Es war der Tag nach den Weihnachtsferien. Wir hatten alle keine Lust auf Schule. Draußen schneite es dicke Flocken. Ich konnte mir hundert Dinge vorstellen, auf die ich jetzt mehr Bock gehabt hätte, als hier zu sitzen und Stratebeck zuzuhören, wie er von 1968 faselte.
»Wir haben Deutschland neu gestaltet.«
»Das haben vor Ihnen schon mal welche gesagt«, fiel ihm Ben ins Wort. Dafür gab es einen Verweis. Vergleich mit der Nazizeit, sagte Stratebeck sauer.
»Das habe ich gar nicht gemeint«, verteidigte sich Ben. »Ich dachte an Karl den Großen oder Bismarck. Beide haben das Deutsche Reich quasi erfunden.«
Dabei grinste Ben, denn natürlich sprach er nicht von Bismarck. Er wollte den Helden von ’68 einfach nur ärgern.
»Dass Sie so mit mir reden dürfen, das verdanken Sie den Achtundsechzigern.«
»Dankeschön!«
Ben sah sich auffordernd in der Klasse um.
»Dankeschön!«, brüllten wir alle und fingen dann an zu lachen.
Provozieren war Bens Lieblingsbeschäftigung. Mir war das immer zu anstrengend. Aber wie alle anderen machte ich mit, wenn er uns dazu animierte, und wir hatten Spaß daran.
Nach der Pause war gerade wieder Ruhe in der Klasse eingekehrt, als sie mit dem Direktor hereinkam. Sie blieben vor der Klasse stehen. Wir alle starrten sie an.
Lange, lockige braune Haare, die sie zusammengebunden trug. Dunkle Augen. Nicht besonders groß. Zierlich. Jeans und Rollkragenpullover.
Sie sah niemanden von uns an und blickte über unsere Köpfe hinweg zur hinteren Wand.
Es war still, selbst Ben neben mir hörte auf mit dem Kaugummikauen.
Nur ein paar Mädchen flüsterten noch, es klang wie ein Zischen. Sie spürten die veränderte Lage, die Konkurrenz. Sie bemerkten unsere Blicke. Wir Jungs glotzten alle, als hätten wir noch nie eine Frau gesehen. Ben auch. Selbst Albrecht, unser Mathelehrer, schien an etwas anderes als an Formeln zu denken.
Warum die anderen so fasziniert waren? Keine Ahnung. Auf mich aber wirkte sie stark und verletzlich zugleich. Ich wollte sie beschützen und hatte doch das Gefühl, dass sie mich nicht brauchte.
»Das ist Isabel«, sagte Mertens, unser Direktor. »Sie geht ab sofort in eure Klasse.«
Dann wandte er sich Isabel zu: »Möchten Sie etwas sagen?«
»Wo kann ich mich hinsetzen?«
Vorläufig kriegte sie den Platz von Paula, die war krank. Morgen sollte der Hausmeister einen neuen Tisch samt Stuhl bringen.
»Stört es Sie nicht, wenn Sie ganz hinten sitzen?«, fragte Albrecht besorgt.
Isabel schüttelte den Kopf.
»Mich schon«, brummte Ben und wir grinsten uns an. Wir sahen uns gemeinsam nach der Neuen um. Aber sie tat so, als könnte sie durch uns hindurchsehen. Sie holte Papier und Stift heraus und sah zur Tafel. Albrecht gab sein Bestes. Nie zuvor hatte er Mathematik so engagiert vermittelt.
»Wetten?« Ben grinste mich an und kaute wieder auf seinem Kaugummi.
Ich überlegte einen Moment. Ben spürte, dass mich irgendetwas zurückhielt.
»Du kannst ruhig Ja sagen, ich gewinne sowieso«, sagte er.
»Wette gilt.«
Sophie, Carla, Paula und einige Mädchen aus anderen Klassen – ihnen allen galten bislang unsere Wetten. Ben machte mehr den Draufgänger, den Coolen, Witzigen, Geistreichen. Die Mädchen standen auf ihn, den großen, flapsigen Kerl mit dem blonden Wuschelkopf. Ich musste mir eine andere Rolle aussuchen, wenn ich in meiner Durchschnittlichkeit überhaupt eine Chance haben wollte. Deshalb machte ich den Sensiblen. Zuhören, verstehen, nachdenklich wirken und dann doch im entscheidenden Moment nicht allzu schüchtern rüberkommen. Bens Bilanz war besser.
