Jakob, der Lügner

Glaube an Gott – was heißt das eigentlich? Vor zweieinhalb bis dreitausend Jahren haben Israels Theologen diese Frage exemplarisch beantwortet mit den Geschichten von Abraham, einem Nomaden, der vor viertausend Jahren gelebt haben soll. Moderne Menschen tun sich schwer damit, erkennen die Antwort eher am Beispiel von Persönlichkeiten wie Dietrich Bonhoeffer.

Beide zeigen, was Glaube heißt: kein Festhalten an behaupteten Glaubenswahrheiten, auch nicht, wie Immanuel Kant meinte, letztlich ein anderes Wort für Vernunft. Sondern die freiwillige Unterordnung unter Gottes Willen und Gottes Gesetz. Und das kann, wie wir gesehen haben, Lebensgefahr bedeuten.

Wer sich trotzdem darauf einlässt, erlebt das Paradox der Freiheit: Je enger ich mich an Gott binde, desto ungebundener stehe ich der Welt gegenüber. Die Fremdbestimmung durch Gott im Himmel ermöglicht die Selbstbestimmung des Menschen auf Erden. Gottes freie Diener sind von keiner Macht mehr dienstbar zu machen. Und: Es gibt nichts auf der Welt, was sie noch fürchten müssten. Glauben macht frei.

In Abraham hat Gott seinen ersten freien Diener gefunden. Den archimedischen Punkt, um die Welt aus den Angeln zu heben, hatte Gott damit aber noch nicht. Ein freier Mensch allein reicht dafür nicht. Für das, was Gott vorhat, braucht er ein ganzes Volk von Freien. Wie also wird Gott jetzt von Abraham über Isaak zu seinem Volk kommen?

Abrahams und Isaaks Glaube müsste nun, wie eine Erbinformation, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Aber jede Generation soll immer wieder aufs Neue freiwillig diesen Glauben annehmen. Gott kann daher nicht, was die einfachste Lösung wäre, den Menschen eine Art Glaubens-Gen einprogrammieren. Gott kann also nur hoffen, dass die Weitergabe in aller Freiheit gelingt. Bei Abraham und Isaak hat es funktioniert. Aber nun muss es auch bei Isaak und dessen Kindern wieder gelingen und bei seinen Enkeln und so fort.

Es ist ein höchst waghalsiges Experiment, das sich Gott da ausgedacht hat. Tatsächlich wird er jetzt die nächsten Jahrhunderte damit verbringen, die wacklige Konstruktion vorm Einsturz zu bewahren.

Bei Isaak geht’s schon los. Er heiratet Rebekka, aber die hat ein altbekanntes Problem. Sie ist unfruchtbar. Schon zum zweiten Mal droht die Sache Gottes an der Unfruchtbarkeit einer Frau zu scheitern, und es wird nicht das letzte Mal sein. Später erzählt die Bibel von der unfruchtbaren Hanna und noch später von der kinderlosen Elisabeth.

Elisabeth ist die Mutter von Johannes dem Täufer, dem Wegbereiter Jesu, Hanna die Mutter Samuels, des ersten Propheten Israels und Wegbereiter Davids. Hanna wird schwanger, nachdem sie gelobt, wenn ihr ein Sohn geschenkt werde, solle dieser Gott gehören. Elisabeth wird es nach jahrzehntelangem Gebet ihres Ehemanns. Rebekka wird es, nachdem Isaak Gott um Nachkommen angefleht hatte.

Sie bekommt Zwillinge, Jakob und Esau. Einer der beiden, Jakob, wird zum dritten Stammvater Israels und des jüdisch-christlichen Glaubens.

 

Solche Geschichten über Spätgebärende, die ihre Kinderwünsche schon längst begraben haben, zeigen, dass Gottes Vorhaben am seidenen Faden hängt. Stets ist das Volk Gottes vom Aussterben bedroht wegen Unfruchtbarkeit – weil der Glaube seiner Mitglieder keine Früchte trägt. Immerzu resignieren die Menschen, und dann kommt es darauf an, dass wenigstens einer übrig bleibt, der nie aufgibt.

Eine neue Welt aus Frieden und Freiheit – das ist nichts, was der Mensch aus eigener Kraft erschaffen kann, dazu bedarf es des wundersamen Eingreifens Gottes. Dabei ereignen sich die seltsamsten Geschichten.

Schon in Rebekkas Mutterleib beginnen sie. Isaaks Frau spürt heftige Stöße in ihrem Bauch und erschrickt darüber. Es sind die Zwillinge Jakob und Esau, deren Konflikte sich hier bereits ankündigen. Bei der Geburt sind sie ineinander verkeilt. Esau ist als Erster da, aber seine Ferse wird von Jakobs Hand umklammert, so, als hätten die beiden schon im Mutterleib darum gekämpft, wer das Erstgeburtsrecht erwirbt.

