3. Kapitel

Der erste Tag im Waldhaus nach einer schlaflosen Nacht. Die Sonne scheint, der See draußen glitzert, doch Isabel möchte nicht vor die Tür. Was ist, wenn einer der Nachbarn sie entdeckt? Vermutlich wissen doch alle, dass die Besitzer verreist sind.

Eugenia schläft noch, erschöpft von der Flucht. Isabel durchsucht die Schränke, sie mag diesen löslichen Kaffee nicht, den ihre Mutter nach ihrer Ankunft zubereitet hat. Sie findet einige alte Teebeutel: Minze, Kamille, schwarzer Tee. Sie entscheidet sich für Schwarztee, kocht Wasser.

Bereits nach wenigen Minuten ist es so, als wäre sie schon lange hier. Sie ist es gewöhnt umzuziehen, sich in einer neuen Umgebung einzuleben, das Waldhaus ist mindestens die zehnte Station in den vergangenen fünfzehn Jahren, seit sie in Deutschland ist. Kein Umzug war freiwillig, immer hatte jemand in der Nachbarschaft Verdacht geschöpft, ein schiefer Blick zu viel, eine Frage zu konkret. Auch in der Schule, die sie bis zum letzten Weihnachtsfest besucht hatte, war es so gewesen. Die ersten Mitschüler hatten eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte; die Lehrerin, die sie immer besonders unterstützt hatte, gab ihr den Tipp, an welcher Schule sie es noch versuchen könnte, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Ein Direktor, der nicht so genau nachfragt, der keine Papiere sehen will, der Informationen über die neue Schülerin nicht unbedingt an die Behörden weitergibt. Sie hatte so sehr gehofft, dort länger bleiben zu können. Doch jetzt war es wieder so: keine Wohnung, keine Schule, erneut auf der Flucht und auf der Suche nach mehr Sicherheit. Doch – eines ist anders als früher. Es gibt Christoph.

 

Sie möchte ihn gerne anrufen oder ihm eine SMS schicken, aber sie ist nicht sicher, ob das klug ist. Wo mag er jetzt sein? Sie sieht auf die Uhr. Er müsste noch in der Schule sitzen, neben Ben. Sie haben vereinbart, dass er sich so normal wie möglich verhält. Sie hofft sehr, dass er es auch tut. Zu seinem eigenen Schutz – und natürlich auch zu ihrem.

 

Immer wieder taucht blitzlichtartig die schreckliche Szene der Nacht vor ihr auf. Kröger, wie er im Keller liegt, das Blut, der seltsam verdrehte Hals, die aufgerissenen Augen. Ihr Entsetzen, ihre Angst, alles ist dann wieder da.

 

Bestimmt ist die Polizei schon im Haus. Sichert die Spuren. Spricht mit den Mietern. Die Frau des Hausmeisters: Wer sagt ihr, dass ihr Mann tot ist? Sie haben oft gestritten, das war im ganzen Haus zu hören, sie liebten sich bestimmt schon ewig nicht mehr – aber vielleicht ist sie doch geschockt, entsetzt, traurig.

 

Isabel setzt sich mit ihrem Tee ans Fenster. Lugt hinaus. Kein Mensch weit und breit. Soll sie es doch wagen und hinausgehen in die Sonne, ins Licht?

Später vielleicht.

Wahrscheinlich wird die Polizei die Hausbewohner vernehmen, einen nach dem anderen. Wer wird sagen, dass da unten in der Abstellkammer eine Frau und ihre Tochter wohnten? Die meisten wissen nicht, dass sie und ihre Mutter sich illegal in Deutschland aufhalten. Manche ahnen es, Mehmet hat es ihr einmal auf den Kopf zugesagt und sie hat es zugegeben.

 

Sie will diese Gedanken verdrängen, aber sie kommen immer wieder.

Was ist letzte Nacht passiert? Und vor allem: Welche Konsequenzen hat es für sie und ihre Mutter?

Wenn Kröger ermordet worden ist … werden sie dann als Zeugen gesucht? Oder sind sie allein deswegen verdächtig, weil sie verschwunden sind? Wird dann nach ihnen gefahndet? Mit Radiodurchsagen, Plakaten und allem Drum und Dran? Wenn man sie erwischt, gibt es ein faires Gerichtsverfahren, bekommen sie einen Anwalt und kann der ihnen helfen? Kommen sie ins Gefängnis oder werden sie gleich abgeschoben? Wie könnten sie ihre Unschuld beweisen? Immerhin hätte sie ein Motiv. Wie so viele andere auch. Alle im Haus hassten Kröger.

Wenn Kröger nur gestürzt wäre, also an den Folgen eines Unfalls gestorben ist … wäre das besser? Klar, vor allem wenn das schnell rauskäme. Ein Unfall, keine Ermittlungen, sie und ihre Mutter könnten gleich zurück, ohne dass ihr Verschwinden überhaupt groß auffiele. Aber wenn er ermordet worden ist, dann macht es sie besonders verdächtig, dass sie abgehauen sind. Hätten sie bleiben sollen, weil sie unschuldig sind? Auch wenn die Polizei sie nur als mögliche Zeugen befragt hätte, mit Sicherheit wäre rausgekommen, dass sie Illegale sind. Sie wären abgeschoben worden. Was für eine verzweifelte Situation.

Schlagartig wird Isabel klar, dass sie ab jetzt in keinen Teil ihres bisherigen Lebens zurückkann. Nicht in die Schule, nicht in ihre Wohnung. Sie verliert wieder einmal alle Kontakte, außer ihrer Mutter wird ihr niemand bleiben. Und was ist mit Christoph?