»Sie mögen die sensiblen Typen nicht«, meinte er. »Das behaupten sie nur.«
»Du siehst einfach besser aus«, konterte ich.
Ben sah mich spöttisch an, ein bisschen von oben herab, immerhin war er ja zehn Zentimeter größer. Er fuhr mit seiner Hand durch meine glatten, braunen Haare.
»Mir gefällst du«, sagte er und lachte. »Aber die Neue ist hübscher.«
So was durfte nur Ben machen und sagen. Jedem anderen hätte die halbe Klasse »Schwul, oder was?« nachgerufen. Doch Ben war der Frauenheld, der Frauenkenner. Jetzt ging es also um Isabel.
Auf die Wette hatte ich eigentlich keine Lust.
Aber ich wollte kein Spielverderber sein.
Wir waren Kumpel, das war wichtiger als jede Frau.
Bisher.
Ben schaltete gleich nach der Schule auf Angriff.
»Hi, ich bin Ben.«
Isabel nickte nur.
»Woher kommst du?«
»Kreuzberg«, antwortete sie und Ben lachte.
»Aber woher kommst du wirklich?«
»Vorher haben wir in Neukölln gewohnt.«
Er verlor die Geduld, fühlte sich verarscht, wurde giftig.
»Kannst du mir mal deinen Migrationshintergrund erklären?«
»Geht dich zwar nichts an, aber bitte: Kolumbien.«
»Wow, ziemlich gefährlich. Drogenmafia und so, oder?«
Isabel musterte ihn mit einem ironischen Blick.
»Stimmts nicht?« Ben, der Provokateur, fühlte sich provoziert.
»Wenn du es sagst …«
Damit ließ sie ihn stehen.
Ich freute mich. Ben war abgeblitzt. Als Isabel an mir vorbei zum Schultor hinausging, versuchte ich ein nettes Lächeln. Meine Spezialität. Aber sie sah mich nicht einmal an.
»Harter Brocken.«
Ben gab sich entspannt, doch ich sah, dass er sich ärgerte.
»Aber ich krieg sie noch.«
Die Schneeflocken bedeckten die wenigen Pflanzen, die meine Mutter auf der Dachterrasse gelassen hatte. Die anderen standen im Keller oder hier im Wohnzimmer, das nun aussah wie ein Wintergarten. Mom liebte Blumen, im Sommer sah es bei uns draußen aus wie im Paradies. Eine kleine Idylle mitten in Schöneberg. Die Idylle meiner Kindheit: Mama, Papa, Christoph.
Ich sah aus dem Fenster, kniff die Augen etwas zusammen. Die Sonne war herausgekommen, die Schneeflocken glitzerten, das Weiß blendete. Ich wollte für einen Physik-Test lernen. Aber Ben hatte keine Zeit. Nach der Schlappe bei Isabel hatte er sich gleich mit einer Verflossenen verabredet, die noch auf ihn stand. Er musste wohl sein Ego polieren.
»Manchmal darf man es sich leicht machen«, hatte er gesagt.
Normalerweise fand ich seine Sprüche cool. Heute nervten sie mich.
Isabel ging mir nicht aus dem Kopf. Etwas an ihr war besonders. Ich wollte gerne mehr über sie wissen.
Im Internet recherchierte ich über Kolumbien. Ben hatte offenbar recht. Hier stand viel von Drogen und Gewalt, von Armut und Entführungen, von Guerilleros und Paramilitares – gekaufte Killer, die kleine Bauern von ihren Höfen vertreiben sollten – las ich in einem Bericht. Der Großgrundbesitzer will seine Felder erweitern, also wird den armen Familien ein bisschen Geld geboten, damit sie gehen. Weigern sie sich, so kann es sein, dass sie dieses ›Nein‹ nicht überleben. Die vertriebenen Bauern gehen nach Bogotá, hieß es weiter, und verdienen ihren Lebensunterhalt mit Betteln. Ganz unten oder tot – das war ihre Wahl.