Esau kommt rötlich und behaart auf die Welt, Jakob dagegen wirkt wohl wie ein normales Baby, denn darüber schweigt die Bibel. Aus Esau wird ein Jäger, ein kräftiger Naturbursche, Jakob aber war ein sittsamer Mann, der bei den Zelten blieb. Und Isaak hatte den Esau lieb, weil ihm das Wildbret mundete; Rebekka aber hatte den Jakob lieb. Wächst da eine Rivalität wie zwischen Kain und Abel?

Es scheint ganz so. Als Esau eines Tages müde und hungrig von der Jagd zurückkehrt und Jakob zufällig gerade etwas gekocht hat, nutzt Jakob die Situation für sich aus: Er erklärt Esau, dieser solle ihm sein Erstgeburtsrecht überlassen, dann bekomme er zu essen. Und Esau lässt sich tatsächlich darauf ein. Für ein Linsengericht!

Geradezu kriminelle Energie zeigt Jakob aber, als er, unterstützt von seiner Mutter, am Sterbebett seines Vaters den Bruder Esau um den väterlichen Segen bringt. Isaak, alt und blind, bittet Esau, ein Wild zu erlegen, damit Isaak, bevor er stirbt, noch einmal ein Wildgericht essen und dann Esau segnen kann.

Rebekka hat es mitgehört. Als Esau fortgeht zur Jagd, stiftet sie Jakob an, zwei Ziegenböcklein zu schlachten. Davon wolle sie Isaak ein schmackhaftes Gericht zubereiten. Jakob solle es auftischen und sich als Esau ausgeben, damit der blinde Isaak ihn, Jakob, segne.

Jakob wendet ein, der Betrug könne auffliegen, Isaak brauche ihn nur zu betasten, dann werde er an Jakobs glatter Haut erkennen, wen er vor sich habe, und er werde verflucht werden. Gewiss könne Isaak auch riechen, dass etwas nicht stimme. Doch dies hat Rebekka längst bedacht. Sie streift Jakob, als das Essen fertig ist, Esaus Kleider über, und dort, wo Jakobs glatte Haut zum Vorschein kommt, am Hals und an den Händen, befestigt sie Teile des Fells der Ziegenböcklein.

So geschieht es. Jakob trägt das Essen in Isaaks Sterbezimmer. Aber der alte Isaak scheint etwas zu ahnen, ist von Anfang an misstrauisch, fragt: Wer bist du? Und Jakob behauptet, er sei Esau. Verwundert fragt Isaak, wie er so schnell ein Wild erlegen konnte? Und geradezu gotteslästerlich lügt Jakob: Der Herr, dein Gott, ließ es mir begegnen.

Noch immer traut Isaak der Sache nicht, verlangt, seinen Sohn zu betasten, berührt das Ziegenfell und sagt verwundert: Die Stimme ist Jakobs Stimme, aber die Hände sind Esaus Hände. Jetzt will er an seinem Sohn riechen und bittet ihn näher zu kommen, damit er ihn küsse.

Und als Jakob sich über Isaak beugt und dieser Esaus Kleider riecht, scheint Isaak endgültig überzeugt zu sein, denn er ruft aus: Der Geruch meines Sohnes ist wie ein Geruch des Feldes, das Gott gesegnet hat. Gott gebe dir vom Tau des Himmels und vom fettesten Boden und Korn und Most in Fülle. Völker sollen dir dienen und Geschlechter sich vor dir beugen. Sei ein Herr über deine Brüder, und die Söhne deiner Mutter sollen sich vor dir beugen. Verflucht sei, wer dir flucht, und gesegnet sei, wer dich segnet.

Jakob ist am Ziel. Er hat den väterlichen Segen.

Doch dann kehrt Esau von der Jagd zurück, und der ganze Schwindel fliegt auf. Esau ist außer sich, bedrängt seinen Vater, auch ihn zu segnen, aber Isaak muss betrübt ablehnen. Das geht nicht. Zu spät. Jeder Vater hat nur einen Segen.

Nun hegt Esau Mord- und Rachegedanken, spricht wohl auch mit anderen darüber, denn die Nachricht wird Rebekka hinterbracht. Diese lässt Jakob sofort vom Feld holen, erzählt ihm von Esaus Plänen und schickt Jakob zu ihrem Bruder Laban, weit weg von zu Hause. Dort soll Jakob bleiben, bis sich Esaus Zorn gelegt hat und er vergisst, was Jakob ihm angetan hat.

