»Sie haben kein Recht, meinen Sohn hier festzuhalten.«
»Sie wissen selbst, dass wir das können, wenn er Beschuldigter in einem Strafverfahren ist.«
Schweigend hört sich Christoph den Schlagabtausch zwischen seinem Vater und der Polizei an. Er hat ihn nach der Festnahme angerufen, seinen Vater, den Anwalt. Auch wenn der stinksauer auf ihn ist, er wird ihn nicht im Stich lassen, das weiß Christoph. Und zum ersten Mal ist er dankbar dafür, dass seine Eltern so sind, wie sie sind. Manchmal nervig in ihrer Fürsorge und Kontrolle, aber immer für ihn da.
Abgerissen sitzt er hier, müde und kaputt. Dachte er wirklich, er könnte Isabel beschützen? Oder Krögers Mörder finden und damit Isabel entlasten?
Sein Vater gibt sich alle Mühe, ihn zu entlasten. Wenn er Pech hat, hängen sie ihm den Mord an Kröger an. Denn sie wissen längst, dass Kröger Isabel missbraucht hat. Und damit hätte er ein starkes Motiv. Irgendjemand aus dem Haus hat es ihnen gesteckt, vielleicht Tatjana oder sogar die Frau des Hausverwalters selbst. Die hat es sicher anders dargestellt, nämlich so, dass Isabel sich ihrem Mann an den Hals geworfen hat.
Dass er eine Illegale unterstützt hat, dass er sie vor der Polizei versteckt, das alles ist schlimm genug, verblasst aber angesichts des Mordverdachts. Absurd: Ausgerechnet jetzt kommt die Erkenntnis, dass Isabel völlig legal in Deutschland leben könnte. Wenn Eugenia damals anders gehandelt hätte, wenn Isabels Vater auffindbar gewesen wäre, wenn …
Christophs Vater kämpft, auch um seinen guten Ruf. Natürlich hatte er keine Ahnung, dass die Freundin seines Sohnes und deren Mutter ohne Papiere hier lebten. Das sagt er gegenüber der Polizei.
Du hast es zumindest geahnt, denkt Christoph. Du wolltest es nicht genauer wissen.
Er möchte seinem Vater Vorwürfe wegen seiner Feigheit machen. Aber ihm ist klar, dass sein Vater klug handelt. Er kann das nicht. Er will auch nicht klug sein.
»Es ist scheiße, wie Illegale hier behandelt werden.«
Der Vernehmungsbeamte zieht die Augenbrauen hoch.
»Was würdest du vorschlagen?«
»Legalisieren, ist doch klar.«
»Weißt du, wie viele Menschen in dieses Land kommen und bleiben, obwohl sie kein Aufenthaltsrecht haben?«
»Haben wir denn das Recht, auf ihre Kosten zu leben und sie auszubeuten? Da sehen Sie einfach zu!«
»Sie hätten nicht kommen müssen, sie brauchen nicht zu bleiben.«
»Da machen Sie es sich aber verdammt einfach.«
Das war ein entscheidender Fehler und er sieht es seinem Vater an. Für Schwache einstehen, das geht gerade noch. Aber einen Beamten dumm anreden, das ist gar nicht gut.
»Bist du total bekloppt?«, zischt sein Vater, als er glaubt, die Beamten seien mit Telefon und Kaffeemaschine genug abgelenkt.
»Aber ich habe doch recht!«
»Erstens bin ich mir da nicht so sicher und zweitens sind recht haben und recht bekommen …«
»Ja ja ja, zwei Paar Stiefel«, führt Christoph den Satz genervt zu Ende.
Sein Vater mustert ihn nachdenklich.
»So hilfst du Isabel auf keinen Fall.«
»Aber du weißt bestimmt, wie’s geht!«
Er flüchtet sich in Sarkasmus, er will seinem Vater nicht zeigen, wie verzweifelt er ist.
Der eine Beamte telefoniert weiter, der andere ist nicht im Raum.
»Du solltest mit der Polizei zusammenarbeiten.«
»Isabel verraten – niemals!«
»Wenn sie, wie du behauptest, legal hierbleiben kann, dann hat sie doch nichts zu befürchten. Sag einfach, wo sie ist.«
»Erstens weiß ich es nicht und zweitens wird sie wegen Kröger gesucht. Und solange die Polizei sie verdächtigt …«
»Denk doch mal nach. Wenn sie mit dem Tod Krögers nichts zu tun hat und der Mörder noch frei herumläuft – vielleicht ist sie in Gefahr!«
Einen Moment erschrickt er. Ist Isabel in Gefahr? Nein, sie weiß sich zu helfen. Gefährlich für sie sind die, die sich als Ordnungshüter ausgeben. Niemand sonst.
»Was ist, wenn Isabel den Mörder kennt?«, bohrt sein Vater nach. »Vielleicht war er in dunkle Geschäfte verwickelt und hat sie da mit reingezogen …«
Christoph sieht ihn an. »Du denkst wirklich, sie ist kriminell, oder?«
»Sie hat gelernt, ums Überleben zu kämpfen. Da braucht man manchmal harte Bandagen.«
»Woher willst du das wissen?«, fragt Christoph und denkt an Eugenia, die ihm seine eigene Ahnungslosigkeit und Naivität um die Ohren gehauen hat.