Warum hatte Isabels Familie das Land verlassen? War es ihnen so oder so ähnlich ergangen? Waren sie Asylbewerber? Oder Gastarbeiter? Oder Wirtschaftsflüchtlinge, wie mein Dad sagen würde?
Ich machte mir Notizen zu diesem Land, das mich bislang kein bisschen interessiert hatte. Vielleicht konnte ich beiläufig ein paar Infos einstreuen, wenn die Sprache noch mal auf Kolumbien kam. Ich wollte Isabel beeindrucken. Und es besser machen als Ben, der abgeblitzt war.
Wenn sie in Kreuzberg wohnte, was machte sie dann an unserem Gymnasium? Es gab genug Schulen, die näher lagen. Wo war sie zuvor gewesen und warum war sie dort weggegangen? Ich wollte sie gerne fragen, aber wenn sie mich so locker abtropfen ließ wie sie das mit Ben gemacht hatte – nein danke.
Isabel saß bereits auf ihrem neuen Platz, als ich am nächsten Morgen ins Klassenzimmer kam. Sarah lächelte mich an. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ich meine sensible Seite wieder entdeckte, vor allem in Bezug auf sie. Sarah war nett, sehr nett sogar. Sie sah toll aus. Ich mochte sie. Aber selbst wenn ich vor ein paar Tagen noch überlegt hatte, ob wir es noch mal versuchen sollten, jetzt wusste ich: Es war vorbei. Sie interessierte mich nicht. Sie faszinierte mich nicht.
Ich versuchte, einen Blick von Isabel einzufangen, aber sie führte uns erneut die Kunst vor, durch uns alle hindurchzublicken. Als wären wir ihr egal. Als wäre sie auf niemanden angewiesen, ein Mensch wie eine Insel. Es wirkte nicht einmal arrogant.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie Kontakt vermied, um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Ich habe ihr nicht angesehen, wie sehr sie einen guten Freund nötig hatte. Wobei ich damals nicht unbedingt davon träumte, nur ihr guter Freund zu sein, ebenso wenig wie Ben, Luke, Daniel und alle anderen aus meiner Klasse.
Sie kam immer pünktlich, sie verschwand unmittelbar nach dem Unterricht. Sie hatte immer ihre Hausaufgaben gemacht, obwohl sie in Mathe deutlich hinterherhinkte. In der Pause war sie kaum zu finden. Wo sie sich aufhielt, keine Ahnung. Ich konnte nicht ständig das ganze Schulgebäude, den Hof, die Fahrradkeller, die Bibliothek, die Räume nach ihr absuchen, am allerwenigsten die Mädchentoiletten.
Ben verlor bald die Lust an unserer Wette.
»Sie weiß gar nicht, was sie verpasst«, sagte er und verabredete sich mit Marie aus der Parallelklasse.
»Was liest du denn da?«, fragte meine Mutter. Ich saß in ihrem bequemen Wohnzimmersessel, hatte ein Buch von Gabriel García Márquez auf dem Bauch liegen und träumte vor mich hin. Mom sah auf den Buchdeckel und lachte: »›Hundert Jahre Einsamkeit‹. Da hast du dir ja was vorgenommen.«
»Es ist interessant«, behauptete ich, obwohl ich über Seite 50 noch nicht hinausgekommen war.
Ich sah ihr an, dass sie mir nicht glaubte. Ich rührte ihre Bücher sonst nie an. In ihrem Blick lag die Frage, was mit mir los war. Aber ich beantwortete sie nicht. Weil ich es selbst nicht so genau wusste.
Zwei Wochen nachdem Isabel in unsere Klasse gekommen war, nahm mich Albrecht beiseite.
»Ich habe ein Anliegen, Christoph«, sagte er, und ich schluckte, denn das klang verdammt nach Arbeit.
