Nachwort

Von Birgit Poppert

»Öffentliche Stellen haben unverzüglich die zuständige Ausländerbehörde zu unterrichten, wenn sie im Zusammenhang mit der Erfüllung ihrer Aufgaben Kenntnis erlangen von dem Aufenthalt eines Ausländers, der keinen erforderlichen Aufenthaltstitel besitzt und dessen Abschiebung nicht ausgesetzt ist […]«

§ 87 Abs. 2 AufenthaltsG

 

In diesem Gesetzestext steckt bereits die Definition von Illegalen oder Illegalisierten: Es sind Ausländer, die sich ohne Genehmigung in Deutschland aufhalten. Aber warum kommen diese Menschen hierher?

Es gibt viele Ursachen wie Krieg, Hunger, Mangel an Lebensperspektiven in den Herkunftsländern, landwirtschaftliche Probleme durch die Erderwärmung, Umweltkatastrophen, soziale Verelendung, Menschenrechtsverletzungen und Gewaltkonflikte. Aber auch die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften in den Zielländern gehört dazu.

Wegen der fehlenden Möglichkeiten der legalen Einwanderung nutzen viele die Hilfe von Schleusern. Schätzungen gehen davon aus, dass derzeit in Europa durch Menschenschmuggel ein höherer Jahresumsatz als im internationalen Drogenhandel erzielt wird.

Für Europa hat das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut im Jahr 2009 zwischen 2,8 und sechs Millionen Menschen ohne regulären Aufenthalt geschätzt.

Für Deutschland liegen die Angaben zwischen 500 000 und einer Million, allein für Berlin bei etwa 100 000.

 

Und wie wird man illegal?

Die meisten Migrant/innen haben ihren rechtlichen Status der Illegalität in der Regel weder angestrebt noch selbst gewählt, nur etwa 15 bis maximal 30 Prozent kommen illegal über die Grenze. Sie kommen mit den verschiedensten Visa und werden bewusst oder häufig durch unsere teils recht rigide Gesetzgebung illegal. Diejenigen, die ihr Touristenvisum bewusst auslaufen lassen, um hier zu arbeiten, sind in der Regel keine Kriminellen, sondern tun dies oft, weil sie keinen anderen Ausweg sehen. Wie Isabel und ihre Mutter oder wie z. B. Frau S. aus der Ukraine, Literaturwissenschaftlerin, 55 Jahre alt, die versuchte, das nötige Geld für eine Operation ihres Enkelsohns zu erarbeiten, damit dieser laufen kann. Sie brauchte fünf Jahre, weil sie immer und immer wieder nicht für ihre oft aufopferungsvolle Arbeit bezahlt wurde.

Auch die unbeabsichtigte Illegalität ist möglich:

Z. kommt aus Lateinamerika, hat dort ein Studium absolviert, macht in Deutschland das Studienkolleg, schließt hier das Studium ab, bekommt eine Promotionsstelle samt Visum. Drei Jahre lebt sie mit ihrem Freund zusammen, dann wird sie schwanger. Der Freund verzieht sofort mit unbekannter Adresse, die Promotionsstelle wird ihr gekündigt, sie kann die Wohnung nicht halten, das Studentenvisum gilt nicht mehr, da der Aufenthaltsgrund (Promotion) entfallen ist, und nun steht sie verzweifelt bei uns vor der Tür, ohne Geld, ohne Wohnung, illegal und schwanger.

Auch Kinder trifft es:

I. aus Ex-Jugoslawien ist neun Jahre alt, ihre Mutter lebt in einer Nervenheilanstalt, ihr Vater zieht mit seiner Freundin zusammen und schickt I. zu Verwandten, um die neue Beziehung nicht zu belasten. Die Verwandten schicken das Mädchen weiter. Sie findet keinen Platz für sich und flieht schließlich zu einer Tante in Deutschland, die sich sehr lieb um sie kümmert. Doch dann wird sie wegen illegalen Aufenthaltes von einem Hausbewohner der Polizei gemeldet, kann aber entkommen. Wir erfahren von ihrem Schicksal und können dafür sorgen, dass sie von einer Jugendeinrichtung in München übernommen wird. Voraussichtlich muss sie mit 18 wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Sehr häufig werden junge Mädchen nach einem Au-pair-Aufenthalt illegal, denn ein Au-pair-Visum läuft nach einem Jahr aus, wie das von Tatjana im vorliegenden Roman. Bleibt man, wird man illegal. Will man z. B. heiraten, geht das nur im Heimatland, und von dort muss ein Visumsantrag auf Familienzusammenführung gestellt werden.

Die meisten Visa gelten nur für einen Aufenthaltszweck, für jeden weiteren muss man einen neuen Antrag, meist in der Heimat, stellen, was für viele wegen des teuren Flugs unmöglich ist.

