11. Kapitel

Ich kannte mich aus in Berlin und wusste doch so wenig. Denn ich habe es gesehen und doch nicht gesehen. Es ist nicht Iran oder Irak, es ist nicht Burkina Faso oder Äthiopien, es ist nicht Chile oder Haiti, es ist einfach Luftlinie ein paar Kilometer von unserer Wohnung. Eine andere Welt. Sich in Kreuzberg mit der Clique die Nächte um die Ohren schlagen, das war mal ganz lustig oder spannend. Aber hinter die Fassaden haben wir nie geschaut. Schon gar nicht in die Hinterhöfe und Souterrain-Wohnungen, in denen Menschen wie Eugenia und Isabel lebten.

 

Ein altes Haus mit bröckelndem Putz.

Eine Haustür, die man nicht oder nicht mehr gut verschließen kann. Warum auch? Hier gab es nicht viel zu stehlen.

Ein Lichtschalter, den man nicht berühren sollte, weil die Leitung offen lag, weil man sich einen Stromschlag holen konnte. Mäuse, die schnell weghuschten, wenn doch einmal jemand Licht machen sollte. Der kalte, unebene Steinfußboden, die ausgetretenen Holztreppen mit dem wackligen Geländer.

Die Briefkästen weitgehend ohne Namen, manche verbeult oder aufgebrochen. Einige voller Werbematerial, andere zugeklebt, sodass keiner mehr etwas hineinwerfen konnte.

Ein Fahrrad an der Wand, das niemand mitnehmen würde, so alt war es. Auch der Kinderwagen ein Modell, das längst nicht mehr geläufig war.

Gerüche, bekannte und unbekannte. Gewürze wie Knoblauch und Kreuzkümmel, aber auch Staub, der mich niesen ließ. Dann beißender Uringeruch. Ich atmete flacher.

Kindergeschrei von oben.

Erwachsene, die sich anbrüllten.

Musik, die ich niemals freiwillig hören würde. Hier Schlager, dort orientalische Klänge.

 

Als ich das erste Mal hier gewesen war, da hatte ich das alles nicht so wahrgenommen. Damals wollte ich mehr über Isabel erfahren, über ihre Familie. Die Lebensumstände waren zweitrangig.

Ich war nicht oft in diesem Haus, aber bei den nächsten Besuchen fielen mir immer andere und neue Dinge auf. Immer mehr wurde mir bewusst, dass dies eine fremde Welt war. Ich habe sie gesehen und doch nicht gesehen.

 

»Komm doch mit«, hatte Eugenia gesagt, als ein Fest bei der Familie von Esra und Mehmet stattfand. Isabel sah nicht so aus, als wollte sie mich wirklich dabei haben. Aber ich hoffte auf eine Gelegenheit, ihre Welt besser kennenzulernen, sie zu verstehen, so sehr Teil ihres Lebens zu werden, wie sie inzwischen Teil meines Lebens geworden war.

Esra war so alt wie Isabel. Ihre halblangen Haare waren schwarz, ihre dunklen Augen waren anders dunkel als die von Isabel, sie war größer und kräftiger als meine Freundin, ein 16-jähriges Mädchen, das gerne lachte. In ihrer Gegenwart erlebte ich selbst Isabel heiterer und lockerer. Esras Lachen und ihre Sorglosigkeit wirkten ansteckend, auch auf mich, der ich inzwischen von Isabel die Eigenart übernommen hatte, immer und überall Schwierigkeiten zu vermuten und in jedem Menschen einen möglichen Verräter zu sehen. Das türkische Mädchen nahm das Leben leichter als Isabel, das tat gut.

Bei dem Fest ihrer Familie sah ich, wie Isabel mit Esra Bauchtanz übte, wie sie sich lachend in den Armen lagen. Ich bemerkte aber auch, wie der zwei Jahre ältere Mehmet meine Freundin ansah. Eifersucht stieg in mir hoch. Entsprechend versuchte ich, meine Position klarzumachen.