»Ihre neue Mitschülerin hat Lücken in Mathematik«, erklärte er mir, und ich kapierte auf Anhieb gar nicht, von wem er sprach. Denn für mich gehörte Isabel längst zu meinem Leben dazu, weil ich ständig an sie dachte. Ich wusste zwar nichts von ihr, aber ich hatte mir vieles einfach so zusammengereimt, Schlüsse gezogen aus ihrer Art, sich zu kleiden oder zu reden. Immer wieder hatte ich beschlossen, sie zu ignorieren. Ich hatte ja gesehen, wie alle nacheinander daran gescheitert waren, zu ihr Kontakt aufzunehmen. Ich wollte mir keine Abfuhr holen. Es hätte mich mehr getroffen als jedes andere ›Nein‹ in meinem Leben. Doch schon längst hatte ich mir in meinen Gedanken meine eigene Isabella gebastelt:
Eine verschlossene junge Frau, die nur darauf wartete, dass sie sich jemandem gegenüber öffnen konnte.
Die immer faszinierender wurde, je näher man sie kennenlernte.
Die so viel vom Leben wusste und doch in manchen Dingen so ahnungslos war.
Die ein Geheimnis aus ihrem Leben machte, weil es ein großes Geheimnis gab.
Die Hilfe brauchte, aber sie nicht annehmen konnte.
Ich wollte ihr Retter sein.
So weit meine Fantasie. Ich lag nicht so ganz falsch, aber das merkte ich erst später.
»Ich glaube nicht, dass Isabel bei mir Nachhilfe nehmen will«, sagte ich zu Albrecht, weil ich einfach Schiss hatte, aber zugleich freute ich mich über diese Chance.
»Ich weiß, sie ist schüchtern. Aber sie muss einiges nachholen. Und Sie können ihr das erklären.«
Tatsächlich hatte ich eine Zeit lang ziemlich viele Schüler gehabt, um mir Geld für den Führerschein zu verdienen. Meine Eltern wollten nur einen Zuschuss zahlen, aus pädagogischen Gründen, versteht sich. Damit ich lernte, was die Dinge wert wären.
Sie wollte nicht zu mir nach Hause kommen. Sie wollte aber auch nicht, dass ich zu ihr komme. Sie war gegen ein Treffen im Café.
»Hier in der Schule«, sagte sie und so saß ich noch ein paar Stunden mehr in diesem muffigen Kasten.
Albrecht hätte nicht sagen müssen, dass sie wenig Geld hatte. Das war so was von klar: ihre Klamotten, ihre Tasche, ihr Fahrrad. Noch nie hatte ich gesehen, dass sie Geld ausgab, nicht mal in der Pause am Kiosk. Ich schraubte also mein Honorar runter. Trotzdem sah ich, dass ich für sie zu teuer war. Ich schlug ihr vor, mir umgekehrt in Englisch zu helfen. Sie war einverstanden, fast erleichtert. Und ich war zufrieden: Wir würden noch mehr Zeit miteinander verbringen.
Isabel lernte schnell, sie war konzentriert und fleißig. Viel zu fleißig, fand ich. Sie ignorierte meine Witze, die ich zur Auflockerung einflocht. Sie war nur an Mathematik interessiert, so schien es. Ich betonte immer wieder, wie wichtig ihre Hilfe in Englisch für mich war. Ich war gar nicht so schlecht gewesen bisher. Aber das hatte sie offenbar nicht mitgekriegt. Oder sie ignorierte es, weil ihre Nachhilfe die einzige Möglichkeit war, für meine nicht zahlen zu müssen.
Anfangs saßen wir uns gegenüber. Aber irgendwann setzte ich mich neben sie, weil ich es satthatte, alles umgedreht zu entziffern. Wenn sie auf Distanz bedacht war, okay. Aber man musste es ja nicht übertreiben.
Die anderen in der Klasse betrachteten uns mit Neugier. Sagten aber nichts, fragten nichts. Selbst Ben dachte, da würde was laufen. Dabei war ich nur ihr Mathelexikon.
Irgendwann hielt Ben es nicht mehr aus.
