1. Kapitel

Ein Geräusch. Vielleicht gehört es zum Traum. Christoph öffnet die Augen, stöhnt leise auf und schlägt mit einer Hand nach dem Wecker. Scheppern und Klirren, aber das Geräusch ist noch da. Ein Brummen, viel zu laut für die Stille der Nacht. Da ist ein blinkender Fleck auf dem Boden, sein Handy! Welcher Idiot ruft jetzt an, mitten in der Nacht?

 

»Ja?«

»Du musst kommen.«

»Isabel?«

»Kröger ist tot.«

Drei Worte, voller Angst und Panik.

 

Christoph fragt und fragt, aber er bekommt keine Antwort mehr. Das Gespräch ist zu Ende.

Was ist passiert? Warum hat Isabel aufgelegt?

Er ruft sie an. Nur Mailbox. Er spricht drauf.

»Melde dich. (…) Okay, ich bin gleich da.«

Noch nie hat sie ihn so dringlich um etwas gebeten.

Ihm ist klar, dass es um alles oder nichts geht. Sonst hätte sie nicht angerufen, um zwei Uhr früh.

Christoph schlüpft in Hose und Shirt, nimmt Handy und Geldbörse.

Noch ein Versuch, Isabel zu erreichen. Wieder Mailbox.

Barfuß schleicht er die Treppe hinunter. Nimmt den zweiten Helm mit.

Er schiebt seinen Roller ein Stück die Winterfeldtstraße entlang, weg von dem Haus, in dem er mit seinen Eltern wohnt. Mom hat einen leichten Schlaf. Und sie kann seinen Roller am Knattern erkennen. Jetzt bloß keine Fragen.

 

Unterwegs überlegt er fieberhaft.

Der Hausmeister ist tot. Was heißt das?

Ein Unfall? Eine Schlägerei? Ein Sturz?

Eigentlich ist es egal. Denn auf jeden Fall muss Isabel sofort weg. Sie und ihre Mutter. Aber wohin?

Christoph spürt seine eigene Unruhe. Er fährt zu schnell. Er zuckt zusammen, als er einen Streifenwagen sieht. Er muss vorsichtig sein.

 

Er stellt den Roller vor dem Haus in der Wrangelstraße ab und geht zu Fuß in den Hinterhof. Auch hier ist alles still. Nur keinen Lärm machen, keiner soll auf ihn aufmerksam werden.

Isabel und ihre Mutter kommen gerade aus dem Haus, Isabel trägt eine kleine Reisetasche, Eugenia zwei Plastiktüten. Christoph steigt ab, geht auf Isabel zu.

»Was ist passiert?«

Eugenia legt den Finger auf den Mund, sieht mahnend zum Haus. Alle Fenster sind dunkel. Noch.

»Er liegt im Keller.«

Isabel kann kaum sprechen: »Er war schon tot.«

Christoph will sie in den Arm nehmen, wärmen, trösten, beruhigen. Aber sie drückt sich an ihre Mutter.

Eugenia redet beschwichtigend auf sie ein. Auf Spanisch, kolumbianisches Spanisch. Für Christoph klingt es warm und melodiös.

»Was ist mit der Polizei?«

»Noch hat ihn keiner gefunden – außer uns«, sagt Eugenia mit leicht fremdländischem Akzent. »Wir müssen sofort weg.«

»Wohin?« Isabel klingt verzweifelt.

»Ich habe eine Idee.«

Er wird mit Isabel losfahren. Eugenia soll möglichst unauffällig im Schutz der Dunkelheit die Stadt verlassen, mit der S-Bahn oder dem Bus. Er wird sie in Köpenick holen, Treffpunkt ist die Brücke am Schloss. In drei Stunden. Jetzt geht sie zurück in die Wohnung, sie will noch einige Sachen packen.

 

Isabel fragt nicht einmal, wohin er sie bringt. Sie vertraut ihm völlig.

Es könnte ihn glücklich machen. Unter anderen Umständen.

 

Die Schlesische Straße stadtauswärts. Jedes Mal, wenn sie an einer Ampel stehen bleiben, erzählt Isabel ihm einen Teil der Geschichte.

Der Hausmeister, der zugleich auch das schäbige Anwesen verwaltete, hatte besoffen an ihre Türe geklopft. Gegen zehn Uhr abends.

Sie machten nicht auf. Taten so, als wären sie nicht da.

Kröger drohte mit der Polizei.

Er tobte, donnerte gegen die Tür.

Stimmen von oben, er solle die Klappe halten.

Er brüllte zurück.

Irgendwann war es still.

Sie wussten nicht: Lauerte er noch vor der Tür? Holte er sich nur etwas zu trinken und kam zurück? Oder war für heute Ruhe?

Es blieb still. Um halb zwei Uhr nachts wachte Isabel auf.

Hatte sie nicht gerade einen Schrei gehört?

Es war nicht draußen auf der Straße, es war hier im Haus.

Sie lauschte. Im Flur war es still. Sie machte die Tür auf, sah hinaus.