»Komm, wir tanzen auch«, sagte ich zu Isabel, als sie sich nach dem Bauchtanz setzen wollte.

Isabel schüttelte den Kopf. »Ich muss mich erst ein bisschen ausruhen.«

»Ich will aber tanzen!«

Nie zuvor hatte ich mich so fordernd verhalten. Ich kehrte den Macho raus, weil ich in Mehmet Konkurrenz vermutete.

»Ich tanze mit dir«, sagte Esra, nahm mich bei der Hand und zog mich auf die kleine freie Fläche in der Mitte des Zimmers. Ihre Eltern und Eugenia sowie ein paar weitere Hausbewohner saßen am Tisch, der voll war mit dem, was Mehmets Mutter aufgetragen hatte.

Eher widerstrebend tanzte ich mit Esra, ich wollte nicht ablehnen, es hätte sie gekränkt, vielleicht auch unsere Gastgeber beleidigt. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich in so einer Situation verhielt.

Esra verwickelte mich in ein Gespräch, erzählte mir, dass sie gerne Einzelhandelskauffrau werden wollte, dass Isabel ihr half, die Bewerbungen zu schreiben, dass sie fast schon eine Stelle in Aussicht hatte, bei einem Import-Export-Händler, aber ehrlich gesagt wollte sie lieber woandershin, der Mann hatte sie angesehen, als ob er in ihr schon seine künftige Ehefrau vermutete, das war nun nicht ganz das, was sie sich für ihr Leben wünschte.

Esra lachte laut, und ich sah verunsichert auf ihre Eltern, ob es denn in Ordnung war, mit ihrer Tochter zu tanzen. Durfte ich den Arm um sie legen? Sie an mich ziehen bei jeder Drehung? Eigentlich wusste ich gar nichts über diese Menschen, ob sie streng oder liberal waren, ob ich nun etwas richtig oder falsch machte. Noch nie war ich bei einer türkischen Familie zu Gast gewesen.

Als ich meinen Blick Isabel zuwandte, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Mehmet stand vor ihr, nahm ihre Hand. Sie stand auf, ging auf die winzige Tanzfläche, die mit Esra und mir eigentlich schon voll genug war, und sie tanzte mit ihm. Ich sah den triumphierenden Blick meines Widersachers, das scheue Lächeln meiner Freundin. Ich fühlte Wut, ich, der nette, beherrschte, immer lockere, immer coole Christoph. Gerne hätte ich mich mit Mehmet geprügelt. Aber es war lächerlich, sagte mein Kopf. Unhöflich auch, schließlich war ich hier zu Gast. Und außerdem hätte ich sowieso verloren, er war stark, sportlich, durchtrainiert und größer als ich.

Also brachte ich wohl oder übel den Tanz mit Esra zu Ende und setzte mich dann mit ihr, ließ mir von ihrem Vater etwas Raki einschenken und merkte, dass hier eigentlich niemand wirklich etwas mit mir anfangen konnte. Ich war ein Fremder in ihrer Welt und ich verhielt mich auch so. Isabel wusste schon, warum sie mich bei solchen Gelegenheiten nicht dabeihaben wollte.

 

Ich sah mir die anderen Gäste an, Isabel hatte mir ein bisschen etwas über sie erzählt, weil ich nicht aufhörte zu fragen. Die Familie von Mehmet und Esra war in der dritten Generation in Deutschland, alle konnten gut Deutsch, sprachen aber zu Hause Türkisch, galten als assimiliert. Doch der Vater verdiente nicht genug, um eine andere Wohnung zu finanzieren. Seine Frau hatte ein Problem mit den Bandscheiben und deshalb aufgehört zu putzen, Mehmet war in der Ausbildung und Esra bald mit der Schule fertig.

»Wir sind mehr arm als türkisch«, sagte Mehmets Vater und lachte.

