Die Sozialordnung Gottes

In Ägypten und in den kanaanäischen Königsdiktaturen hatten die Mitglieder des neuen Bundes erfahren, dass es zwei Arten von Menschen gibt: jene, die die Peitsche schwingen, und jene, die sie erleiden müssen – gegen diese scheinbar natürliche Ordnung der Welt setzte Israel sein großes «Hier nicht!».

Die Herrschaft des Rechts der Stärkeren mag den anderen als natürlich erscheinen, als göttlich akzeptieren wir sie nicht, sagte Israel. Wenn diese einfältige Lösung des Problems des menschlichen Zusammenlebens rings um uns her und auf der ganzen Welt als der Weisheit letzter Schluss gilt, dann soll es bei uns damit ein Ende haben. Und wenn alle Welt glaubt, dass es zum herrschenden Modell keine praktikable Alternative gebe, dann werden wir der Welt beweisen, dass es eine gibt. Bei uns herrscht kein Despot, sondern Gott. Wir haben keinen König, brauchen keinen König, keinen Staat und keinen Führer, weil Gott unser Führer ist. Die Stämme und Sippen schlossen sich freiwillig zusammen – als Gegenmodell zu den kanaanäischen Königsdiktaturen.

Ab jetzt, so sagte Israel, gibt es eine Alternative, und das sind wir. Die anderen beten viele Götter an, wir nur einen. Die anderen danken Gott für den Weizen, die Ernte, den Kindersegen, wir danken Gott für die Herausführung aus Ägypten, die Zehn Gebote und das Gesetz. Die anderen glauben an die ewige Wiederkehr des Gleichen, wir glauben an eine nach vorn offene Geschichte mit Gott. Die anderen vergaßen ihre Herkunft, und je mehr Macht sie hatten, desto mehr logen sie ihre Abstammung zum Himmel empor. Israel vergaß nie, woher es kam. Israels Herkunft von ganz unten war und blieb Mittelpunkt seines regelmäßig wiederholten Urbekenntnisses. Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenstaat, so werden die Zehn Gebote eingeleitet. Der Kern dieser Gebote ist keine Neuerfindung des Gottesvolkes.  Dass man nicht lügen, nicht stehlen, nicht morden und nicht betrügen soll, galt schon lange vor den Juden in anderen Kulturen ebenso. Aber diese «Allerweltsethik» wird von den Juden in drei Punkten entscheidend umgeformt: Erstens knüpft die jüdische Theologie die Zehn Gebote an den Exodus und die Wüstenzeit. Das Gesetz der Wüste – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – soll auch im Kulturland weiter gelten. Zweitens weiß Israel, dass es diese Gebote nur halten kann, wenn es nicht seinen Willen, sondern Gottes Willen tut, deshalb geht es in den drei wichtigsten Geboten ausschließlich um das Verhältnis des Volkes zu seinem Gott – es soll keine anderen Götter neben ihm verehren, den Namen seines Gottes nicht missbrauchen und, das ist die dritte Neuerung, den Sabbat heiligen.

Danach erst folgen die übrigen Gebote, die das Verhältnis der Menschen untereinander regeln. Aber auch diese Gebote werden nicht aus irgendwelchen Prinzipien abgeleitet, sondern aus der Urerfahrung Israels, dem Exodus.

Wenn dich morgen dein Sohn fragt: Warum haltet ihr euch an die Satzungen, Gesetze und Rechtsbestimmungen, unter die der Herr, unser Gott, euch gestellt hat?, dann sollst du deinem Sohn antworten: Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten, und es war der Herr, der uns mit starker Hand aus Ägypten geführt hat. So, sagt Gott, sollt ihr eure Kinder lehren, und diese sollen es ihren Kindern weitersagen.

Nicht, um das Volk klein zu machen vor Gott, ist diese Erinnerung so wichtig, sondern um die Sozialordnung Gottes zu etablieren. Die Erfahrungen der Sklaven in Ägypten formen die Gesetze im Gelobten Land. Den Fremdling sollst du nicht bedrängen noch bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen im Land Ägypten.

Nicht dazuzugehören, von den herrschenden Mächten ausgeschlossen zu werden, vielen Herren dienen zu müssen, sein Leben am Rande etablierter Gesellschaften fristen zu müssen, «unten» zu sein, führt zu einer Existenzform, in der man aus großen Distanz auf «die da oben» schaut, und diese Distanz schärft den Blick. Das einst versklavte Volk hatte erkannt: Die Herrschaft der Starken über die Schwachen ist eine natürliche Folge der natürlichen Ungleichheit zwischen den Menschen. Es wird immer Menschen geben, die Glück haben, während andere vom Pech verfolgt sind. Die einen sind intelligenter, fleißiger, größer, schöner als die anderen. Daraus erwachsen Rivalität, Neid und Gewalt. Aber vor Gott sind alle gleich. Ihm ist jeder gleich viel wert, und das muss sich auswirken auf das Zusammenleben der Menschen. Also muss der Starke dem Schwachen helfen, statt ihn zu unterdrücken und auszubeuten. Also müssen die natürlichen Ungleichheiten so weit wie möglich korrigiert werden. Ohne Umverteilungen geht es nicht.

