Von allen verlassen

Die Tage vor dem jüdischen Passahfest in Jerusalem sind Chaostage. Aus allen Himmelsrichtungen strömen die Pilger in die Stadt. Sie sind freudig erregt. Viele kommen in der Erwartung, dass etwas Aufregendes passiert, Zeichen und Wunder geschehen, vielleicht sogar der lange erwartete Messias erscheint und endlich sein neues Reich errichtet. Natürlich sind auch die Zeloten da, um Stimmung gegen die Römer zu machen und Kämpfer für den bewaffneten Aufstand zu rekrutieren. Die Jerusalemer Kaufleute dagegen erzielen an diesen Tagen ihre höchsten Umsätze und möchten bei ihren Geschäften nicht von den Verrückten gestört werden. Spannung liegt in der trockenen Luft. Der geringste Funke genügt, um ein Feuer zu entzünden.

Die Römer kennen das. Für sie heißt das: Die Sicherheitslage ist «angespannt». Mit größeren oder kleineren Scharmützeln ist immer zu rechnen, vielleicht sogar mit richtigen Aufständen. Darum kommt Roms Statthalter Pontius Pilatus, der sonst in Cäsarea residiert, nach Jerusalem und bringt viele Soldaten mit.

Auch die Pharisäer und Schriftgelehrten stehen unter Spannung. Was im Verlauf vieler Beratungen immer heftiger gefordert wurde – Jesus muss weg –, soll jetzt, kurz vor Passah, geschehen. Sie müssen Jesus in ihre Gewalt bringen, ohne viel Aufsehen zu erregen, denn er hat eine beträchtliche Zahl an Sympathisanten. Ausgerechnet so kurz vor Passah ist das riskant. Andererseits ist nur während der Festtage der römische Statthalter in Jerusalem, nur er kann ein Todesurteil verhängen, und darum muss es jetzt geschehen, schnell, und eben in aller Heimlichkeit.

Man müsste wissen, wo sich Jesus aufhält, was er vorhat, welche Plätze er aufsucht. Man bräuchte einen Verräter. Und findet ihn in Judas Ischariot, einem der zwölf Jünger. Für dreißig Silberlinge ist er bereit, die Häscher im richtigen Moment an den richtigen Ort zu führen. Da sie Jesus nicht kennen und daher nicht wissen, wen aus der Gruppe sie festnehmen sollen, sagt er: Der, den ich küssen werde, der ist es.

Am Donnerstag vor Passah, dem ersten Tag der ungesäuerten Brote, wird das Passahlamm geschlachtet. Abends trifft sich Jesus mit seinen Jüngern, um mit diesen im Haus eines Freundes das Mahl einzunehmen, das letzte Abendmahl.

Was von jetzt an geschieht, ist unklar. Weder Jesus noch die Jünger, außer Judas, werden an diesem Abend gewusst haben, dass dies ihr letztes gemeinsames Mahl ist. Auch vom Verräter Judas hat Jesus wahrscheinlich nichts gewusst.

Die Evangelien erzählen es anders. Sie wurden ja erst viel später geschrieben, und keineswegs von Zeitzeugen oder gar den Jüngern Jesu. Wer die Verfasser der Evangelien sind, wissen wir nicht genau, auch wenn durch die Namensgebung so getan wird, ein Mensch namens Markus habe das Markus-Evangelium geschrieben, und die Verfasser der anderen drei hießen Lukas, Matthäus und Johannes.

Auch die Entstehungszeiten der Evangelien kennen wir nicht genau. Vom Markus-Evangelium nehmen die Theologen an, es sei um 70 n. Chr. geschrieben worden, die anderen drei, Matthäus, Lukas und Johannes, noch später. Strittig ist die Entstehungszeit des Johannes-Evangeliums. Manche datieren es auf 70 n. Chr., andere auf 100 oder 150 n. Chr.

So lange nach den eigentlichen Geschehnissen ist es normal, dass es Widersprüche gibt. Schon die Zeitzeugen werden sich verschieden erinnert haben. Jene, die nicht mehr dabei waren und auf die bloßen Erzählungen angewiesen waren, haben beim Weitererzählen vielleicht andere Akzente gesetzt, manches in den Hintergrund gerückt oder ganz vergessen, anderes besonders herausgestellt, je nach der Situation, in der sie erzählten.