»Wie ist sie denn so?«
»Nett, aber mehr ist da nicht.«
»Ihr redet doch nicht nur über Mathe.«
»Auch über Physik, gelegentlich.«
»Sehr witzig.«
»Ehrlich, Ben. Sie lässt sich das Zeug erklären, sie kapiert’s, dann macht sie die Aufgaben und das war’s.«
»Du verpasst deine Chance, Alter«, sagte Ben.
Fast hätte ich es an diesem Nachmittag versucht. Gemeinsam beugten wir uns über eine Aufgabe, unsere Köpfe berührten sich beinahe. Ich roch ihr Shampoo, ich sah den feinen Flaum an ihren Unterarmen. Als sie ihren Kopf zu mir wandte, da war sie mir so nah, dass ich fast erschrak.
Sonst war ich nicht schüchtern. Aber offenbar wusste ich nicht mehr, wie man mit einem Mädchen umgeht. Wenn mir allerdings jemand gesagt hätte, ich wäre verliebt, ich hätte es sofort abgestritten.
Der Mathetest war ein voller Erfolg. Sie schrieb eine Zwei. Genau wie ich. In der Pause kam sie auf mich zu, was sie sonst nie tat.
»Heute fällt die Nachhilfestunde aus«, verkündete sie. »Ich lade dich ins Café ein.«
Der leichte, federnde Schritt, mit dem ich zurück ins Klassenzimmer ging, war mir selbst neu. In den Schnulzen, die meine Oma gerne hört, heißt das: auf Wolken schweben. So weit war es mit mir schon gekommen. Nicht nur, dass ich seit mindestens fünf Wochen keine mehr geküsst hatte, ich war schon unendlich glücklich, wenn ein Mädchen mich ins Café einlud. Nein, nicht irgendeins, sondern sie.
Ich bemühte mich, vor ihr im Café zu sein, zog das Buch von Márquez heraus und tat so, als würde ich mich in die Lektüre vertiefen. Ich war immer noch nicht weiter als bis Seite 50 gekommen, aber das wollte ich nicht zugeben. Also schlug ich irgendwo zwischen Seite 200 und 250 auf und spielte den aufmerksamen Leser.
»Hi«, sagte sie nur und setzte sich mir gegenüber.
Ich lächelte sie an, legte ein Lesezeichen meiner Mutter ins Buch und klappte es zu. Natürlich steckte ich es nicht ein, sondern legte es ganz beiläufig auf den Tisch.
»Kennst du das?«, fragte ich und schob ihr das Buch zu.
»Aber es ist ein Bestseller, noch dazu von einem kolumbianischen Schriftsteller, der den Nobelpreis bekommen hat«, hielt ich dagegen.
»Ich habe nicht so viel Zeit zum Lesen«, sagte sie. »Und außerdem: Kolumbien ist weit weg.«
»Es ist deine Heimat.«
»Ich bin schon sehr früh nach Deutschland gekommen.«
»Kannst du noch Spanisch?«
Sie nickte nur und bestellte für sich Tee. Meine Kaffeetasse war bereits leer. Eigentlich wollte ich gerne einen zweiten Cappuccino. Aber ich zögerte zu bestellen. Denn ich war mir sicher, sie wollte ihn bezahlen. Und ich wusste, dass sie knapp bei Kasse war.
Wir schwiegen eine Weile. Sie blies in ihren Tee, ich löffelte den restlichen Milchschaum aus meiner Tasse.
»Du kannst wirklich toll erklären.«
»Quatsch, du kapierst einfach schnell.«
»In meiner alten Schule waren wir in Mathe noch nicht so weit.«
»Warum bist du von dort weg?«
Sie sagte zunächst nichts, dann sah sie auf meine Tasse.
»Möchtest du noch einen Cappuccino?«
Ich nickte nun doch. Es war doof, eine Stunde ohne Getränk herumzusitzen.
Wie ich den Mut fand, locker und offen mit ihr zu reden, das weiß ich nicht. Aber mir machte ihre Verschwiegenheit viel aus, ich fand, dass ich allmählich ein Recht hätte, mehr von ihr zu erfahren. Oder wenigstens eine Erklärung dafür zu hören, warum sie aus ihrem Leben ein Geheimnis machte.