Der Plan geht tatsächlich auf. Jakob flieht zu Laban. Es ist eine mehrtägige Reise. Unterwegs, als er sich nachts schlafen legt, träumt er von einer Leiter, die von der Erde bis in den Himmel reicht. Auf ihr steigen die Engel Gottes auf und nieder, und ganz oben steht Gott und sagt zu Jakob: Ich bin der Herr, der Gott deiner Väter Abraham und Isaak. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir geben, deine Nachkommen sollen so zahlreich sein wie der Staub der Erde, und in dir sollen gesegnet sein alle Geschlechter der Erde.

Wir fragen uns: Womit hat Jakob das verdient? Was denkt sich Gott eigentlich dabei? Jakob, der Lügner und Betrüger, ein Muttersöhnchen und ein kleiner Ganove, der seinen Bruder um seine Rechte prellt, wird der dritte Stammvater Israels und der Kirche. Darauf kann diese ja wahrlich nicht stolz sein. War es schon bei Abraham und Isaak schwer, zu erkennen, warum ausgerechnet sie die Stammväter Israels sein sollten, so stehen wir bei Jakob vollends vor einem Rätsel.

Natürlich gibt es eine Lösung, aber unsere Fragen kommen zu früh. Wir müssen, um die Geschichte zu verstehen, ihr noch weiter zuhören und erst einmal in Kauf nehmen, dass sie nicht besser wird, sondern droht, sich zu einer Soap zu entwickeln. In Isaaks und Rebekkas Sippe geht es zu wie im Denver-Clan.

Jakob ist, als er von seinem Traum erwacht, hin und her gerissen. Zwar sagt er ergriffen: Wie furchtgebietend ist diese Stätte. Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes, und dies ist die Pforte des Himmels. Und er richtet einen Gedenkstein auf und gibt dem Ort den Namen Bethel.

Doch er bleibt skeptisch. Es war ja nur ein Traum, und darum legt er ein für ihn typisches Gelübde ab, das eigentlich keines ist, sondern einem Kuhhandel gleicht: Wenn Gott mich behüten wird auf dem Weg, den ich gehe, und mir Brot zu essen geben wird und Kleider anzuziehen, und mich wieder mit Frieden heim zu meinem Vater bringt, so soll der Herr mein Gott sein.

Statt sich für die Sache Gottes in Dienst nehmen zu lassen, spannt Jakob Gott für seine Zwecke ein. Gott wird sich Mühe geben müssen, um Jakobs Krämerseele zufrieden zu stellen, und wir wundern uns immer mehr über Gottes seltsame Wahl.

In Haran wird Jakob nun zwanzig Jahre dem Laban dienen. Zwischen beiden knirscht es immer wieder. Laban, der in der stärkeren Position ist, trickst Jakob aus, wo er nur kann. Am Ende von Jakobs Dienstzeit kommt es mit Laban zum Streit darüber, wie viele Rinder, Ziegen, Schafe, Esel, Widder und Kamele Jakob mitnehmen darf. Sie handeln und feilschen, einigen sich am Ende, und Jakob kann mit seinen Frauen, Kindern und Mägden, reichlich versehen mit Gütern und einer großen Herde, endlich die Heimreise antreten.

Aber nun wartet Esau. Der hat nichts vergessen und zieht Jakob mit vierhundert Männern entgegen. Um Esau zu besänftigen, schickt Jakob ihm einen Teil seiner Herde als Geschenk, beginnt zu beten. Da geschieht wieder eine seltsame Geschichte.

Jakob hat seine Frauen, Kinder und das ganze Gesinde vorausgeschickt, und er bleibt in der Nacht allein zurück am Fluss Jabbok, wo er plötzlich in einen Ringkampf mit einem fremden Mann verwickelt wird. Beide sind ungefähr gleich stark, und so dauert der Kampf bis zur Morgenröte. Als der Fremde merkt, dass er Jakob nicht bezwingen kann, schlägt er ihn derart auf das Hüftgelenk, dass es verrenkt wird. Danach will der Fremde gehen, aber Jakob sagt, er lasse ihn nicht gehen, es sei denn, er segne ihn.

Der Fremde fragt: «Was ist dein Name?» Jakob nennt seinen Namen. Darauf der Fremde: «Dein Name soll nicht mehr Jakob sein, sondern Israel, denn du hast mit Gott und Menschen gekämpft und hast gewonnen.» Und tatsächlich segnet er Jakob, und dieser sagt: «Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist gerettet worden.»

Diese merkwürdige Geschichte macht uns nun vollends ratlos. Ergibt sie irgendeinen Sinn?