 

Wieder sieht Isabel zur Uhr. Sie sehnt Christoph herbei. Sie will seine Wärme spüren, er hat ihr gestern so viel Sicherheit gegeben mit seiner Ruhe und Klarheit. Wie er mit ihnen das weitere Vorgehen geplant hat, wie er für sie da war. Sie hat immer so sehr gehofft, dass sie seine Hilfe nicht braucht. Doch nun hat sie ihn in ihr Schicksal mithineingezogen.

 

Jetzt wird er einkaufen. Und die Vorräte hierherschaffen, zu ihnen. Hoffentlich ist er noch nicht ins Visier der Ermittler geraten. Kann er sich noch frei bewegen? Oder bringt ihn die Polizei schon mit ihrem Verschwinden in Verbindung? Wie lange wird es dauern, bis sie herausfinden, dass er ihr Freund ist?

 

Isabel legt die Füße auf der Holzbank hoch und lehnt den Kopf an die Wand. Sie schließt die Augen, doch da erscheint sofort das Bild des toten Hausmeisters. Sie versucht, es mit einem anderen Bild zu überlagern. Christoph, tief schlafend, nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Ein Anblick, der sich ihr eingebrannt hat. Denn damals hat sie sich geschworen, dass sie ihn nie verlassen wird.

Damals, wie das klingt. Es ist erst vier Monate her. Aber es war in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. So wird es nie wieder sein.

Erschöpft schläft sie ein.

 

Das Knattern seines Rollers weckt sie. Christoph ist da! Und Eugenia ist inzwischen auch wach. Gemeinsam gehen sie vor die Tür, helfen ihm beim Hereintragen der Einkäufe.

»Ich kann es dir nicht bezahlen«, sagt Eugenia verlegen.

Christoph winkt nur ab. Dann zieht er ein Handy heraus.

»Neu gekauft. Für mich. Ich gebe euch die Nummer und ihr ruft mich nur noch auf diesem Handy an. Ich telefoniere umgekehrt mit euch auch nur von diesem Gerät aus. Falls die Polizei irgendwann auftaucht und mein Handy checken will, gebe ich ihnen das alte.«

Daran hat sie noch gar nicht gedacht. Doch es ist eine gute Idee von Christoph. Es wird so aussehen, als hätten sie keinen Kontakt mehr. Für den Fall, dass die Polizei ihn vernimmt.

Traurig sieht er sie an: »Ich habe alle deine SMS gelöscht. Vorsichtshalber.«

Sie nimmt ihn wortlos in den Arm.

»Soll ich euch auch neue Telefone besorgen?«, fragt er nach, aber Isabel schüttelt nur den Kopf.

»Unsere Handys laufen doch sowieso nicht auf unsere Namen«, sagt sie nur und lächelt schief. »Uns gibt’s doch eigentlich gar nicht.«

 

Das Rattern eines Hubschraubers. Isabel, die sich eben noch weich an Christoph gelehnt hat, verspannt, richtet sich kerzengerade auf. In Eugenias Augen flackert die Angst.

»Sie suchen euch doch nicht mit einem Hubschrauber«, versucht Christoph zu beruhigen.

»Wir können hier nicht bleiben.« Es kommt entschlossen und hart heraus.

»Ihr müsst«, widerspricht Christoph.

Sie schüttelt den Kopf. »Sie werden uns schnell finden. Über dich.«

»Dann komme ich eben ein paar Tage nicht.«

»Irgendwann musst du wiederkommen. Denn ohne dich können wir nicht überleben.«

»Ich könnte euch noch weiter wegbringen, raus aufs Land, wo euch niemand kennt, wo man von dem Mord nichts weiß.«

»Du tust naiver, als du bist.« Isabel spürt Zorn in sich aufsteigen. »Es gibt Fahndungsplakate. Und Fremde in einem Dorf, die auch noch aussehen wie Ausländer, da guckt jeder hin. Da fragen doch alle: Was machen die da?«

»Eine andere Stadt«, schlägt Christoph vor. »Ich habe Freunde in Köln.«

Isabel sieht ihre Mutter einen Moment an, zögert.

»Ich glaube, dass er umgebracht worden ist«, sagt sie schließlich. »Und dann haben wir keine Chance, wenn sie uns verdächtigen und nach uns fahnden. Sie werden uns überall kriegen.«

»Doch, ihr habt eine Chance«, behauptet Christoph. »Wenn sie den Täter schnell schnappen, dann seid ihr erst mal aus der Schusslinie. Denn sie suchen ja einen Mörder, nicht zwei Frauen, die illegal in Deutschland leben.

Das bringt Isabel auf eine Idee. Ein winziger Hoffnungsschimmer.

»Vielleicht sollten wir uns selbst darum kümmern.«

Christoph sieht sie ungläubig an.

»Du willst recherchieren? Du kannst hier nicht weg!«

Nein, da hat er recht. Trotzdem erscheint es ihr als die einzige Lösung: schnell den Täter finden, bevor die Polizei überhaupt auf ihre Spur kommt. Sie schweigt, überlegt, sieht Christoph an.

»Ich fahre zu eurem Haus, schaue nach und höre mich um«, verspricht Christoph. »Bist du dann zufrieden?«

Isabel zögert, dann nickt sie. Sie würde das lieber selbst in die Hand nehmen. Doch das ist unmöglich.

»Aber sei vorsichtig«, sagt sie und küsst ihn auf die Wange.

Dann ist er weg.