Und außerdem haben sie alle Geschichten vom eigentlichen Ereignis her erzählt. Dieses «Eigentliche» war nicht die Kreuzigung, auch nicht das Leben Jesu davor, sondern es war die Auferstehung. Sie stand im Mittelpunkt der Erzählungen, und es wurde nicht wertfrei erzählt, um etwa Geschichtsunterricht zu erteilen, sondern in der Absicht, Glauben zu wecken, die Menschen zu Christus zu bekehren. Historische Fakten traten daher zwangsläufig in den Hintergrund, bildeten oft nur noch den Anlass für Deutungen der Gemeinde, und diese Deutungen wurden als die eigentliche Wahrheit erzählt. Diese Deutungen sind auch die eigentliche Wahrheit der Christen.

Wenn also die Evangelien Jesus nun kurz vor seiner Gefangennahme als Herrn der Lage schildern, der genau weiß, was ihm bevorsteht und was er zu tun hat, dann ist das bereits Deutung, nicht mehr historisches Faktum. Dass er in Todesgefahr schwebt, wird Jesus wohl tatsächlich schon lange ahnen. Dass aber jener Donnerstag den Anfang vom Ende markieren sollte, dürfte auch ihn überrascht haben.

Letztlich ist es nicht so wichtig, letztlich hat es seine eigene – literarische – Wahrheit, wenn die Evangelien berichten, Jesus habe an jenem Abend das Brot gebrochen, den Segen gesprochen und an seine Jünger die berühmten Worte gerichtet: Nehmt, esst! Das ist mein Leib. Dann hat er den Kelch genommen, gedankt und gesagt: Trinkt alle daraus! Denn das ist mein Blut, das des neuen Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Seine Anhänger werden sich nach seinem Tod dieses letzten Abendmahls und seiner Worte erinnern, es jeden Sonntag feiern bis zum heutigen Tag und die Kirche als den «Leib Christi» verstehen.

Und auch das andere Wort bleibt unvergessen: Einer von euch wird mich verraten. Die Jünger verstehen es nicht, sind ganz aufgeregt, wollen wissen, wer es ist. Laut Markus und Lukas gibt Jesus darauf keine Antwort. Nach Matthäus deutet Jesus zweideutig an, dass es Judas ist. Nur bei Johannes wird Judas eindeutig geoutet: Der ist’s, dem ich den eingetauchten Bissen geben werde. Und er taucht den Bissen ein und gibt ihn Judas. Die Jünger sind aber nun offenbar so perplex, dass sie gar nicht glauben können, was sie gehört haben. Das erklärt vielleicht die unterschiedlichen Erinnerungen, die sie später daran haben.

Einen von ihnen, Petrus, treibt das soeben Erlebte besonders um. Darum möchte er mit Jesus darüber reden und ihm zugleich seine unverbrüchliche Treue versichern. Aber Jesus antwortet: Heute, in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.

Nach dem Essen zieht Jesus mit seinen Jüngern auf den Ölberg in einen Garten namens Gethsemane. Dort wollen sie sich offenbar zur Ruhe legen. Doch schon bald dringt eine mit Schlagstöcken bewaffnete Polizeitruppe in den Garten ein und überrascht Jesus und dessen Jünger. Judas tritt aus dem Polizeitrupp hervor, geht auf Jesus zu, sagt: «Sei gegrüßt, Rabbi» und gibt Jesus den Judaskuss. Jesus fragt: Freund, wozu bist du hier? Da traten sie hinzu, legten Hand an Jesus und nahmen ihn fest. Und seine Jünger fliehen entsetzt in alle Richtungen.

Ganz allein wird Jesus in der Nacht von Donnerstag auf Freitag in das Haus des amtierenden Hohenpriesters gebracht, und dort beginnt sofort das Verhör vor dem Hohen Rat. In diesem 71 Mitglieder umfassenden Gremium sitzen die führenden Vertreter des Volkes: die amtierenden und ehemaligen Hohepriester und die Inhaber wichtiger Tempelämter, beide überwiegend sadduzäisch orientiert, dazu die Schriftgelehrten, die überwiegend von den Pharisäern kamen.