Eugenia … er hat sie ganz vergessen in den letzten Stunden. Sie sitzt wohl immer noch in der Waldhütte, hört nichts von ihm und nichts von Isabel und ist völlig am Ende.
Es muss sich entsetzlich anfühlen, wenn man denkt, dass man alles falsch gemacht hat, dass das harte Leben der letzten Jahre völlig umsonst war, weil es eine einfachere Lösung gegeben hätte.
Was tut sie jetzt wohl? Hoffentlich ist Bruckner zu ihr gefahren, hoffentlich kümmert er sich um sie.
Wenn er Isabel und Eugenia helfen möchte, dann muss er hier raus. Er hat Isabel noch nicht gesagt, dass es für sie eine Chance gibt, in Deutschland zu leben, wenn sie die Hilfe ihres Vaters annimmt. Er ist nicht mehr dazu gekommen. Wohin mag sie sich jetzt geflüchtet haben? Wo ist sie noch sicher? Wer ist der Mörder von Kröger? Alles wäre gut, wenn die Polizei ihn endlich fassen würde.
Er will raus. Isabel suchen, finden, beschützen …
Er kann hier nur raus, wenn er die Beamten davon überzeugt, dass er mit Krögers Tod nichts zu tun hat. Aber wen werden sie dann verdächtigen? Isabel, ganz klar, denn ihr Motiv ist genauso stark wie seins. Er möchte hier weg, um ihr zu helfen. Dazu muss er sich entlasten und damit belastet er Isabel. Ein Teufelskreis.
Wieder schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, dass sie es gewesen sein könnte. Isabel hatte ein Motiv und die Gelegenheit. Kein Mord, ein Unfall. Gerangel auf der Treppe. Sie wehrt sich. Genau, es war Notwehr.
Er wischt den Gedanken wieder weg. Nein, sie hat kein Menschenleben auf dem Gewissen. Das hätte sie ihm doch erzählt. Hätte sie? Sie hat ihm so vieles nicht gesagt.
Es spielt keine Rolle: Auch wenn sie mit Krögers Tod zu tun hat, es ändert nichts an seinen Gefühlen für sie. Er liebt sie, er will für sie da sein. Deswegen muss er hier raus.
»Okay, ich sage alles, was ich weiß.«
Christoph sagt nur fast alles. Und ein paar falsche Angaben sind auch dabei. Dennoch fühlt er sich wie ein Verräter.
Er erzählt, seit wann er Isabel kennt. Seit wann sie ein Paar sind. Wann er gemerkt hat, dass sie keine Papiere hat. Dass er es seinen Eltern verschwiegen hat. Das meiste davon hat er schon bei der ersten Vernehmung gesagt.
Er gibt an, von Krögers Übergriffen nichts gewusst zu haben. Was ja auch stimmt.
Er schildert Isabels Anruf mitten in der Nacht.
Behauptet, er habe die beiden vor einer Schrebergartensiedlung im Wedding abgesetzt. Weit weg von der Gegend östlich von Köpenick, wo er sie wirklich hingebracht hat. Dort hätten sie sich allein so lange herumgetrieben, bis sie unter irgendeiner Fußmatte oder in einer Regenrinne einen Schlüssel fanden und in eines der Häuschen kamen.
Er wisse nicht genau, wie lange sie dort waren. Denn er sei ja in sein normales Leben zurückgekehrt. Irgendwann kam ein Anruf von Eugenia, Isabel sei verschwunden. Er habe sie gesucht und in der Nähe ihres Hauses in der Wrangelstraße gesehen. Dann habe er sie zur Rede gestellt und dabei sei er ja auch festgenommen worden.
»Wir haben einen Hinweis bekommen«, sagt der eine Beamte plötzlich, der gerade eben noch telefoniert hatte. »Von einem Mann, der in der Nähe von Erkner ein kleines Ferienhäuschen bewohnt.«
Christoph kann nicht verhindern, dass ihm das Blut in den Kopf schießt.
»Er denkt, in seiner Nachbarschaft habe sich seit einigen Tagen jemand eingenistet, der dort nicht hingehört. Weil die Besitzer des Hauses in Urlaub sind.«
Der Vater sieht ihn unverwandt an. Selbst wenn Christophs Verhalten unauffällig geblieben wäre, sein Dad verrät ihn in derselben Sekunde.
»Du hast …«
»Haben Sie ein Häuschen dort, Herr …«
»Nein.«
Die Beamten haben schnell reagiert, aber auch die Antwort kommt prompt.
»Es ist bereits eine Streife unterwegs«, sagt der Beamte und lächelt, denn er weiß, dass er gewonnen hat.
»Möchtest du uns jetzt noch was sagen?«
Pause. Aufmunternder Blick des Vaters.
Er schweigt. Was soll er noch sagen? Sie haben Eugenia. Und Isabel ist verschwunden. Wie lange wird sie durchhalten?