Mehmet lachte nicht. Er werde, wenn er mit der Ausbildung zum Mechatroniker fertig sei, sein eigenes Geschäft aufmachen, alle könnten dort arbeiten, Esra und die Mutter im Büro, er würde reparieren und sein Vater verkaufen. Dann würden sie auch alle zusammen in ein schöneres Haus ziehen. Der Familienbetrieb sei das beste Erfolgsmodell, nur die Deutschen hätten das nicht kapiert, weil ihnen Familie nicht wichtig sei.

»Mein Sohn will mehr türkisch als arm sein«, sagte Mehmets Vater nun und lachte wieder.

 

Adamu lachte auch, seine weißen Zähne blitzten, seine Augen funkelten. Ja, es klingt wie Klischee, aber genau so sah das aus, wenn der dunkle Mann aus Uganda, der oft so schweigsam war, aus sich herausging, wenn er sprach oder auch sang, wenn er für einen Moment vergessen konnte, dass er in diesem Land als Asylbewerber abgelehnt worden war, dass er untertauchen musste, wenn er nicht abgeschoben werden wollte in eine Heimat, die schon längst nicht mehr seine Heimat war.

Adamu erzählte nicht viel über die Zeit, bevor er nach Deutschland gekommen war. Isabel sagte mir irgendwann, dass er Kindersoldat gewesen war, dass er viel Schlimmes erlebt hatte, vielleicht auch selbst Menschen auf dem Gewissen hatte. Er war geflohen, hatte sich durchgeschlagen, war endlich im Land seiner Hoffnung angekommen, doch sie glaubten ihm nicht. Wie ließ sich beweisen, dass er schon als Kind gezwungen worden war, in einem fatalen Bürgerkrieg auf andere Menschen zu schießen? Warum waren die Zeichen von Folter an seinem Körper, die Brandnarben von Zigaretten an seinen Armen nicht Beweis genug dafür, dass er in seiner Heimat einer großen Gefahr ausgesetzt war?

»Wir sind zu viele, die hier leben möchten«, sagte Adamu. »Und ihr wollt, dass euer Land so bleibt, wie es ist.«

 

Von mir ließ sich Isabel nicht helfen, aber Adamu hatte ihr den Job als Küchenhilfe in der Bergmannstraße besorgt, und er achtete auch darauf, dass sie dort in der Küche gut behandelt wurde. Der Restaurantbesitzer hatte Isabel mit zwei Euro die Stunde abspeisen wollen, aber Adamu hatte nur den Kopf geschüttelt.

»Das Doppelte.«

»Du willst mich ruinieren.«

»Armer deutscher Mann.«

»Noch ein dummes Wort und du fliegst raus.«

Adamu hatte den Mund gehalten, war mit dem Zeigefinger über die Narben an seinem Unterarm gefahren und hatte dann weitergearbeitet.

So hatte Isabel es mir erzählt. Für sie war Adamu ein Held.

 

Nachdem sie und Mehmet aufgehört hatten zu tanzen, dachte ich, meine Zeit wäre gekommen. Aber Isabel ging auf Adamu zu, zog ihn an der Hand hoch, und wir staunten darüber, wie elegant und cool es aussah, wenn dieser große, kräftige Mann tanzte. Isabel versuchte, einige seiner Bewegungen nachzuahmen, aber es gelang ihr nicht ganz. Sie lachte, Adamu zeigte ihr, wie man in seinem Land tanzte, er begann zu singen, er nahm ein Holzbrettchen vom Tisch und schlug mit einem Messer dagegen. Für diese wenigen Minuten war Adamu Musiker. Nicht Soldat, nicht Geschirrspüler. Aber im Land seiner Träume war für seine Träume kein Platz.

 

Wer nicht legal in Deutschland lebt, kann auch nicht legal arbeiten. Das hatte ich inzwischen gelernt. Er ist nicht krankenversichert, er bekommt keine Sozialleistungen, kein Arbeitslosengeld, nichts. Er kann auch nicht betteln oder Musik machen, denn wer das tut, fällt der Polizei auf und kommt in Abschiebehaft. Er sollte nicht zu oft seine Sprache auf offener Straße sprechen und er sollte möglichst deutsch und assimiliert aussehen.

