Eden – kein Garten der Lüste

Die Schöpfung ist vollendet. Aber fehlt nicht etwas? Hatte Gott nicht zuerst Adam aus einem Erdenkloß geformt und ihm den göttlichen Odem eingeblasen? Und hatte er nicht Eva aus Adams Rippe geschnitten?

Was uns als «Schöpfungsbericht» im Gedächtnis geblieben ist, besteht in Wahrheit aus zwei verschiedenen Berichten, einem älteren und einem jüngeren. Das ist für die Bibel nicht ungewöhnlich.

Lange bevor die biblischen Texte aufgeschrieben, ausgewählt und in ihre endgültige Form gebracht wurden, sind sie aus ältesten Erzählungen, Sagen und Legenden gewachsen, mündlich weitererzählt, variiert und mit anderen Texten kombiniert worden. Manches ist dabei wieder ausgeschieden worden oder verloren gegangen, Neues hinzugekommen.

Genau wie einzelne Gesteinsschichten Informationen aus verschiedenen Erdzeitaltern enthalten, so bergen biblische Textschichten unterschiedliche Erzähltraditionen. Manchmal stehen die Schichten unverbunden nebeneinander, manchmal werden sie kunstvoll verwoben. Daher kommt es öfter vor, dass dieselben Vorgänge mehrfach, aber oft sich scheinbar widersprechend, erzählt werden.

Alle Texte des Alten Testaments berichten von den Erfahrungen des Volkes Israel mit seinem Gott. Es ist also gedeutete Geschichte, die hier in vielfältigen Erzählungen durch die Jahrhunderte wuchs und verdichtet wurde. Die ersten Lieder, Sprüche, Rechtssätze und Sagen sind ungefähr zwischen 1200 und 1000 vor Christus entstanden, die jüngsten Texte, etwa das Buch Daniel oder manche Psalmen, erst um 150 vor Christus, das Buch der Weisheit sogar erst um 30 nach Christus. Und dann hat es noch einmal siebzig Jahre gedauert, bis jüdische Theologen eine endgültige Auswahl trafen und sagten: Das ist nun die Heilige Schrift der Juden.

Es liegen also mehr als tausend Jahre zwischen den jüngsten und ältesten Texten des Alten Testaments. Zwischen dem ersten und zweiten Schöpfungsbericht ungefähr vierhundert Jahre. Der erste Bericht aus dem vorigen Kapitel ist der jüngere, modernere, abstraktere. Der ältere, populärere, dem wir uns jetzt widmen, erzählt die Geschichte viel anschaulicher und farbiger. Die christlichen Maler schöpften ihre Bilder hauptsächlich aus dieser älteren Geschichte. Daher haben wir sie lebendiger vor Augen.

Im ersten Bericht schafft Gott aus dem Chaos den Kosmos und zuletzt den Menschen. Hier ist der Mensch die Spitze einer Pyramide. Im zweiten schafft Gott zuerst den Menschen und baut um ihn herum aus der Wüste einen Garten. Hier ist der Mensch der Mittelpunkt eines Kreises und wird so zum Mittelpunkt der Welt.

Es war noch kein Strauch des Feldes gewachsen auf der Erde, noch irgendein Kraut auf dem Feld, denn Gott hatte es noch nicht regnen lassen, und es war kein Mensch da, um das Land zu bebauen.

Da machte Gott den Menschen aus einem Erdenkloß und blies ihm den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.

Gott erschafft noch nicht durchs bloße Wort, er braucht für den Menschen einen Rohstoff, Erde, die auf Hebräisch «adama» heißt. Ihr bläst er seinen göttlichen Odem ein, und erst dadurch entsteht aus adama Adam, der Mensch, die Menschheit.

Der Erzähler des zweiten Berichts kümmert sich noch nicht um die Entstehung von Himmel und Erde und den Fortschritt von der unbelebten zur belebten Materie. Ihn interessiert nicht die Erschaffung der Welt, sondern die Erschaffung des Menschen. Und ganz besonders die Beziehung des Geschöpfs zu seinem Schöpfer.

