14. Kapitel

Was war es gewesen, was uns alle vom ersten Moment an in Isabels Bann zog? Als sie da vor der Klasse stand, nach den Winterferien, als sie so tat, als würde sie unsere Blicke nicht bemerken? Jeans, Rollkragenpulli, Stiefel, alles war nicht vom Feinsten, sie war nicht geschminkt, ihre langen, lockigen Haare hatte sie kunstlos zusammengebunden, als wäre es ihr egal. Vielleicht waren es diese Augen, die scheinbar gleichgültig über uns hinwegsahen. Und die doch verrieten, dass sie etwas vom Leben wusste, was wir nicht kannten.

Ich brauche euch nicht, das sagte jeder ihrer Blicke. Ich komme gut allein zurecht, das sagte jede ihrer Bewegungen. Ihr habt doch alle keine Ahnung.

 

Durch sie wurden viele Dinge aus meinem Leben so banal. Das fiel mir auf, als wir uns über die Nachhilfe näherkamen. Das Tennisspielen, der beendete Klavierunterricht, der letzte gemeinsame Urlaub mit meinen Eltern in den USA, darüber konnte ich mit jedem Mädchen aus meiner Klasse reden. Bei ihr aber wirkte das in dem Moment unwichtig, als ich es ansprach. Auch genervte Kommentare über Eltern kamen nicht gut. Sie sah mich direkt an, als wollte sie sagen: Deine Probleme möchte ich haben.

 

Sie war nicht meine erste Freundin. Aber sie war die Erste, um deren Zuneigung ich wirklich kämpfte. Und bei der ich unsicher war in allem. Den Arm um sie zu legen, beiläufig, selbstverständlich, das war überhaupt nicht drin. Eine scheinbar unbedachte, in Wirklichkeit aber gezielte Berührung der Hand – wie denn? Ihr eine Strähne aus dem Gesicht streichen und sie dabei anlächeln – ich wusste nicht mehr, wie das ging.

Dann doch der Moment, in dem sich unsere Hände berührten, weil wir gleichzeitig nach dem Bleistift greifen wollten. Nicht sie zuckte zurück, sondern ich. Als wäre schon dieser winzige Kontakt zu viel. Erst war es nur ein Lächeln, dann aber, als ich rot wurde, begann sie zu lachen und sprach mich auf Spanisch an.

»Ich verstehe kein Wort«, murmelte ich.

Sie nahm meine Hand, drückte sie fest und sagte: »Ich wusste nicht, dass du schüchtern bist.«

 

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass Liebe etwas sehr Ernstes ist. Wir hatten nicht einfach Spaß, wir machten auch nicht rum. Nichts war nur ein bisschen, alles war ganz. Eine Sache auf Leben und Tod, so dachte ich, als sie in meinen Armen weinte, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. Bei einer anderen hätte ich gedacht, dass ich sie trösten muss. Aber da ich selbst den Tränen nahe war, wusste ich, wir fühlten dasselbe. Es war zu intensiv, um es einfach mit einem lieben Blick oder einem Lächeln abzutun.

 

Auch wenn ich kaum Zugang zu Isabels Welt hatte, so lernte ich doch ein anderes Leben kennen. Denn um sie nicht zu beschämen, sparten wir uns all die schönen Dinge, die Geld kosten. Wir gingen nicht essen, sondern packten ein paar Sachen ein und fuhren zum See. Wasser, Sonne, Gras … Ich beobachtete einen Käfer, der über meinen Fuß kroch, Isabel hinderte mich daran, ein Gänseblümchen zu pflücken, um es ihr zu schenken.

Niemandem hätte ich das erzählen wollen. Christoph, der mit Insekten spielt. Christoph, der Blumen verschont, weil sie auch leben wollen.

Nie habe ich so viel von Berlin gesehen wie in diesem Sommer. Nie habe ich mich selbst so sehr gespürt wie in diesen Wochen.

 

Doch es reichte mir nicht. Ich wollte nicht den Moment, ich wollte die Ewigkeit. Suchte nach Lösungen, die mir damals noch so einfach erschienen.

»Du ziehst zu mir.«

»Ich lasse meine Mutter nicht allein.«

»Dann zieht ihr beide zu uns.«

»Das ist doch Unsinn, Christoph. Es geht nicht.«

»Und warum nicht?«

»Dein Vater ist Anwalt und wir sind illegal.«

»Ich sage ihm alles und er sucht einen Weg, euch zu helfen.«

»Es gibt diesen Weg nicht.«

Pause. Ich wollte gerade wieder ansetzen mit meiner Super-Idee, doch sie kam mir zuvor.

»Sag es bitte nicht.«

»Aber wenn wir heiraten …«

»Darüber macht man keine Witze.«

Sie stand auf und ging weg.

 

Die Suche nach dem Vater erschien mir als die beste Lösung. Oder die einzige Lösung. Denn so ganz klar war mir nicht, wie es weitergehen würde, wenn ich ihn gefunden hätte. Ich dachte einfach, alles würde gut werden.

 

Als ich ihn gefunden hatte, fühlte ich mich wie der King. Dass Isabel so wütend war, ich konnte es einfach nicht begreifen. Aber ich merkte, dass sie mir ab sofort misstraute.

Es gab immer öfter Streit. Ich übersah viele Zeichen, dass etwas nicht stimmte, gerade in den letzten Wochen.

Manchmal zuckte sie zusammen, wenn ich sie berührte.

Ständig wollte sie duschen.

Sie vermied es, über Nacht zu bleiben. Behauptete, ihre Mutter brauche sie.

Sie wurde verschlossener statt offener.

Sie sagte ab. Nein, es liege nicht an der Arbeit als Küchenhilfe, meinte sie auf meine Nachfrage. Sie brauche einfach mehr Zeit für sich.

Ich hätte aufmerksamer sein sollen. Ihr Blick war oft so leer, so stumpf. Sie hatte resigniert. Aber ich merkte es nicht. Ich fragte nicht, warum. Ich wollte es nicht wissen. Der Sommer war schön gewesen, es sollte einfach so weitergehen.

 

Dieser Streit war besonders heftig.

Wieder ging es um ihren Vater.

»Er hat eine Verantwortung euch gegenüber.«

»Er wollte mich nicht – und ich will ihn nicht.«

»Vielleicht hat er sich geändert. Hab doch ein bisschen Vertrauen.«

Isabel lachte nur höhnisch und bitter.

»Aber so geht es doch nicht weiter!«, brüllte ich.

»Dann lass es!«, schrie sie zurück.

 

Sie wollte weg, aber ich hielt sie fest. Nur um sie zur Rede zu stellen. Aber sie reagierte völlig panisch. Schrie, weinte, schlug um sich, als ginge es um ihr Leben.

»Ich tue dir doch nichts!«

Sie antwortete nicht, schnappte nach Luft. Hyperventilierte. Ich hielt ihr den Mund zu, damit sie nicht so schnell, so heftig atmete. Das machte alles nur noch schlimmer.

Sie war immer vorsichtig gewesen, manchmal sogar ängstlich. Aber diese Panik, dieses Entsetzen, das war mir neu.

Was war passiert, dass sie sich von mir auf einmal bedroht fühlte? Dass sie Berührungen vermied?

In diesem Moment, als sie in meinen Armen scheinbar um ihr Leben kämpfte, kam mir für den Bruchteil einer Sekunde der Gedanke, dass etwas Schlimmes passiert war, etwas sehr Schlimmes. Aber das hätte sie mir erzählt, oder?

 

Ich erschrak über mich selbst, weil ich sie festhielt, fast gewaltsam. Ich ließ sie los, sie lief weg.

In dieser Nacht wurde Kröger ermordet.

Sie rief mich an.

Sie vertraute mir noch.

Sie hatte nur mich.

Und ich wusste, ich würde alles für sie tun.