Wer nicht legal in Deutschland lebt, hat keine Rechte. Wenn der Restaurantbesitzer Isabel oder Adamu kein Geld gab, konnten sie es nicht einklagen, ihn nicht anzeigen, sich nirgends beschweren.

»In Afrika war ich verfolgter Mensch, hier bin ich geduldeter Sklave«, sagte Adamu. Aber er blieb. Denn einmal aus der Heimat geflohen, war eine Rückkehr fast unmöglich.

 

Tatjana war neu in der Runde bei Mehmets Eltern. Sie hatte Blinis mitgebracht, tauschte mit Mehmets Mutter Rezepte, erzählte von der Weihnachtsbäckerei ihrer Oma. Sie kam aus Georgien, war noch keine Illegale, aber sie stand kurz davor. Sie hatte eine Stelle als Au-pair-Mädchen bei einer Berliner Familie, aber die Zeit war bald zu Ende. Tatjana war klug genug, sich vorher eine neue Wohnung zu suchen, da jetzt mit der Aufenthaltsgenehmigung noch alles in Ordnung war. Auch war sie bereits auf der Suche nach einem neuen Job.

»Und nach einem deutschen Mann«, sagte sie völlig offen. »Wenn ihr einen netten kennt, der zu haben ist – bitte Bescheid sagen. Ich will hierbleiben.« Alle Gäste des Festes versprachen, sich nach einem ordentlichen deutschen Mann für Tatjana umzusehen. Sie zwinkerte mir zu.

»Ich weiß, du bist vergeben. Aber vielleicht hast du einen größeren Bruder oder Cousin?«

»Wie wär’s mit Ben?«, fragte mich Isabel im Scherz.

»Dann eher Bens Vater«, antwortete ich. »Den hat gerade seine Frau verlassen.«

»Ich bin eine gute Trösterin«, versprach Tatjana. »Aber nur, wenn er mich heiratet.«

Alle lachten und doch wussten wir, dass es nicht nur lustig gemeint war. Es ging ums Überleben, um die Legalität.

 

Viele hielten sich bedeckt, rückten mit ihrer Geschichte nicht so schnell heraus. Wenig erfuhr ich zum Beispiel von der Familie aus dem Irak, die nur kurze Zeit im Haus blieb und dann weiterzog. Oder von dem Schicksal der Familie aus dem Kosovo, die während des Krieges gekommen war, sich in Deutschland wohlfühlte. Nun sollte ein Teil der Familie wieder nach Hause.

»Wo ist ›nach Hause‹?«, sagte Isabel, nachdem sie mir einige Geschichten über die anderen Menschen in der Wrangelstraße erzählt hatte. »Ihre Häuser stehen nicht mehr, ihre Dörfer sind zerstört, ihre Verwandten tot oder in alle Winde verstreut, ihre Kinder gehen hier zur Schule wie ich … ihr Zuhause ist hier, genau wie meines.«

 

Bei dem Fest gab es dazu viele Meinungen.

»Ich will hier zu Hause sein«, sagte Adamu.

»Ich bleibe auf alle Fälle«, meinte Tatjana.

»Ich bin Deutscher und Türke«, behauptete Mehmet.

»Ich liebe meine Heimat, aber ich möchte nicht zurück«, sagte Eugenia, und in dem Moment spürte ich ihre Zerrissenheit.

»Was vermisst du besonders?«

»Meine Eltern, meine Geschwister …«

»Aber du telefonierst mit ihnen, du schickst ihnen Geld!«

»Ich will sie umarmen, küssen, mit ihnen lachen und tanzen, mit ihnen weinen und alles erzählen, was uns bewegt.«

Adamu nickte zu ihren Worten. Einen Moment schwiegen wir.