Er, der Schöpfer, erscheint in dieser zweiten Erzählung menschlicher und zärtlicher als in der ersten. Wie ein Töpfer formt er Mensch und Tier. Wie ein Gärtner pflanzt er einen Garten. Wie ein Vater sorgt er für seine Geschöpfe, indem er sie in den Garten setzt, und lässt aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, lustig anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Wir sehen Gott bei der Arbeit zu.

Wie ein Großvater seinem Enkel ein Spielzeug schnitzt und neugierig beobachtet, was er damit anstellt, so bringt Gott all die Tiere, die er nun erschafft, zu Adam, dass Gott sähe, wie Adam sie nennte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen.

Es ist eine Liebesgeschichte zwischen Gott und Mensch, die sich hier anbahnt.

Zur Liebe gehören Freiheit und Vertrauen, aber auch die Respektierung bestimmter Grenzen. Dies wird deutlich, wo es heißt, von jedem Baum dürfe der Mensch nach Belieben essen, nur vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen nicht. Tut er’s aber doch, muss er sterben.

Dieses Verbot kommt für moderne Menschen so überraschend, wirkt so schroff, unbegründet und durch die Todesdrohung so überzogen, dass es den Zauber dieses Anfangs fast vollständig unter sich begräbt. Kopfschüttelnd fragen wir uns: Was hat Gott dagegen, dass wir uns um Erkenntnis bemühen? Will er uns dumm und naiv halten wie Sklaven? Steht das Verbot nicht im Widerspruch zum göttlichen Auftrag, sich die Erde untertan zu machen?

Noch die letzten päpstlichen Zensoren hatten möglicherweise diesen «Baum der Erkenntnis» im Sinn, wenn sie besten Gewissens bestimmte Bücher auf den Index setzten und ganz unschuldig glaubten, das gemeine Volk vor bestimmten Erkenntnissen schützen zu müssen. Der Kampf der Kirche gegen die Aufklärung wurde vermutlich auch von der verbotenen Frucht des Erkenntnisbaums gespeist. Zu viel Wissen frommt dem Frommen nicht, dachten die Kleriker.

Alles in uns lehnt sich dagegen auf. Schon hier, gleich zu Beginn der Bibel, scheint sich deren Nutzlosigkeit für unsere heutige Welt zu erweisen. Warum soll das Streben nach Erkenntnis ein Verbrechen sein, das mit dem Tode geahndet werden muss?

Es ist sinnlos, solche modernen Fragen an einen vormodernen Text heranzutragen. Die Verfasser solcher Texte dachten anders als wir. Für sie steht der verbotene Baum hier einfach als Gottes Grenzstein in der Welt, und als solchen sollten auch wir ihn zunächst nehmen. Welches Gebot damit gemeint sei, wird Gott später auf dem Berg Sinai über Mose den Menschen ausrichten lassen.

Hier, im Garten Eden, muss der Mensch jetzt einfach glauben, dass Gott es gut mit ihm meint, wenn er ein Verbot ausspricht. Adam muss darauf vertrauen, dass das Vorenthaltene nicht erstrebenswert ist, sondern zerstörerische Wirkungen entfaltet, wenn er dennoch danach greift.

Menschen brauchen Grenzen. Sie sollen die von Gott gesetzte Grenze respektieren, auch die zwischen Schöpfer und Geschöpf. Nichts weiter ist damit gesagt. Wir sind frei, ja oder nein zu sagen zu Gottes Gebot. Aber alles hängt daran, dass wir in freier Entscheidung ja sagen und Gott vertrauen.

Immer, zu jeder Zeit, hängt alles daran, dass Gottes Gebot gilt. Wo es angetastet wird, herrscht Lebensgefahr. Und die Größe dieser Gefahr wächst mit den technischen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.

