Seit Stunden steht er in der Wrangelstraße. Geht ein paar Schritte, kommt zurück, wartet, sieht sich um. Er ist sicher, dass sie kommt. Wohin soll sie sonst? Sie muss in dieses Haus. Denn sie will den Mörder Krögers finden.
Er muss mit ihr reden. Um sich selbst und sie nicht in Gefahr zu bringen, postiert er sich jetzt an der Taborkirche. Hier hat er fast die ganze Straße im Blick. Systematisch tasten seine Augen die Gehsteige ab. Da sieht er sie. Mit Mehmet. Sie umarmen sich. Christoph knickt ein, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. Dann trennen sie sich. Mehmet kommt die Wrangelstraße entlang auf ihn zu, Isabel biegt ab. Als Christoph sich wieder gefasst hat, hetzt er die Straße entlang. Mehmet soll ihn nicht bemerken, also muss er die Straßenseite wechseln, sich in einem Hauseingang verstecken. Das kostet wertvolle Zeit, er verliert Isabel aus den Augen. Als er herauskommt, ist sie weg. Das kann sie gut. Sich unsichtbar machen.
Leise flucht Christoph vor sich hin. Geht zurück zu seinem Ausgangspunkt. Er muss nun überlegen. Was ist das mit Mehmet? Gibt es etwas, was er nicht weiß? Er spürt die Eifersucht, auch die Wut. Ihn hat sie stehen gelassen, im Waldhaus, um sich hier mit dem zu treffen? Ist da mehr, als er geahnt hat? Er weiß, dass Mehmet in Isabel verliebt ist. Er wird die Situation vielleicht ausnutzen, seine Chance ergreifen.
Wozu noch herumstehen? Sie ist weg, wird vielleicht wiederkommen, wenn es dunkel ist. Sich mit Mehmet treffen, nicht mit ihm. Noch eine SMS, er wird wieder keine Antwort bekommen. Er hat sich nie so allein gefühlt wie jetzt. Seine Freunde, seine Eltern – keiner kann ihm helfen.
Komm nach Hause, lass es, vergiss sie, du kannst nichts für sie tun. Er weiß, was sie ihm sagen werden. Das Schlimmste: Er denkt manchmal genauso. Er fühlt sich so ohnmächtig, so müde. Dabei würde er alles daransetzen, Isabel zu helfen, mit ihr zusammen zu sein. So wie sie es waren.
Ein warmes Gefühl zieht durch seinen Körper. Und jetzt, gerade jetzt, ist er ganz sicher, dass da nichts ist mit Mehmet. Isabel liebt nur ihn. Das hat sie ihm gesagt, das hat sie so gemeint. Sie werden eine gemeinsame Zukunft haben, er wird sie wieder lachen sehen. Dafür tut er alles. Wirklich alles.
Er sieht Tatjana aus dem Hoftor kommen. Sie geht die Straße entlang, vielleicht auf dem Weg zur Arbeit. Sie bemerkt ihn, ein kurzes Zögern in ihren Schritten, dann geht sie weiter. Er schließt sich ihr an, begleitet sie ungefragt.
»Geht es ihr gut?«, fragt Tatjana.
»Ich weiß es nicht.«
Ein überraschter Blick.
»Sie will Krögers Mörder suchen, glaube ich.«
Tatjana nickt. Das scheint sie nicht zu wundern.
»Sie ist vollkommen davon überzeugt, dass alle sie für die Täterin halten.«
Wieder nickt Tatjana. Geht einfach weiter. Christoph folgt ihr.
»Aber ihr hattet doch alle ein Motiv, oder? Er hat jeden von euch schlecht behandelt.«
Schweigen. Christoph bohrt nach.
»Dich doch auch.«
»Nicht wie Isabel.«
Er stutzt. Was meint sie damit? Tatjana will weitergehen, aber Christoph hält sie am Arm fest, sieht sie an. Sie weicht seinem Blick aus.
»Was heißt das?«
Schweigen.
»Du hattest doch auch einen Grund, ihm den Tod zu wünschen. Isabel hat mir erzählt, dass Kröger dich angemacht hat.«
»Nur am Anfang. Aber das hat aufgehört.«
Schweigen.
»Warum?«
Schweigen.
»Eugenia?«
Tatjana schüttelt den Kopf.
Christoph ahnt die Wahrheit. Will sie nicht wissen. Er lässt Tatjana los, will weglaufen. Jetzt hält sie ihn fest.
»Sie wollte nicht. Aber sie hatte keine Chance. Er hätte sie sonst verraten.«
Er mag es nicht mehr hören. Er wäre am liebsten tot.
Er rennt durch die Straßen. Weiß nicht, warum. Weiß nicht, wohin.
Warum hat er nichts bemerkt? Seit wann ging das so?
Klar hat Kröger sie gezwungen, das Schwein. Aber warum hat sie sich ihm nicht anvertraut, warum hat sie nicht mit ihm geredet? Er hätte Kröger drankriegen können.
Er kommt sich so dumm vor. Er hatte keine Ahnung. Offenbar wussten alle, dass Kröger seine Freundin zum Sex gezwungen hat, nur er war der ahnungslose, liebe Junge.
Immer und immer wieder: Warum hat sie nichts gesagt, verflucht noch mal!
Christoph bleibt stehen. Völlig neue Gedanken schießen ihm durch den Kopf. Isabel hatte ein starkes Motiv, Kröger zu töten. Er hat sie vergewaltigt, gequält, genötigt, gepeinigt … Er mag sich gar nicht vorstellen, was alles passiert ist, sie war vollkommen in seiner Hand.
Hat sie ihn erschlagen? Verprügelt und die Treppe hinuntergestoßen? Ist Isabel eine Mörderin?
Verstehen könnte er es …
Dann wäre auch klar, warum sie aus dem Waldhaus abgehauen ist. Nein, sie möchte gar nicht den Mörder suchen, sie weiß ja, wer es war. Sie ist auf der Flucht. Vielleicht will sie ihre Mutter da nicht mit reinziehen, oder ihn … Quatsch, um ihn geht es ihr doch am allerwenigsten. Sie hat ihm nicht die Wahrheit gesagt, was Kröger ihr angetan hat, sie hat ihm vielleicht auch nicht die Wahrheit gesagt, was seinen Tod betraf.
In den letzten Tagen hatte sich immer mal wieder für Hundertstelsekunden der Gedanke eingeschlichen: Was wäre, wenn sie es getan hätte?
Doch er hatte ihn immer sogleich vertrieben. Nein, Isabel war es nicht gewesen. Nein, sie hatte mit Krögers Tod nichts zu tun.
Natürlich bedauerte sie den Tod des Hausmeisters nicht. Aber sie war keine Mörderin. Bestimmt nicht.
Und wenn doch? Und wenn doch? Und wenn doch? Es hämmert in seinem Kopf.
Er lehnt sich an eine Mauer, schließt die Augen, atmet tief durch.
Ich verdächtige sie und ich liebe sie, denkt er.