»Es ist schwer, mit jemandem zu reden, der nichts erzählen will«, sagte ich. »Wir verbringen viel Zeit miteinander und du sagst nie etwas über dich.«
Sie sah mich mit großen Augen an, aber sie schwieg.
»Deshalb, damit wir uns hier nicht ewig anschweigen müssen, erzähle ich jetzt einfach von mir, ob es dich interessiert oder nicht.«
Ich fing irgendwo an. Dass mein Vater Anwalt war, meine Mutter als Heilpraktikerin arbeitete, ich keine Geschwister hatte.
»Ich habe auch keine«, sagte Isabel. Ich spürte so etwas wie Glück. Die erste persönliche Information. Ich wollte schon nachfragen, was ihre Eltern machten, aber instinktiv hielt ich mich zurück. Wahrscheinlich wäre das schon wieder ein Schritt zu viel gewesen.
»Meine Mutter färbt ihre Haare rot, um nicht alt auszusehen. Sie kleidet sich, als wäre sie gerade erst zwanzig geworden und sie wäre gerne dünner.«
Isabel schmunzelte, und ich hoffte, sie doch noch zum Lachen zu bringen, deshalb machte ich einfach weiter.
»Dad ist eher so der Typ seriöser Mittvierziger, der sich gerne fit hält mit Joggen und Tennis. Dabei ziemlich eitel. Kein Spiegel, an dem er vorbeikommt, ohne dass er hineinsieht und seine grauen Schläfen bewundert, auf die seine Sekretärin so steht.«
Wieder lächelte sie.
»Einen Hund haben wir auch. Den habe ich bekommen, als ich fünf Jahre alt war. Jetzt ist er schon ziemlich alt, geht nicht mehr so gern spazieren, aber …«
»Wie heißt er?«
»Jim Knopf.«
Sie runzelte die Stirn, sah mich fragend an. Ich erzählte ihr von dem Kinderbuch mit Jim Knopf, Lukas und der Lokomotive Emma. Und von Lummerland, das von Alfons dem Viertel-vor-Zwölften regiert wurde.
»Das kann nur einem Deutschen einfallen, einen König nach der Uhr zu benennen«, lachte sie. Für mich war es, als würde die Sonne aufgehen. Okay, kitschiger Vergleich, aber wahr.
Ich war so fasziniert von ihrem Strahlen, dass ich Idiot gleich ihre Teetasse umwarf und mir die Hand verbrühte.
Natürlich taten sie so, als sei alles in Ordnung.
»Sie ist sehr nett«, sagte Mom. Und Dad glaubte, behaupten zu müssen, dass Isabel einen guten Einfluss auf mich habe. Wie auch immer er darauf kam.
Wir hatten die Stunden inzwischen zu mir nach Hause verlegt. Eigentlich brauchte Isabel keine Nachhilfe mehr, sie war in Mathe auf dem aktuellen Stand. Und was den Englischunterricht anging … Nachdem ihr aufgefallen war, dass ich auch früher gut in Englisch gewesen war, hatten wir gewechselt. Ich lernte jetzt Spanisch bei ihr. So fühlte ich mich ihr näher. Außerdem brauchten wir einen offiziellen Grund, um uns zu treffen. Einfach so Zeit miteinander verbringen, das kriegten wir noch nicht hin.
Isabel war beeindruckt von unserer Wohnung, von der Dachterrasse, vor allem aber von Jim Knopf. Meinen Eltern gegenüber war sie unsicher. Kein Wunder. Mom war sehr herzlich, aber dabei musterte sie Isabel von oben bis unten. Dad kam eigens eher aus der Kanzlei – hatte Mom ihn angerufen? – und gab den jovial schmunzelnden Papa.
»Entschuldigen Sie meine Neugier«, sagte er, als er auf Isabel zuging. »Aber Christoph stellt uns sonst nie seine Freundinnen vor.«
Danke, Dad. Super. Dieses Mal war auch das letzte Mal.
Das Dümmste an seinem Spruch war allerdings, dass Isabel noch gar nicht meine Freundin war. Obwohl wir uns seit Monaten kannten. Alles, was bei anderen funktionierte, blieb bei ihr ohne Wirkung.