Nichts. Dunkelheit und Schweigen.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Traute sich kaum aus der Wohnung. Aber dann schlich sie doch leise die Treppe hinauf bis zum vierten Stock.

Nichts.

Sie ging in den Keller.

Leise. In der Dunkelheit.

Sie sah das Bündel unten am Ende der Treppe.

Schaltete ihre Taschenlampe an.

Da lag er.

Eine große Platzwunde an der Stirn, auch Nase und Mund blutig.

Das Gesicht zerschlagen, der Kopf in einer Lache Blut.

Der Nacken seltsam verrenkt.

Die Augen offen, starr.

Ein bisschen verwundert sein Blick.

Als könnte er es selbst nicht glauben, was ihm da zugestoßen war.

Isabel hatte noch nie einen toten Menschen gesehen.

Dennoch war sie sicher: Kröger ist tot.

Vielleicht im Suff die Treppe hinuntergefallen.

Vielleicht eine heftige Auseinandersetzung.

Vielleicht aber hat ihn auch jemand umgebracht.

Es gibt genug Menschen, die Kröger hassen. Sie, Isabel, ist eine davon.

Sie muss weg, so schnell wie möglich.

 

Sie fahren ewig durch die Nacht, vorbei am Köpenicker Schloss, immer weiter hinaus aus der Stadt nach Osten, Richtung Erkner. Die Straßen sind jetzt leer, es hat leicht zu nieseln angefangen, ein nasser, kühler Oktober.

Sie frieren beide. Christoph spürt, wie Isabel zittert. Irgendwann schlingt sie die Arme um seinen Körper und kuschelt sich an ihn.

 

Er fährt zu schnell und weiß, er sollte es nicht tun. Er muss sehr vorsichtig sein. Ihr zuliebe. Es geht um viel. Eigentlich um alles.

Sie dürfen nicht auffallen.

Eine Polizeikontrolle wäre das Ende.

Isabel würde abgeschoben. Sie hat keine Papiere.

 

Er biegt ab auf einen Feldweg, hofft selbst, dass es der richtige ist. Er war lange nicht mehr in dieser Gegend. Aber es kann nicht mehr weit sein. Er hofft inständig, dass er das Ziel auf Anhieb findet.

 

»Wo sind wir hier?«, fragt Isabel, als sie vom Roller absteigen.

Wald um sie herum, das Plätschern verrät, dass sie in der Nähe eines Sees oder Flusses sind.

»Freunde meiner Eltern haben hier ein kleines Wochenendhaus«, antwortet Christoph nur und sucht in der Regenrinne des Häuschens nach dem Schlüssel. Da war er immer – da ist er auch jetzt.

Erleichtert atmet er auf. Keine Ahnung, ob er die Tür anders aufbekommen hätte, auch wenn es nur ein einfaches Schloss ist.

»Bist du sicher, dass sie nicht kommen?«

»Sie sind auf den Kanaren. Hat mir meine Mutter erzählt.«

Er grinst schief und streicht nervös eine Strähne zurück, die ihm ständig in die Stirn fällt.

»Hier seid ihr erst mal sicher.«

Isabel nickt. Sie folgt ihm ins Haus.

Tisch, Stühle, Schrank, Kochzeile, Holzofen. Klein, gemütlich, gepflegt.

»Die Betten sind oben«, sagt Christoph.

»Warst du schon öfter hier?«

Er nickt: »Als ich noch kleiner war, haben wir die Reichardts manchmal am Wochenende besucht. Sie haben einen Sohn, ein bisschen älter als ich. Ein ziemlicher Idiot.«

Erinnerungen kommen in ihm hoch. An diesen Julian, der ihm drohte. Ihn schlug, ihn schikanierte. Er mag dieses Haus nicht. Aber jetzt ist es gerade richtig. Wenigstens fast.

»Wir können leider nicht heizen, sonst sieht man den Rauch.«

Isabel zittert immer noch. Er nimmt sie in den Arm.

»Holst du Mama?«

Christoph nickt. Falscher Zeitpunkt für Romantik.

 

Eugenia wartet in Köpenick am Ende der Langen Brücke, gleich beim Schloss. Sie steht so, dass man sie aus einem vorbeifahrenden Auto nicht sofort sehen kann. Fußgänger sind um diese Zeit ohnehin nicht unterwegs. Unauffällig sein, das hat sie gelernt. Christoph braucht eine Weile, bis er sie entdeckt.

»Alles okay?«, fragt er besorgt.

»Der Nachtbus war fast leer. Und hier hat auch niemand auf mich geachtet.«

Christoph nimmt ihre Tasche, sieht sie fragend an.

»Hast du nicht mehr Gepäck?«

»Ich dachte, so falle ich weniger auf, und die Sachen passen auch auf deinen Roller.«

Wer sich verstecken muss, wer auf der Flucht ist, der hat nicht viel dabei.

 

Als sie in das Wochenendhäuschen kommen, sitzt Isabel so auf dem Stuhl, wie Christoph sie zurückgelassen hat. Die Arme auf dem Tisch, der Kopf liegt darauf. Fast könnte man denken, sie schläft. Doch sie weint.

 

Eugenia inspiziert das Haus.