Darum erfand Israel das «Sabbatjahr», ein sensationelles Instrument der Sozialpolitik. Alle sieben Jahre mussten in Israel den Schuldnern die Schulden erlassen werden, wurde die Verteilung des Ackerlandes neu verlost, wieder Gleichstand hergestellt. Danach konnte das Monopoly von neuem beginnen, aber nach sieben Jahren erhielt der Verarmte zurück, was er an den Reichen verloren hatte. Damit wurde der Abstand des vom Schicksal Benachteiligten zum Begünstigten wieder aufgehoben oder zumindest verringert. Gleiche Startchancen für alle, zumindest alle sieben Jahre. So bekämpfte Israel die Macht des Schicksals.

Gewiss: eine Lösung, die den Einzelnen nicht gerade zu Höchstleistungen anspornt, und darum würde, wer heute deren Praktizierung vorschlüge, von sämtlichen Unternehmern oder Wirtschaftspolitikern, wenn nicht gesteinigt, so doch mindestens ins Irrenhaus abgeschoben. Nur: Es gab in Israel vermutlich weniger Unglückliche als bei uns, wo nur die ersten Sieger wirklich glücklich sind, und auch diese nur so lange, bis sie von neuen Siegern vom Podest gestoßen werden.

Damit soll nicht die Rückkehr zur israelischen Antike verlangt werden, aber zumindest die Gebildeten unter den Verächtern der Gleichheit könnten sich angesichts der altisraelischen Sozialpolitik vielleicht wieder für den Gedanken öffnen, dass es auch heute noch einen tieferen Grund gibt, die Trias «Gleichheit – Freiheit – Brüderlichkeit» als Einheit aufzufassen, aus der man nicht willkürlich ein Stück herausbrechen kann, ohne die anderen beiden zu gefährden. Von den rund sechs Milliarden Menschen, die derzeit die Erde bevölkern, leben fünf Milliarden in den armen Ländern. Eine Milliarde davon muss täglich mit weniger als einem Dollar auskommen. Die 15 Prozent wohlhabenden Menschen dieser Welt verfügen über 80 Prozent des weltweit verfügbaren Einkommens. Man muss diese Zahlenkolonnen hier nicht fortsetzen, sie sind bekannt – doch so lange sich die Schere zwischen Arm und Reich nicht schließt, so lange wir die wachsende Ungleichheit dulden, wird es Freiheit und Brüderlichkeit auf diesem Planeten nicht geben. Und Frieden schon gar nicht.

Das Sabbatjahr war indes nicht die einzige sozialpolitische Maßnahme. Es galt auch das Gesetz: Ihr sollt keine Witwen und Waisen bedrücken. Und wenn ein Schuldner dem Gläubiger das einzige Obergewand als Pfand gegeben hatte, so musste der Gläubiger das Pfand vor Sonnenuntergang wieder zurückbringen, damit der Schuldner in der Nacht nicht friere. Tags darauf durfte das Gewand vom Gläubiger wieder zurückgefordert werden, bis zum nächsten Sonnenuntergang.

Vollends zur Katastrophe als Finanzplatz und Wirtschaftsstandort wurde Israel durch das Zinsverbot: Wenn dein Bruder verarmt neben dir und sich nicht mehr halten kann, so sollst du ihm Hilfe leisten, er sei ein Fremdling oder Beisasse, damit er bei dir leben kann. Du sollst ihm dein Geld nicht auf Zins geben noch deine Nahrungsmittel um einen Wucherpreis. Sogar das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ist schon eingeführt, und zwar schärfer als heute. Gerichtsvollzieher hätten in Israel keine Chance gehabt, ins Haus zu kommen: Wenn du deinem Nächsten irgendein Darlehen gewährst, so sollst du nicht in sein Haus gehen, um ihm ein Pfand abzunehmen, sondern draußen stehen bleiben. Der, dem du borgst, soll das Pfand zu dir herausbringen.