Trotzdem war es der schönste Frühling meines Lebens. Wir lagen auf der Dachterrasse, wir saßen am Wannsee unter einem Baum, wir gingen durch den Zoo. Wir waren überall da, wo es uncool war, wo alle anderen aus unserer Klasse nicht waren.
Wir redeten über die Schule, die Lehrer, die Mitschüler.
Über das, was wir lernen mussten.
Über die Stadt, über Kino oder Musik.
Tabu waren folgende Themen:
Isabels bisheriges Leben, ihr aktuelles Leben, ihre Zukunft. Eigentlich fast alles, was mich interessierte.
Nur manchmal blitzte etwas auf von ihren Träumen, von ihrer Sehnsucht, von ihren Gefühlen, von ihren Wünschen. Doch sie deckte es gleich wieder zu mit Sachlichkeit oder einem abrupten Themenwechsel.
»Was willst du studieren?«
»Das weiß ich noch nicht. Und du?«
Typisch. Sie gab die Frage zurück.
Bei jedem anderen Mädchen hätte ich längst aufgegeben. Liebe kann warten, das war nicht mein Spruch. Aber ich wartete. Ich wusste, dass ich sie verlieren würde, wenn ich ihr zu nahe kam. Sie zog die Grenzen. Ich akzeptierte.
Es war grotesk, aber alle hielten uns längst für ein Paar. In der Schule hießen wir nur noch Chrisabel, was ich gar nicht komisch fand. Meine Eltern löcherten mich mit Fragen zu Isabels Familie. Sie wollten sie gerne einladen.
»Jetzt tu doch nicht so geheimnisvoll«, sagte meine Mutter zu mir.
Sie konnte nicht ahnen, dass ich so wenig erzählte, weil ich selbst nichts wusste. Daher sagte ich wenigstens das, was ich bisher erfahren hatte: dass Isabel alleine mit ihrer Mutter lebte. Meine Eltern stürzten sich mangels anderer Informationen auf dieses Detail.
»Besonders wohlhabend scheinen sie nicht zu sein, aber das ist bei Alleinerziehenden ja oft so«, stellte meine Mom fest, immer ganz Expertin.
»Will der Vater nicht zahlen, kann er nicht oder ist er sogar unbekannt?«, fragte Dad, der Jurist.
Mom hatte Isabel nur einmal taxiert und dann festgestellt, dass die gesamte Kleidung, die sie trug, keine 50 Euro wert war. »Aber manchen Mädchen steht einfach alles«, sagte sie und seufzte. »Warum wirkt ein T-Shirt für fünf Euro an mir wie ein Lappen und deine Isabel sieht darin so toll aus?«
Weil sie toll ist, dachte ich. Aber ich sagte es lieber nicht.
Und dann machte ich einen entscheidenden Fehler. Sie hatte mir ihren Geburtstag verraten und ich schenkte ihr Klamotten, teure Klamotten. Mom hatte mich beraten. Ich fühlte mich super, als ich sie am 15. Juni mit mehreren Päckchen überraschte. Wir saßen in meinem Zimmer, sie packte eines nach dem anderen aus, sah sprachlos auf all die Sachen, dann auf mich.
Ich dachte, gleich fällt sie mir vor Dankbarkeit um den Hals. Aber sie war verletzt, wütend.
»Bin ich Aschenputtel für dich?«, rief sie. »Schämst du dich, weil ich so einfach angezogen bin?«
Sie warf alles auf den Boden und rannte zur Tür. Ich versperrte ihr den Weg. Sie schrie, sie ging auf mich los. Sie hatte nicht nur Temperament, sie hatte auch Kraft. Ich konnte sie kaum festhalten.
Meine Eltern waren nicht im Haus und ich war froh darum. Aber ich hörte das Winseln von Jim Knopf. Vermutlich saß er vor der Tür und dachte dasselbe wie ich: Gleich hat meine letzte Stunde geschlagen.
Ich hielt ihre Arme fest, sie wurde nur noch wütender.
»Lass mich raus, ich will weg.«
»Ich will dir wenigstens erklären …«
»Du möchtest mich kaufen.«
»Ich wollte dir eine Freude machen.«
»Verfluchter Geburtstag!«
Sie brach in Tränen aus. Ihre Wut war weg, so schnell wie sie gekommen war.
