»Kann ich mich wieder umdrehen?«
»Ja.«
Mehmet wendet sich um und sieht ihr dabei zu, wie sie an dem T-Shirt herumzupft, das er ihr mitgebracht hat. Er lächelt.
»Klar, Esra ist größer als du. Und dicker.«
»Ich hoffe, du sagst ihr das nicht.«
Mehmet grinst nur.
»Danke fürs Leihen. Ich bin froh, dass ich endlich mal was Frisches anziehen kann.«
»Tut mir leid, dass ich nicht in eure Wohnung rein bin. Aber ich dachte: Wenn die Polizei etwas merkt …«
»Bestimmt besser so.« Isabel lächelt ihn zaghaft an.
Sie haben sich für die Umkleideaktion ins Künstlerhaus Bethanien verdrückt. Oben im zweiten Stock, wo leer stehende Ateliers sind. Sie hatten sich im Park getroffen, aber dann hatte es angefangen zu regnen. Keiner hat bemerkt, dass sie die Treppen hinaufgegangen sind, keiner achtet hier auf sie. Sie setzen sich auf die Stufen. Hier können sie ungestört reden. Besser als in jedem Café, besser als auf der Straße. Mehmet hat etwas zu essen mitgebracht, auch zu trinken. Isabel schlingt in sich hinein. Sie hat Hunger. Und nur noch sehr wenig Geld. Die Handykarte ist fast leer, der Akku so gut wie alle.
Sie schickt noch schnell eine SMS an ihre Mutter. Dass es ihr gut geht, dass alles in Ordnung ist.
Eugenias Antwort wartet sie gar nicht ab. Sie schaltet das Handy aus und lächelt Mehmet an.
Ein Mann kommt die Treppe hoch, er geht an ihnen vorbei, betrachtet sie beide argwöhnisch. Isabel bemerkt den Blick, sie weiß, es ist Zeit, von hier zu verschwinden. Der Mann geht in eines der Ateliers, doch schon wenige Minuten später kommt er zurück. Sein Blick ist noch fragender als zuvor, einen Moment scheint es, als wollte er etwas sagen, er sieht Isabel direkt ins Gesicht, dann geht er weiter. Nichts wie weg.
»Komm, wir hauen ab«, sagt Isabel und steht auf.
»Die Polizei war wieder da«, erzählt Mehmet, als sie das Haus verlassen. »Sie kommen nicht weiter mit ihren Ermittlungen.«
»Weil sie uns suchen«, sagt Isabel. »Und weil sie denken, dass meine Mutter oder ich ihn umgebracht haben.«
»Das denken auch einige im Haus«, antwortet Mehmet.
»Und du?«
Sie hat ihn das schon einmal gefragt, da hat er es rundweg abgestritten. Jetzt aber antwortet er nicht gleich.
Gerade noch, beim Essen und Trinken, da waren sie einander nah. Jetzt aber spürt Isabel, dass etwas anders ist. Sie ahnt es: Je mehr Mehmet über den Mord an Kröger nachdenkt, desto größer wird sein Verdacht, dass Isabel und ihre Mutter doch mit der Sache zu tun haben.
Hat er Sorge, er könnte sich in eine Mörderin verliebt haben?
Ihre Gedanken haben sie davon abgehalten, wachsam zu sein. Erst als sie sich auf der Straße umsieht, merkt sie, dass sie Mehmet einfach blind gefolgt ist. Jetzt ist es Zeit, einen anderen Weg einzuschlagen. Denn sie nähern sich wieder dem Haus in der Wrangelstraße. Sie muss sich hier und jetzt von ihm verabschieden.
»Danke«, sagt sie und hofft, er würde antworten, dass sie anrufen soll, dass er ihr weiter helfen wird. Aber Mehmet sagt nichts, drückt kurz ihren Arm und geht.
Da sieht sie Christoph. Er steht auf der anderen Straßenseite und starrt sie an. Er wirkt völlig verstört, so kennt sie ihn nicht.
Isabel hat Angst vor ihm. Zum ersten Mal. Sie hat Angst, er könnte austicken, laut schreien, andere Leute auf sie aufmerksam machen. Sie muss ihm so viel sagen, so viel erklären. Die Sache mit Kröger, warum sie aus dem Waldhaus abgehauen ist, warum sie sich nicht mehr bei ihm gemeldet hat … Wie durcheinander sie ist und wie kaputt … Dass sie ihn immer noch liebt, aber ihn nicht in ihr Elend reinziehen will … Dass sie ihm die Sache mit ihrem Vater verzeiht. Dass sie weiß, dass er es nur um ihretwillen getan hat. Auch wenn das Ergebnis dadurch nicht besser wird … Es ist der ungünstigste Zeitpunkt. Sie sind beide verzweifelt von den Tagen seit dem Mord, sie haben wenig geschlafen. Sie sind müde, erschöpft, mit den Nerven am Ende, sie haben Angst, entdeckt, befragt, verdächtigt zu werden, sie wollen einander helfen, sie möchten füreinander da sein, aber sie sind sich dabei aus dem Weg gegangen und fremd geworden.
Als er über die Straße auf sie zukommt, wird ihr klar, dass er Bescheid weiß. Sie sieht es an seinen traurigen Augen. Sie wappnet sich gegen Wut, Enttäuschung und Eifersucht. Doch es kommt anders.
Schweigend steht er vor ihr.
»Es tut mir so leid.«
Damit hat sie nicht gerechnet. Aber plötzlich verschwindet das Gefühl, sie müsste ihm etwas erklären, was nicht zu erklären ist. Sie müsste sich für etwas rechtfertigen, was sie gar nicht wollte, wozu sie gezwungen wurde.
»Ich habe dir nicht alles erzählt.«
Sie sieht, auch er ist überrascht von ihrer Reaktion.
»Wahrscheinlich hätte ich es nicht verstanden.«
»Davor hatte ich am meisten Angst.«
Sie macht den ersten Schritt. Geht auf ihn zu, nimmt ihn in den Arm.
»Ich weiß, du hast es gut gemeint. Auch das mit Lehnert«, sagt sie.
»Aber schlecht gemacht.«
»Du konntest einfach nicht sehen, was das für meine Mutter und mich bedeutet.«
»Sag es ruhig, ich bin ein Idiot.«
»Mein Idiot.«
Sie lächelt zaghaft, er erwidert ihr Lächeln.
Sie spürt sein Zögern, seine Unsicherheit.
»Ich muss dir etwas sagen – es hat mit Lehnert zu tun.«
»Ich will es nicht hören.«
»Aber es ist wichtig. Deine Mutter hat mich angerufen, sie hat noch einmal mit ihm gesprochen und er hat gesagt …«
Sie unterbricht ihn mit einem Kuss.