»Es ist einfach, aber gut. Doch wir dürfen nicht zu viele Spuren hinterlassen.«

»Jetzt seid ihr erst mal da, alles andere kommt später.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Nichts auspacken. Vielleicht müssen wir schnell weg – und dann sollen sie wenig finden, was auf uns hinweist.«

Ihr schönes Deutsch, der leichte Akzent. Isabel hat diesen Akzent nicht mehr. Ihr Deutsch ist das eines Menschen, der immer hier gelebt hat.

Fast immer. Wenn auch ohne Ausweis.

 

Gemeinsam machen sie einen Plan.

Eine Einkaufsliste. Fertigmahlzeiten, Obst, Gemüse, Brot, Käse. Nur kein Aufwand.

Zahnbürsten, Zahnpasta, Seife. Denn Eugenia hat in der Eile die Sachen aus dem Bad vergessen.

Bettzeug und Handtücher werden sie von ihren unfreiwilligen Gastgebern ausleihen. Ebenso das Geschirr.

Ansonsten: stillhalten. In der Gegend gibt es mehrere Wochenendhäuschen, über den See schippert auch hier und da mal ein Boot. Alle kennen die Reichardts, sie sind seit fast zwanzig Jahren hier. Man sieht Eugenia und Isabel schnell an, dass sie nicht zum Freundeskreis des Unternehmers gehören. Ihre Kleidung, ihre Haltung, ihr Benehmen – sie sind zu unscheinbar, zu wenig selbstbewusst. Die Gäste hier sind lauter, sie bewegen sich selbstverständlicher. Als ob die Welt ihnen gehört.

 

Eugenia durchstöbert den Schrank. Sie tut es nicht gern, das sieht man. Aber auch ihr ist kalt. Ein warmer Wollpullover für Isabel, einer für sie selbst.

Christoph legt den Arm um Isabel. Wärmt sie. Endlich legt sie ihren Kopf auf seine Schulter. Er flüstert ihr beruhigende Worte zu, streicht ihr über die dunklen Locken. Sie starrt mit großen Augen vor sich hin.

»Ich will hier nicht weg.«

Hier, das meint Deutschland. Er weiß es.

»Ihr müsst nicht weg, versprochen.«

»Das kannst du mir gar nicht versprechen, denn du entscheidest das nicht.«

»Aber ich tue alles, damit euch niemand findet.«

Eugenia hat löslichen Kaffee entdeckt und holt nun drei Tassen aus dem Schrank.

»Ich war’s nicht«, sagt Isabel leise.

Christoph versteht erst gar nicht, was sie meint, der Gedanke, sie könnte Kröger getötet haben, ist für ihn völlig abwegig.

»Kröger war ein Ekel, okay. Widerlich, gemein, rücksichtslos, ein Machoarsch und ein Idiot. Aber du kannst doch nicht jeden Idioten gleich umbringen.«

Er meint es ironisch, er will sie aufmuntern, grinst selbst schief über seinen misslungenen Witz. Isabel lächelt nicht einmal, auch Eugenia bleibt ernst. Sie sieht ihre Tochter besorgt an, die weicht ihrem Blick aus.

Christoph sieht den Blick: »Stimmt was nicht?«

Isabel streicht ihm liebevoll übers Haar, küsst ihn.

Seine Frage ist vergessen.

 

»Ich bleibe bei euch«, sagt er, als Eugenia ihn fortschicken will.

»Du gehst zurück in dein Leben und tust so, als wäre alles in Ordnung«, widerspricht sie.

»Sonst sind sie uns gleich auf der Spur«, ergänzt Isabel.

Er muss auf die beiden hören. Sie sind Experten, was Verstecken, Verheimlichen, Verbergen angeht.

 

Christoph verabschiedet sich. Wie besprochen, fährt er nach Hause. Offenbar haben seine Eltern noch gar nicht mitgekriegt, dass er weg ist. Sonst hätten sie auf dem Handy angerufen. Wenn sie doch etwas gemerkt haben und ihn fragen, wird er sagen, dass er nicht schlafen konnte und ein bisschen herumgefahren ist.

Nur Isabel nicht erwähnen. Er muss verhindern, dass Isabels Verschwinden mit ihm in Verbindung gebracht wird. Denn dass sie weg ist, wird bald auffallen.

Frühstück mit den Eltern, die nichts ahnen. Dann zur Schule. Nachmittags soll er mit den Einkäufen hinausfahren ins Waldhaus.

Jetzt nichts falsch machen. So tun, als wäre alles ganz normal.

 

»Hey, Alter, alles klar?«

Christoph setzt sich zu Ben, schiebt ihm die Mathehausaufgaben rüber.

Ben grinst. Genug Dank für einen Kumpel.

Ben ist mit Abschreiben beschäftigt. Christoph ist froh, so merkt sein Freund nicht, wie sehr er durch den Wind ist.

Jetzt bloß nicht schlappmachen.

Sich nichts anmerken lassen.

Christoph sieht kurz zu Isabels Platz.

Er wird leer bleiben.

Wahrscheinlich für lange Zeit.

Vielleicht für immer.