklich ein ekliger Typ«, bestätigte ich, dann war das Thema für mich erledigt. Denn eigentlich wollte ich doch von meinem Coup erzählen: »Ich weiß, wo Lehnert ist.«

Sie erstarrte. Ihr Schweigen verunsicherte mich. Ich war so stolz auf mich gewesen. Immerhin hatte ich den Mann gefunden, wegen dem sie vor vielen Jahren nach Deutschland gekommen war. »Willst du zu ihm?«, fragte ich Eugenia. »Ich habe die Adresse.«

»Ich muss erst verdauen«, sagte sie. Dann ging sie.

 

Frustriert fuhr ich nach Hause. Je mehr ich mich für Isabels Leben interessierte, je mehr ich mich einließ darauf, desto mehr entfernte sie sich von mir.

Ich hatte Angst, sie zu verlieren.