Ich nahm sie in den Arm. Strich ihr mit der Hand übers Haar.
Das hatte ich bisher nie gewagt.
Sie hob den Kopf, das Gesicht tränenüberströmt. Und dann küsste sie mich.
Ich hatte mir das immer so ausgemalt, dass ich sie irgendwann küssen würde, im Kino vielleicht oder wenn wir in der Sonne lagen. Es gab auch ein paar Anläufe, aber ich stellte mich besonders doof an. Als ob ich es verlernt hätte in diesen wenigen Monaten.
Dass sie die Initiative ergreifen könnte, auf die Idee wäre ich nie gekommen. Ich war so überrascht, dass ich fast vergaß, ihren Kuss zu erwidern.
Als sie das erste Mal bei mir übernachtete, gaben sich meine Eltern besonders locker. Frühstück im Familienkreis, noch etwas Kaffee, wir könnten uns doch duzen, ich könnte dir einen Pulli leihen, wir haben doch fast dieselbe Größe.
Sorry, Mom. Da täuschst du dich aber ganz gewaltig.
Ich ließ ihr alle ihre Geheimnisse. Ein paarmal fragte ich zu viel. Es war so leicht zu merken, wenn ich die Grenze überschritten hatte. Sie verkrampfte. Hatte ich meinen Arm um sie gelegt und stellte die falsche Frage, konnte ich spüren, wie sie verhärtete. Ganz langsam schloss sich die Tür und Isabels Innenwelt war vor meinen Angriffen geschützt. Ein weicher, warmherziger, liebevoller Mensch wurde innerhalb von Sekunden zur Festung. Dafür reichte ein Vorschlag wie: »Wir könnten doch ein paar Sachen von dir bei mir deponieren.«
Ich wusste nicht, wo sie wohnte.
Ich kannte weder ihre Mutter noch ihre Freunde.
Irgendetwas stimmte nicht.
Oft war ich sauer, weil sie mir nicht vertraute.
Manchmal spürte ich die Versuchung, einfach mal in ihren Sachen zu wühlen, wenn sie bei mir war. Ich habe es nicht getan.
In der Schule lasen wir etwas über Orpheus. Er holte seine Frau aus der Unterwelt. Die Bedingung war, dass er sich auf dem Weg nach oben nicht nach ihr umdrehte. Er hat es doch getan und Eurydike für immer verloren.
Ich dachte, wenn ich Isabel nachspioniere, verliere ich sie für immer. Deshalb habe ich es gelassen.
Lange Zeit. Bis zu dem Tag, als wir über die Ampel gingen. Okay, das haben wir oft getan. Aber wir gingen bei Rot.
Bisher war sie immer stehen geblieben, wenn die Fußgängerampel rot war. Ich machte mich darüber lustig. In den abgelegensten Nebenstraßen warteten wir ewig auf Grün. Alle Passanten gingen an uns vorbei. Wir standen und standen. Fingen an zu streiten, weil mein Spott sie ärgerte. Sie sagte, es habe doch einen Grund, dass die Ampel da sei. Also müsse man sich daran halten. Ich warf ihr Obrigkeitshörigkeit vor. Sie sei zu verspannt. Sie gab mir keine Antwort. Starrte auf das rote Männchen.
An diesem Tag riskierte ich es. Wir schlenderten Hand in Hand. Ich sah, dass die Fußgängerampel rot wurde. Isabel bemerkte es nicht. Sie sah gerade mich an, verliebt, glücklich, offen. Ich grinste und zog sie auf die Straße. Weit und breit kein Auto. Was also sollte hier gefährlich sein?
Isabel bemerkte meinen Betrug an ihren Prinzipien erst, als wir eine Stimme hinter uns hörten.
»He, ihr zwei. Farbenblind oder was?«
Isabel starrte auf das rote Ampelmännchen, dann auf den Polizisten, der uns folgte. Der Blick auf mich war voller Panik, Enttäuschung und Verzweiflung. Dann riss sie sich von mir los und lief weg.
Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen.