12. Kapitel

Der Weg in die Stadt dauert ewig. Isabel ist eingenickt im Bus, und als sie jetzt die Augen aufschlägt, da ist es richtig hell, die Sonne scheint. Sie sieht, dass sie der Busfahrer über den Rückspiegel mustert. Sie steigt aus, nimmt den nächsten Bus. In ihrer Jackentasche findet sie eine Haarklammer und die Sonnenbrille. Sie steckt die Haare hoch, setzt ihre Brille auf. So, nun sieht sie anders aus als auf jedem Foto, das die Polizei von ihr in der Wohnung gefunden haben kann. Vielleicht hilft das ein bisschen, für den Fall, dass sie nach Eugenia und ihr fahnden. Isabel fühlt sich nicht wohl. Sie riecht etwas muffig, nach der Feuchtigkeit des Waldhauses, nach dem Schlafsack, nach der Nacht. Sie hätte sich gerne gewaschen. Aber wo und wie?

Eigentlich ist dafür auch keine Zeit. Sie muss handeln. Sie will handeln. Ohne ihre Mutter, die sie nicht gefährden möchte. Ohne Christoph, dem sie nicht mehr vertraut.

 

Sie weiß, wie es ist, wenn man sich auf niemanden verlassen kann. Im Laufe der Jahre hat Isabel ihre eigene Strategie entwickelt, in Deutschland zu überleben. Sie ist der unsichtbarste Mensch dieser Welt. Dachte sie jedenfalls. Sie hat als Kind leise gespielt, nichts kaputt geschlagen, keinen Krach gemacht, sie war wenig draußen, hatte selten Freunde, niemand durfte sie besuchen. Keiner hat sie damals auch nur angesehen, ein kleines, stilles Mädchen.

 

Das wurde anders, als sie zwölf, dreizehn wurde. Sie verhielt sich immer noch unauffällig, aber die Blicke vieler Menschen veränderten sich, vor allem die der Männer, der Schulkameraden. Es reichte nicht mehr, einfach nur nichts zu sagen oder schüchtern wegzugehen. Sie musste nun dagegenhalten. Mal ein klares Wort, nicht zu hart. Ein Typ muss wissen: Bis hierher und nicht weiter. Aber sie darf ihn nicht kränken, nicht verletzen. Er könnte sich rächen. Genauer nachforschen. Ihrem Geheimnis auf die Spur kommen.

 

Das ging lange gut. Bis einer ihre Notsituation gnadenlos ausnutzte. Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn es nicht noch ihre Mutter gegeben hätte. Sie hätte sich gewehrt, sie wäre geflohen, sie hätte jemanden um Hilfe gebeten. Aber sie wollte ihr Problem vor Eugenia verheimlichen. Sie wusste, dass Eugenia Angst um sie hatte, sich Sorgen machte. Sie ahnte aber auch, dass die Wahrheit über Kröger ihre Mutter in die Verzweiflung gestürzt hätte. Deshalb hatte sie ihr nichts gesagt. Im Laufe der Zeit war sie, das Kind, souveräner mit der ausweglosen Situation umgegangen als die Frau, die sie bislang beschützt hatte.

 

Auch Christoph hatte sie nicht vertraut. Obwohl er immer sagte, er wolle sie lieben und beschützen. Stattdessen hatte er diesen Arzt angeschleppt. Der ihre Mutter unglücklich gemacht hat. Der sie damals zu einer Abtreibung zwingen wollte. Alles für die Karriere, die Sicherheit, ein Leben in der besseren Gesellschaft. Dazu passt diese frühe Liebe oder Affäre aus Kolumbien nicht. Und schon gar nicht das Kind.

Sie zittert vor Wut und vor Enttäuschung. Nie hätte sie gedacht, dass Christoph ihr das antun würde. Warum sollte dieser Mann ihnen helfen? Er riskierte etwas, wenn er auf ihrer Seite stand.

Isabel versucht, diese Gedanken zu verdrängen. Sie muss jetzt einen klaren Kopf behalten. Den Täter finden. Dann können sie irgendwo anders von vorne anfangen. Ein neues Leben ohne Christoph. Sie weiß, dass er sie liebt. Und sie liebt ihn auch. Aber er kann sie einfach nicht verstehen. Er ist eine Gefahr – und seine Liebe macht das nur noch schlimmer. Dass es so weit gekommen ist, ist auch ihre Schuld. Sie hätte sich niemals auf ihn einlassen dürfen.

Immer wieder sagt sie es sich vor: Wir haben eine Chance. Wir haben eine Chance. Wenn Krögers Mörder überführt ist.

 

Sie muss Mehmet und Esra um Hilfe bitten. Im Bus überlegt Isabel, wie sie vorgehen soll. Mehmet ist in sie verliebt. Das ist ihr schon lange klar. Er wird ihr helfen, aber wird er es ganz uneigennützig tun? Esra ist ihre beste Freundin. Aber ein bisschen jünger als sie und noch ziemlich ahnungslos.

 

Immer mehr Leute steigen zu, auf dem Weg in die Stadt. Isabel sieht sie genau an. Sie muss den einen Menschen schon vorher erahnen, der sie vielleicht erkennen könnte. Damit sie rechtzeitig aussteigen und verschwinden kann. Keiner beachtet sie zunächst. Alle sind mit sich selbst beschäftigt. Alle müssen zur Arbeit oder etwas besorgen. Isabel bleibt stehen, es könnte sein, dass sie schnell an einer Haltestelle rausmuss. Dann ist es besser, nicht zu sitzen, nicht jemanden bitten zu müssen, aufzustehen und sie herauszulassen.

Da, einer mustert sie von oben bis unten. Lässt sie nicht aus den Augen. Als er näher kommt, steigt sie aus. An einem Kiosk kauft sie sich eine Zeitung, nimmt die nächste S-Bahn, blättert herum, doch sie findet nichts mehr über den Mord an Kröger. Schon vier Tage her – oder sind es fünf? Sie hat die Zeit fast vergessen, draußen im Waldhaus. Und in der Stadt ist viel passiert. Berlin interessiert sich inzwischen für ganz andere Dinge.

 

Es dauert ewig, bis sie Kreuzberg erreicht. Zumindest kommt es ihr so vor. Von unterwegs schickt sie SMS an Mehmet und Esra. Wer von beiden wird sich melden? Wer wird Zeit für sie haben?

Esra schreibt zuerst. Sie kann nicht raus aus der Schule, sie hat eine Prüfung. Mehmet hat Berufsschule – er will für sie blaumachen. Sie weiß, dass er seinen Job sonst sehr ernst nimmt. Sie würde ihn nicht bitten, wenn es nicht dringend wäre. Sie verabreden sich in der Naunynstraße. Hier ist ein Jugendtreff. So früh am Tag hat er noch nicht offen, aber sie können sicher im Hinterhof sitzen, sich in aller Ruhe unterhalten, ohne dass jemand sie beachtet.

 

Als Isabel am Oranienplatz ankommt, spürt sie den Hunger. Nicht die Müdigkeit, nicht die Erschöpfung. Aber ihr Kreislauf spielt verrückt. Sie hat Angst, dass sie zusammenklappt. Auch diese Schwäche kann sie sich nicht leisten. Sie kauft sich von ihrem wenigen Geld einen Kaffee und ein Brötchen. Geht weiter. Lehnt sich kurz an eine Wand. Spürt Blicke. Geht weiter.

Ich brauche noch eine Stunde, schreibt Mehmet in einer SMS. Isabel aber will nicht irgendwo herumsitzen und warten. Sie könnte für eine Schülerin gehalten werden, die den Unterricht schwänzt. Sie möchte in eine Kirche gehen, sich setzen und ausruhen. Aber die Kirchen auf ihrem Weg sind alle verschlossen. Und sie hat keine Kraft, noch weiter herumzulaufen. Also geht sie schon vor in die Naunynstraße, setzt sich auf eine Bank im Hinterhof. Wartet. Und hofft inständig, dass Mehmet und Esra sie nicht verraten, sondern die Freunde sind, für die sie sie gehalten hat – seit sie mit ihrer Mutter hier in Kreuzberg zu Hause ist. Zu Hause … Was für ein schönes Wort.

 

Wer im Schatten lebt, muss warten können. Isabel nutzt die Zeit und checkt ihr Handy. Wie vermutet: Anrufe und SMS von Eugenia und Christoph. Sei nicht unvernünftig … Tu nichts Unüberlegtes … Komm zurück … Zu gefährlich … Er wird uns helfen … Wir brauchen ihn 

Soll sie zurückschreiben? Dass es ihr gut geht? Dass alles okay ist? Aber es geht ihr nicht gut. Und nichts ist okay. Sie wird später antworten. Erst will sie mit Mehmet sprechen.

 

Dann ist er da. Sie lässt sich von ihm in den Arm nehmen. Egal, was er dabei denkt, was er sich erhofft, was er wünscht. Sie braucht jetzt für diesen einen Moment die Sicherheit und die Wärme.

»Tut mir leid, wenn ich euch da mit reinziehe.«

»Schon gut, aber lass mich machen, nicht Esra.«

Er hat etwas zu essen und zu trinken mitgebracht.

»Was brauchst du noch? Sag es mir, ich kann es besorgen. Hast du ein Versteck? Wo ist deine Mutter? Wie kann ich euch helfen?«

Es ist ihr fast zu viel.

»Denkst du, dass ich etwas mit Krögers Tod zu tun habe?«

Mehmet mustert sie aufmerksam mit seinen dunklen Augen, dann schüttelt er den Kopf.

»Keinen Moment habe ich das gedacht.«

»Aber wer kann es gewesen sein?«

»Jeder.«

Isabel sieht ihn fragend an und Mehmet zieht eine Grimasse.

»Nein, ich war es auch nicht. Obwohl … wär’s gern gewesen. Für dich.«

Wie warm seine Augen sie ansehen. Er streckt die Hand nach ihrer Hand aus. Sie zieht sie zurück. Um ihn nicht so sehr zu kränken, tut sie so, als würde sie ein Taschentuch suchen. Findet keines. Mehmet holt eines aus seiner Hosentasche. Zerknittert, aber sauber. Sie nimmt es, achtet jedoch darauf, dass sich ihre Hände nicht berühren.

»Was macht die Polizei?«

»Kommt fast jeden Tag. Fragt alle. Immer wieder.«

»Sie fragen nach uns?«

»Auch.«

»Meinst du, ich kann mal in unsere Wohnung?«

»Vergiss es.«

»Kannst du rein und mir ein paar Sachen besorgen?«

Sie sieht an sich herunter, die Kleidung schmutzig und muffig. Mehmet schüttelt bedauernd den Kopf.

»Ist versiegelt. Aber vielleicht …«

»Nein, du darfst nichts riskieren«, entscheidet Isabel und bereut schon, Mehmet gefragt zu haben.

 

»Ich muss bald weg«, sagt Mehmet. »Ich habe mich krankgemeldet. Und wenn ich hier rumlaufe, das ist viel zu nah an der Schule.«

Er grinst schief: »Ich will mich nicht erwischen lassen.«

»Ich begleite dich ein Stück.«

»Zu gefährlich.«

»Nicht bis zum Haus. Nur ein bisschen. Damit du mir noch mehr erzählen kannst.«

Sie will nicht allein sein. Hat keine Ahnung, wie es weitergehen, was sie tun soll. Wie kann sie den Mörder suchen, wenn sie nirgends auftauchen darf?

Gemeinsam gehen sie durch die Straßen. Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Ein Blick nach hinten, einer nach vorne, zur Seite. Niemand verfolgt sie, niemand beobachtet sie. Durch die Manteuffelstraße, dann stehen sie an einer roten Ampel. Isabel denkt an den Augenblick mit Christoph, als er sie über die Straße ziehen wollte. Und ein Polizist auf sie aufmerksam wurde. Es tut weh, an ihn zu denken. Sehr weh. Sie fühlt: Mehmet ist der falsche Junge an ihrer Seite. Aber der wahre Freund.

»Es war einer aus dem Haus«, sagt Mehmet.

»Das denke ich auch, aber wer?«

Gemeinsam gehen sie die einzelnen Bewohner durch.

Horst?

Mehmet schüttelt den Kopf: »Der ist doch viel zu wirr in seiner versoffenen Birne.«

»Und wenn er gerade nüchtern war?«

»Dann zittern seine Hände zu stark.«

Mehmet grinst und imitiert das Zittern, das zu Horsts Markenzeichen geworden ist.

»Da ist doch noch diese neue Familie im vierten Stock …«

»Von der weiß ich auch nicht viel«, gibt Mehmet zu. »Aber wenn sie gerade erst da sind … hatten sie schon so viel Zoff mit Kröger, dass sie ihn killen?«

»Adamu?«

»Der ist zu gutmütig. Da könntest du gleich denken, es war Tatjana.«

In Isabels Kopf arbeitet es fieberhaft. Mehmet sieht sie mitfühlend an.

»Ich glaube, Krögers Frau hat euch bei der Polizei angeschwärzt.«

»Wie kommst du darauf?«

»Für sie sind doch alle ausländischen Frauen ohne Mann …«

Er zögert, möchte nicht weitersprechen, doch Isabel nickt, sie kennt die Geschichte, sie kann sie sofort zu Ende erzählen: »… auf der Suche nach einem deutschen Kerl.«

Die Wut steigt in ihr hoch. Sie wird schneller. Mehmet hält sie auf.

»Hey, nicht weiter. Wir sind sonst gleich da.«

Jetzt erst bemerkt Isabel, dass sie fast schon vor ihrem Haus angekommen sind. Sie bleibt stehen.

»Wo gehst du hin?«, fragt Mehmet.

Isabel will sich über diese Frage jetzt keine Gedanken machen.

»Können wir uns morgen sehen?«

Er nickt. »Schick mir eine SMS, wann und wo. Und was du brauchst. Ich höre mich im Haus um.«

Sie nimmt ihn in den Arm.