Gott setzte den Menschen in einen Garten, damit er ihn bebaue und bewahre, erzählt die Geschichte weiter. Bebauen und bewahren – also nicht ausbeuten, auch nicht verwahrlosen lassen, sondern ihn menschenfreundlich gestalten und ihn so erhalten, dass auch künftige Generationen gerne darin leben.

«Eden» heißt zwar «Wonne», ein schlaraffenlandartiger sinnenfreudiger Garten der Lüste ist Eden aber nicht. Nüchtern wird die Arbeit als eigentliche Bestimmung des Menschen bezeichnet. Das Wort Paradies kommt hier nicht vor, es gelangt erst später durch die griechische Übersetzung in die Bibel.

Nicht im Genuss und Freisein von Leid liegt der Sinn des Lebens im Garten Eden, sondern in der Arbeit und, noch viel mehr, im Vertrauen auf Gott. Die «Wonne» des Gartens besteht in seiner Schönheit, in der Teilhabe an der göttlichen Ordnung, in der Nähe zu Gott und in der Erhaltung und Pflege dieses Gartens in Freiheit und Muße.

Gott sieht dem Menschen zu, wie er einem jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen gibt, aber dabei merkt Gott: Adam ist ja ganz allein auf der Welt. So schön die Tiere sind, ebenbürtige Partner sind sie dem Menschen auf Dauer wohl nicht.

Also spricht Gott: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, Adam braucht Eva, und Gott beschließt: Ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei. Daher lässt er Adam in einen tiefen Schlaf fallen, entnimmt ihm eine seiner Rippen und formt daraus die Frau. Wie ein Brautführer bringt er nun Eva zu Adam, und dieser blickt auf Eva und sagt: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin heißen, darum dass sie vom Manne genommen ist.

Das sind seltsame, in unseren Ohren ungewöhnlich klingende Worte, aber wir liegen wohl nicht falsch, wenn wir sie als Ausdruck der Begeisterung nehmen. Es gab noch kein Fernsehen, keinen Roman, keinen Minnesang, die vorgeben, was ein Mann in so einer Situation zu sagen hat.

Adam ist auf sich selbst angewiesen und tut etwas, das er schon bei den Tieren geübt hat: Er eignet sich etwas an, indem er ihm einen Namen gibt. Und dass nicht überliefert wurde, wie eigentlich Eva auf Adam reagierte, ist ein Jammer, aber dem Umstand zuzuschreiben, dass es frühantike Männer waren, die diese Geschichte formten. Sie waren dem Patriarchat verhaftet. Sie konnten gar nicht anders, als selbstverständlich vorauszusetzen, dass Eva von ihrem Adam einfach hingerissen war.

Der Erzähler schließt mit dem Satz: Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch. Damit ist nun für ihn erklärt, woher diese Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht kommt und warum ihre Bindung stärker ist als die an die leiblichen Eltern. Weil Gott das Weib vom Manne genommen hat, weil sie ja eigentlich ursprünglich ein Fleisch waren, darum müssen sie wieder zusammenkommen und können erst wieder zur Ruhe finden, wenn sie im Kinde wieder zu einem Fleisch geworden sind.

Die Ehe ist gestiftet, und später wird Jesus sagen: Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Das erste Paar der Weltgeschichte tritt ins Dasein und wird über Jahrtausende die Phantasie von Malern und Dichtern beschäftigen. Es wird Theologen und Philosophen dazu verleiten, aus jedem einzelnen Satz und jedem einzelnen Wort «Erkenntnisse» über das Verhältnis von Mann und Frau, das Wesen des Menschen, die Ordnung der Welt und die Ordnung der Dinge herauszulesen, die so niemals im Text gestanden haben.

Das Paar wusste nichts davon, sonst hätte es sicher manches anders gemacht. Oder wäre unter der Last seiner Verantwortung zusammengebrochen.