»Deutschland ist manchmal kalt«, sagte sie leise. »Und die Menschen sind sehr ernst.«

»Das bist du auch.«

»Früher war das anders.«

 

Eugenia verließ das Fest etwas früher, sie war müde. Isabel erzählte, warum ihre Mutter so bedrückt war. Eine Freundin von ihr war geschnappt worden, in der Nähe des Ostbahnhofs. Ein Mann hatte sie angepöbelt, weil sie ›so südländisch aussehe‹. Die Polizei war ihr eigentlich zu Hilfe geeilt, hatte sie vor dem Betrunkenen beschützt, wollte dann aber doch einen Ausweis sehen. Sie hatte keinen.

»Je mehr ich lese und höre, desto wütender werde ich«, sagte ich.

Adamu nickte, das Gefühl kannte er offenbar. Aber Isabel blockte sofort ab.

»Das ist mein Leben, ich habe kein anderes, ich bekomme kein anderes«, gab sie zurück. »Auch nicht, wenn wir andauernd jammern, wie schlimm es hier ist. Wir bleiben, weil es uns in Kolumbien noch schlechter gehen würde. Also müssen wir die Spielregeln akzeptieren.«

Ich mochte diese Resignation nicht an ihr. Ich wollte kämpfen. Sie musterte mich mit einem spöttischen Lächeln.

»Erzähl du mir nicht, wie kämpfen geht. Ich kämpfe in Deutschland ums Überleben, seit ich hier bin. Jetzt bin ich siebzehn Jahre alt und müde wie eine alte Schildkröte.«

Esra kicherte über den Vergleich, dann machte sie eine Schildkröte nach. Die Ernsthaftigkeit verflog und wir waren wieder Gäste auf einem lustigen Fest.

 

Irgendwann tauchte Horst auf. Mit einer Flasche Bier in der rechten Hand. Den linken Arm legte er gleich um mich. Schließlich war ich der einzige Gast, der die Lebensgeschichte des früheren Lkw-Fahrers noch nicht kannte. »Eine Flasche Bier zu viel. Erwischt. Führerschein weg. Job weg. Kein Geld. Dann Wohnung weg, Frau weg. Jetzt bin ich hier.«

Er meinte seine Bude in der Wrangelstraße.

Unwillkürlich sah ich auf die Bierflasche, die Horst in der Hand hielt, sicher nicht sein erstes Bier an diesem Tag. Horst bemerkte den Blick und grinste.

»Mein einziger Freund, alle anderen sind fort.«

»Wir sind deine Freunde«, sagte Adamu, aber Horst reagierte nicht darauf. Er zog mich in eine Ecke, wo er glaubte, die anderen würden uns nicht zuhören.

»Mensch, Junge, du gehörst doch gar nicht hierher«, hauchte er mir zu, und ich hielt die Luft an, weil ich seinen Atem kaum ertragen konnte.

Ich wollte vehement widersprechen, aber er lachte nur.

»Ja ja, ich weiß, die Liebe. Ich sag dir: Nimm sie mit, deine Liebe. Die Mutter vielleicht noch dazu. Aber alle anderen …«

Er machte eine abfällige Handbewegung.

»Du kannst die Welt nicht retten. Nett, dass du es versuchst. Aber lass die Träume, werde endlich erwachsen.«

 

Dann holte er Musik, wie er sie mochte, nötigte Mehmets Eltern, deutsche Schlager aufzulegen, und drehte die Anlage auf.

»Ich hab die Liebe gesehen, beim ersten Blick in deine Augen …«

 

Kröger stand so plötzlich in der Tür, dass wir alle erschraken. Mehmet schaltete die Musik aus, alle blieben erstarrt auf ihrem Platz sitzen oder stehen. Es war totenstill.

»Wenn hier nicht sofort Ruhe ist …«, sagte er nur.

Mit Krögers Auftauchen war die Party beendet. Alle hatten sie Angst vor ihm, vor seinen Wutanfällen, vor seinen Drohungen und Beschimpfungen.