 

Dennoch kommt es selten zur Anzeige öffentlicher Stellen an die Ausländerbehörde, da Menschen in der Illegalität vor der Inanspruchnahme ihrer sozialen Grundrechte (wie gesundheitliche Grundversorgung, Klagen gegen soziale Ungerechtigkeiten vor Gericht) zurückschrecken und den Kontakt zu diesen Stellen meiden, um nicht zu riskieren, abgeschoben zu werden.

Das führt dazu, dass das Leben als Illegaler in Deutschland mit dem hohen Risiko verbunden ist, dass Erkrankungen oder Verletzungen nicht oder nicht rechtzeitig behandelt werden. Dass Impfungen bei Kindern unterbleiben, dass Frauen auf medizinische Hilfe bei Schwangerschaften und Entbindungen verzichten, dass Neugeborene keine Geburtsurkunde erhalten, dass Kinder statusloser Eltern weder einen Kindergarten noch eine Schule besuchen können, dass illegal beschäftigten Ausländern der vereinbarte Lohn von betrügerischen Arbeitgebern vorenthalten werden kann.

Wir sehen diese Menschen im Schatten nicht, denn sie halten sich an die ungeschriebenen 10 Gebote der Illegalen:

  1. Steige niemals ohne ein Ticket in ein öffentliches Verkehrsmittel ein.

  2. Gehe niemals bei Rot über die Verkehrsampel.

  3. Melde dich nie mit Namen am Handy.

  4. Greift dich jemand körperlich an, weiche aus und fliehe, rufe nicht die Polizei.

  5. Halte dich weit entfernt von öffentlichen Plätzen, wie z. B. dem Bahnhof oder Volksfesten.

  6. Wird deine Arbeit schlecht oder gar nicht entlohnt, schalte kein Gericht ein.

  7. Gehe Streitigkeiten am Arbeitsplatz oder wo auch immer aus dem Weg.

  8. Vermeide auffälliges Verhalten.

  9. Vermeide, wenn möglich, in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden.

  10. nie deine Wohnungstür, ohne zu wissen, wer davorsteht.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Leben von Menschen in der Illegalität ist ungeheuer anstrengend, hart, unvorstellbar zermürbend, entwürdigend und oft sehr grausam. So ein Leben nimmt man nicht aus Abenteuerlust auf sich, sondern in sehr vielen Fällen steckt nackte Not dahinter.

So ist es höchst dankenswert und wichtig, dass sich die Autorin Lotte Kinskofer dieser Problematik angenommen hat und sehr anschaulich und ungeheuer spannend schildert, wie unglaublich schwierig es ist, sich als illegalisierte Person in Deutschland aufzuhalten, und wie schwer es ist, mit diesen Unsichtbaren ins Gespräch zu kommen oder gar eine Beziehung aufzubauen, wie es Christoph versucht.

Aber es wird nicht nur das Schicksal einer Illegalisierten erzählt, sondern fast nebenbei erfährt man auch noch etwas über abgelehnte Asylbewerber und ihr oft hartes Leben bei uns in Deutschland. Auch zu uns kam ein ehemaliger Kindersoldat, der sich nicht traute, seine Geschichte zu erzählen, weil der Übersetzer seinem Stamm angehörte, und er befürchtete, dass dieser und alle anderen Stammesangehörigen ihn in Deutschland verfolgen könnten, so wie es ihm in seiner Heimat widerfahren war. Sein Asyl wurde abgelehnt, er erhielt eine Duldung, da man ihn ohne Pass nicht abschieben kann, so wie offenbar auch Adamu.

 

Wir können nicht alle Menschen in Not bei uns aufnehmen, aber wir können uns dafür einsetzen, dass bei Entscheidungen, wer hierbleiben darf und wer gehen muss, die von Deutschland anerkannte ›Allgemeine Erklärung der Menschrechte‹ der UNO von 1948 zugrunde gelegt wird. Demnach müsste die Übermittlungspflicht (siehe Gesetzestext oben), die es so nur in Deutschland gibt, auf sicherheitsrelevante Kriterien reduziert werden.

 

Birgit Poppert wurde bei ihrer nebenberuflichen Tätigkeit als Deutschlehrerin für Asylbewerber darauf aufmerksam, dass es für illegal in Deutschland lebende Ausländer praktisch keine Krankenversorgung gab. Diese Erkenntnis führte zur Gründung des Café 104 in München, das mittlerweile ein richtiges kleines Zentrum für Menschen mit ungesichertem Status geworden ist. Für ihr Engagement wurde Birgit Poppert 2009 mit dem Preis der Stadt München, ›München leuchtet‹, ausgezeichnet.