Dass Jesus den herrschenden Kreisen in die Quere kommt, reicht nun aber nicht, um ihn hinzurichten. Man braucht schon eine handfeste Anklage und eine Verurteilung nach Recht und Gesetz. Das ist aber nicht so einfach. Was hat Jesus eigentlich verbrochen? Der Hohe Rat ist selber noch unsicher und vernimmt erst einmal die Belastungszeugen. Entlastungszeugen gibt es nicht. Die Jünger sind geflohen, und das Volk weiß nichts von Jesu Gefangennahme.

Petrus hätte aussagen können. Er war nicht, wie die anderen, bei der Verhaftung Jesu geflohen, sondern ist der Truppe, die Jesus abführte, gefolgt. Jetzt sitzt er ganz nah am Ort der Vernehmung im Vorhof des hohepriesterlichen Palasts bei den Dienern, wärmt sich dort am Feuer und wird von einer Magd als ein Freund des Galiläers erkannt. Er aber leugnete und sprach: Ich weiß nicht und verstehe auch nicht, was du sagst! Und er ging in den Vorhof hinaus, und der Hahn krähte. Und als die Magd ihn sah, begann sie wieder und sprach zu den Umstehenden: Dieser ist einer von ihnen. Er aber leugnete wiederum. Nach einer Weile behaupten andere, er sei ein Anhänger des Angeklagten. Wieder sagt Petrus: Ich kenne diesen Menschen nicht, von dem ihr redet. Da krähte der Hahn zum zweiten Mal. Und Petrus beginnt zu weinen.

Wer diese ergreifende Szene zu wörtlich als Beleg für das Versagen des Petrus liest, wird ihm nicht gerecht und verpasst ein paar wichtige Nebenaspekte. Die Quelle dieser Szene konnte ja nur Petrus selber sein. Er hätte das leicht verschweigen können. Und selbst wenn andere es den Jüngern zugetragen hätten, hätte er sagen können: Was wollt ihr, die ihr alle davongelaufen seid!? Ich bin Jesus immerhin gefolgt, habe mich in Gefahr begeben, um zu sehen, was sie mit ihm machen. Als die Magd mich erkannte, hätte ich da sagen sollen, ja, ich sei auch einer von den Anhängern des Angeklagten? Sie hätten mich doch sofort geschnappt und ebenfalls verurteilt. Was wäre damit gewonnen gewesen?

All das sagt Petrus nicht, denn er erkennt hinterher, nach Jesu Tod: Wenn ich und wenn die anderen den Mut gehabt hätten, als Zeugen vor dem Hohen Rat und vor Pontius Pilatus auszusagen, wäre es viel schwerer, ja vielleicht sogar unmöglich gewesen, Jesus zum Tod zu verurteilen. Wegen dieses Versagens und weil er weiß, dass die Christenheit immer in der Gefahr steht zu versagen, klagt sich Petrus später – wahrscheinlich sogar öffentlich – selber an und vergisst es nie.

Jesus steht verlassen vor dem Hohen Rat. Dieser wirft ihm «Verführung des Volkes» vor, was allerdings schwer zu beweisen ist. Einfacher ist es, Jesus des Verstoßes gegen bestehende Gesetze und Vergehen gegen den Tempel zu bezichtigen. Das kann man sogar als Gotteslästerung interpretieren. Aber geben die Zeugenaussagen das her? Die Ratsmitglieder merken, dass die Zeugen einander widersprechen und manche auch einfach nur lügen.

Darum wird jetzt Jesus vernommen. Vielleicht verrät er sich ja selbst. Kajaphas, der Vorsitzende, fragt: «Bist du der Christus, der Sohn Gottes?» Kajaphas greift damit Meinungen und Gerüchte auf, die über Jesus in Umlauf sind. Jesus selbst hat bis zu diesem Zeitpunkt nicht gesagt, dass er der Messias oder Sohn Gottes sei, sondern auf entsprechende Fragen immer mit Gegenfragen oder ausweichend geantwortet. Jetzt aber sagt er: «Ja, ich bin es.»

Viele Theologen meinen heute, das habe er nicht wirklich gesagt, das sei ihm von den Evangelisten in den Mund gelegt worden. Tatsächlich scheint Jesus nicht alles, was die Evangelien berichten, wirklich geäußert zu haben. Es war damals, als die Evangelien geschrieben wurden, auch in außerbiblischen Zusammenhängen durchaus üblich, bestimmten Lehrmeistern Worte in den Mund zu legen, die sie gesagt haben könnten, aber nicht gesagt haben.

Es gibt also keine letzte Sicherheit über Jesu Worte, auch nicht über sein Messiasbekenntnis vor dem Hohen Rat. Aber: Genau wegen dieses Bekenntnisses wird er zum Tod verurteilt. Die Mitglieder des Hohen Rates sind keine Rechtsbeuger. Der Tod Jesu mag ihnen politisch gut in den Kram passen und im Einklang mit ihren religiösen und privaten Interessen stehen, aber aus diesen Gründen allein hätten sie ihn nicht zur Hinrichtung gebracht. So unanständig wären sie nicht gewesen. Jesus muss ihnen einen handfesten Grund geliefert haben, und da kommt sein messianisches Sendungsbewusstsein gerade recht.

Der Hohe Rat hatte nun zwei Möglichkeiten: entweder Jesus zu glauben oder ihm nicht zu glauben. Jesus zu glauben wäre einer Revolution gleichgekommen – und hätte eine Selbstentmachtung der Mächtigen bedeutet. Diese aber sind auch nur Menschen. Zu erwarten, dass sie, die Folgen bedenkend und in Kauf nehmend, Jesus glauben, wäre zu viel erwartet.

Man muss ihnen aber auch zugute halten: Warum hätten sie Jesus denn glauben sollen? Nicht nur die Mitglieder des Hohen Rates, sondern die meisten Angehörigen des Volkes Israel haben sich den Messias etwas anders vorgestellt. Sie haben einen mächtigen Herrscher erwartet, der mit großem Getöse die Römer vertreibt und ein neues davidisches Reich errichtet.

Diese Vorstellungen waren mit der Person Jesu nicht in Einklang zu bringen. Niemand, nicht einmal die Jünger, hatte zu diesem Zeitpunkt begriffen, dass nicht die Menschen darüber zu befinden haben, wie ein Messias zu sein hat, sondern Gott. Und Gottes Entscheidung, dass der Messias genau so zu sein hat wie Jesus, ja, dass er es tatsächlich sei, ist für viele noch heute kaum zu begreifen.

Für den Hohen Rat ist der Fall also klar. Da dieser Jesus nicht der Messias sein kann, aber behauptet, es zu sein, ist er ein anmaßender Gotteslästerer. In solch einem Fall erzwingt das Gesetz die Verhängung der Todesstrafe. Israels oberste Behörden haben gar keine andere Wahl. Sie verurteilen Jesus zum Tode.

Doch Israels Mächtige sind keine souveränen Herrscher, sondern eine Regierung von Roms Gnaden. Was sie dürfen und was nicht, wird ihnen vom römischen Recht diktiert. Todesurteile dürfen sie nicht vollstrecken. Deshalb muss Jesus zum römischen Statthalter Pontius Pilatus gebracht werden, damit dieser das Todesurteil nach römischem Recht bestätige und dessen Vollstreckung anordne.

Die Mitglieder des Hohen Rates wissen: Den Römern sind die innerreligiösen Angelegenheiten Israels ziemlich egal. Dass sie einen Juden hinrichten, weil er der Gotteslästerung für schuldig befunden wurde, ist keineswegs sicher. Deshalb ändert der Hohe Rat den Verurteilungsgrund so, dass auch Pilatus beeindruckt sein muss. Sie machen aus Jesus, dem falschen Messias und Verführer des Volkes, einen politischen Aufwiegler, der sich als Messias-König ausgibt – und damit beginnt nun ein zynisches Spiel der Mächte, zu dessen Spielball Jesus wird.

Mit Messias-Königen haben die Römer Erfahrungen, und zwar schlechte. Messias-Könige hetzen die Bevölkerung gegen Rom auf, und darauf reagiert die Besatzungsmacht empfindlich. Mitglieder des Hohen Rates können sich also des Interesses von Pontius Pilatus sicher sein, als sie ihm am Freitagmorgen einen Messias-König bringen.

Pilatus sieht ihn sich an, erkennt schnell, dass das bekannte «Täter-Profil» nicht auf Jesus passt, und denkt: Offenbar will mich die jüdische Behörde benutzen, um einen missliebigen Galiläer ans Kreuz zu bringen. Andererseits kann er sich nicht einfach über die jüdischen Behörden hinwegsetzen. Er ist verpflichtet, alles sorgfältig zu prüfen, und braucht dazu einen wirklichen Beweis, dass Jesus tatsächlich ein politischer Umstürzler ist. Dieser Beweis kann nicht erbracht werden.

Pilatus ist überzeugt, dass an dem Vorwurf nichts dran ist. Er folgert auch ganz richtig: Wenn dieser Galiläer ein Aufwiegler ist, warum ist er dann noch nie mit dem galiläischen König Herodes Antipas in Konflikt gekommen? Pilatus tendiert zum Freispruch, braucht aber eine überzeugende Begründung und kommt auf die Idee, Jesus erst einmal vor Herodes zu bringen. Wenn dieser, wie Pilatus es erwartet, nichts Negatives über Jesus vorzubringen hat, kann er Jesus freisprechen.

Herodes sieht sich Jesus an, spricht mit ihm, befragt ihn und amüsiert sich. Nach den in seiner kleinen Welt gebildeten Maßstäben eines Klein-Herrschers vermag Herodes in Jesus nur eine närrische Figur zu erkennen, von der keinerlei Gefahr ausgeht und die dem allgemeinen Gespött preisgegeben werden kann. Herodes lässt Jesus ein verschlissenes Prunkgewand umhängen und schickt ihn unter dem Gejohle seiner Höflinge wieder zu Pilatus.

Jetzt weiß Pilatus: Dieser Jesus ist freizusprechen. Aber Pilatus ist viel zu sehr Politiker und Karrierist, als dass er einfach das Gebotene täte, ohne einen Vorteil daraus zu ziehen. Irgendein Nutzen muss sich damit verbinden lassen, und Pilatus weiß auch schon, welcher. Der Nutzen hört auf den Namen Barrabas.

Barrabas ist im Gegensatz zu Jesus ein echter Aufwiegler und deshalb vor kurzem festgenommen und verurteilt worden. Nun gibt es aber in Israel den Brauch, am Passahfest einen Gefangenen freizulassen. Für diesen Gefangenen muss es ein Amnestieersuchen geben, und das liegt vor – für Barrabas, jenen Terroristen, den Pilatus lieber am Kreuz gesehen hätte. Nicht weil Pilatus ein unstillbarer Drang nach Gerechtigkeit umtreiben würde, sondern weil er in Rom nicht negativ auffallen möchte.

Die persönlichen Schicksale von Jesus und Barrabas interessieren ihn nicht. Umso mehr sein Ansehen beim Kaiser, und das hängt davon ab, wie gut er seinen Job verrichtet. Der besteht darin, als mittleres Rad im Getriebe der römischen Herrschaftsmaschinerie möglichst störungsfrei und reibungslos zu funktionieren. Dafür hat er in Palästina für Ruhe und Ordnung zu sorgen und den steten Fluss der Steuergelder nach Rom zu garantieren.

Deshalb muss er vor allem die jüdische Widerspenstigkeit unter Kontrolle haben. Daher kreuzigt er lieber einen echten Aufrührer als einen harmlosen Wanderprediger, und das bringt ihn auf die Idee eines Tauschhandels: Jesus wird freigelassen, Barrabas gekreuzigt.

Zu Pilatus’ Überaschung beharren aber die Juden auf Jesu Kreuzigung. Nun muss er Barrabas freilassen, und damit hat sich der überschlaue Taktiker Pilatus selbst ausgetrickst. Indem er den nach seiner Überzeugung unschuldigen Jesus für den schuldigen Barrabas anbietet, stellt er beide auf die gleiche Stufe und macht damit, offenbar ohne es zu merken, auch Jesus zum Schuldigen – ein Unschuldiger bedarf keiner Amnestie, sondern ist einfach freizusprechen.

Nun aber kann Pilatus nicht mehr zurück. Jetzt muss er Jesus verurteilen. Die Würfel sind gefallen. Am Freitag, vermutlich dem 7. April des Jahres 30 n. Chr., vielleicht auch 31 oder 33 n. Chr., wird Jesus auf dem Hügel Golgatha gekreuzigt. Sein Todeskampf dauert sechs Stunden.