Isabel half noch schnell aufräumen, Horst zog mich aus der Wohnung, er selbst lebte gegenüber, auf derselben Etage.

»Junge, nimm dich in Acht vor Kröger. Besser, du tauchst nicht zu oft hier auf«, flüsterte er mir ins Ohr, während ich die Luft anhielt.

 

Die Warnung vor Kröger hörte ich von allen Seiten. Ich sah den Hausverwalter selten, und wenn wir uns mal im Hof oder im Flur über den Weg liefen, dann ignorierte er mich. Meist trug er Schlappen, bis weit in den Herbst hinein eine kurze Hose, ein Nylonhemd umspannte seinen Bauch, und da er stark schwitzte, war es nicht sehr angenehm, nahe an ihm vorbeizugehen. Fast immer hatte er einen Zigarillo im Mundwinkel und diese Mischung aus Schweiß und Tabak zog sich durchs Haus wie eine stille Drohung.

Selten sah man ihn mit Werkzeug, erzählte mir Adamu. Meistens trug er nur sein Messer im Gürtel.

 

Kröger wohnte mit seiner Frau im zweiten Stock. Laute Menschen, die deutlich machten, dass sie hier das Sagen hatten.

»Der könnte auch ein Lager leiten«, sagte Tatjana.

»Er ist der Hausmeister und Verwalter, aber alle anderen arbeiten, außer ihm«, erzählte Horst, als er mich das nächste Mal traf. »Mehmet macht das Elektrische im Haus, soweit man das noch reparieren kann, Adamu muss für Kröger Holz hochschleppen, Tatjana putzt die Treppe, dafür hat sie die Wohnung bekommen und nicht die zwei Dutzend anderer Bewerber. Ich gehe für ihn Bier kaufen, dabei kann ich meins ja kaum noch tragen.«

Horst nahm einen kräftigen Schluck.

»Bin ich froh, dass er Eugenia und Isabel verschont«, sagte ich.

Natürlich bemerkte ich Horsts seltsamen Blick, aber ich schob es auf das Bier. Manchmal verschwammen seine blauen Augen einfach vor lauter Alkohol.

»Junge, du gehörst hier nicht her«, brummte er wieder einmal und trank seine Flasche leer.

Das war kurz bevor der Hausmeister starb.

 

Isabel sprach nie über Kröger. Sie blendete ihn offenbar aus. Eugenia aber erzählte mir, dass er ihnen damals sehr geholfen hatte, als sie aus der alten Wohnung wegmussten, weil ein Nachbar gedroht hatte, die Polizei einzuschalten.

»Er hat uns sofort die Wohnung im Erdgeschoss gegeben«, sagte sie.

»Es ist eine Abstellkammer«, korrigierte ich.

»Es ist besser als nichts.«

Sie sah mir an, dass ich anders darüber dachte.

»Wir konnten nicht auf der Straße bleiben, nicht eine Nacht, denn die erste Polizeistreife wäre auf uns aufmerksam geworden.«

»Trotzdem: Dass er für diese Kammer auch noch Geld nimmt …«

»Wir haben schon schlechter gewohnt.«

Das konnte ich mir kaum vorstellen.

 

Tatjana schilderte mir einmal, was sie über Kröger und seine Funktion in dem Haus aufgeschnappt hatte.

Ein Geschäftsmann aus Frankfurt hatte dieses Haus überraschend von einem alten Onkel geerbt. Er hatte überhaupt keine Lust, sich darum zu kümmern, geschweige denn zu renovieren oder zu sanieren. Kröger bot ihm damals an, die Verwaltung zu übernehmen. Und möglichst viel Geld aus der Bruchbude herauszuholen.

Dafür ließ ihm der Besitzer freie Hand. Dass Kröger auch ein bisschen in die eigene Tasche wirtschaftete, konnte der Erbe sich denken, meinte Tatjana.

»Aber er macht die Drecksarbeit für den Besitzer und wir machen die Drecksarbeit für ihn«, sagte sie und wischte weiter die Treppe.