Ökonomisch, wissenschaftlich, technisch hat uns Israel nichts hinterlassen, was erwähnenswert wäre. Der gesellschaftliche Fortschritt jedoch, der von Israel ausging, bestimmt noch heute das Antlitz Europas. Und schuf im übrigen auch die Voraussetzung für die ökonomischen und wissenschaftlichen Errungenschaften Europas und der westlichen Welt. Die israelischen Rebellen kannten die bewunderungswürdigen Kulturleistungen der alten Völker, sahen aber auch ganz nüchtern die Armeen versklavter Menschen, aus deren Blut und Schweiß die herrlichen Blüten der Kunst und des Geistes gewachsen waren. Kultur war bei diesen Völkern nur möglich auf der Grundlage einer ausgebeuteten, selber von Kultur ausgeschlossenen Masse. Noch Friedrich Nietzsche hielt diesen Zusammenhang für eine Art Naturgesetz. Kultur ist für ihn an die Existenz einer Herrenklasse gebunden. Kultur setzt freie Zeit, Muße, Geld und Macht voraus. Sie erfordert Bildung, Geschmack und ein sicheres Urteil. Diener, Lakaien, Sklaven seien dazu nicht in der Lage und darum tunlichst mit sozialen Wohltaten nicht zu behelligen. Weil Nietzsche glaubte, dass die Menschen entweder zum Herrschen oder zum Dienen geboren werden, lehnte er Gleichheit und soziale Gerechtigkeit als naturwidrig ab.

Da waren die ehemaligen Sklaven aus Ägypten Nietzsche um mehrere Jahrtausende voraus. Ihm sagen sie: Wenn nicht ein Despot, sondern Gott über uns herrscht, dann stehen Gleichheit und soziale Gerechtigkeit nicht im Widerspruch zu Kunst und Kultur, sondern bedingen einander.

Den Beweis dieser These erbrachte Israel mit einer der größten kulturhistorischen Errungenschaften unserer Zivilisation: dem Sabbat. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht der Fremdling. Und wieder geht es nicht ohne die stereotype Erinnerung: Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und gestrecktem Arm. Mit dem Sabbat kam ein völlig neues Verhältnis von Arbeit und Muße in die Welt. Sechs Tage in der Woche arbeitete Israel. Ganz Israel. Es gab keine Oberschicht, die der Arbeit enthoben war. Sechs Tage in der Woche gehörte ganz Israel zur Unterschicht. Aber am siebten Tag gehörte ganz Israel zur Oberschicht, war jeder und jede ein Herr und eine Herrin, sogar der Knecht und die Magd, ja sogar die Tiere.

Am Sabbat erinnerte sich Israel seiner Geschichte. Man erzählte einander, las in alten Texten, lernte sie auswendig, versammelte sich öffentlich, um durch Gesang und kultische Handlungen die Taten Gottes zu rühmen. Alle versammelten sich. Alle kamen in den Genuss von Literatur und Kunst. Bildung für alle war nie beabsichtigt, sondern ergab sich als Nebenwirkung der gemeinsamen Sabbatheiligung. Durch sie lernte das Volk, dass es sich Voraussetzungen verdankt, die es selbst nicht geschaffen hat und selbst niemals schaffen kann. Seitdem stehen der Sabbat und der Sonntag stellvertretend für alles Humane, alles Soziale, alles Recht, das der von Natur aus barbarischen Wirklichkeit abgetrotzt wurde und immer wieder neu abgetrotzt werden muss.

Der Sinn des Sabbats war nicht das Ausruhen, sondern die Alleinverehrung Gottes. Sie ist noch wichtiger als die Erinnerung an Ägypten. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Dieser Alleinverehrungsanspruch ist nicht bloß ideell oder irgendwie spirituell gemeint, sondern ganz real und alltäglich. Darum gilt, was sonntags gesagt wird, auch werktags. Schärfer noch: Was am Sabbat gesagt und getan wird, gestaltet das gesamte Leben an den übrigen Tagen der Woche. Alle Bereiche des Lebens werden von den Inhalten und dem Sinn des Sabbats durchdrungen. Das wiederum hat eine Fülle von Vorschriften zur Folge, die sich bis auf die Behandlung des Viehs, den Bau von Dachterrassen, die Rasur, den Haarschnitt und die Zubereitung von Speisen erstrecken.

Wer darüber erschrickt, muss sich an Israels Daseinszweck erinnern, die Verwirklichung der göttlichen Utopie. Woher soll Israel wissen, wie das geht? Dazu bedarf es einer Handlungsanleitung. Israel muss wissen, was von morgens bis abends zu tun ist, um das große Ziel zu erreichen, und eben dafür gibt es die Tora, das Gesetz. Daher scheut die göttliche «Regulierungswut» nicht einmal vor Anweisungen zur Beseitigung der Notdurft zurück und geht damit sogar dem ordentlichen deutschen Professor Hegel zu weit, der naserümpfend dekretierte: «Es wäre besser gewesen, wenn Gott den Juden Belehrung über die Unsterblichkeit der Seele gegeben hätte, als dass er sie lehrte, auf den Abtritt zu gehen.»

Hier irrt der Professor, weil er vielleicht verdrängt, dass seine gedankenschweren Spekulationen über das Ziel der Geschichte ja eigentlich nur ein verspätetes Aha-Erlebnis sind. Dass die Geschichte ein Ziel kennt, ist schließlich eine Idee, auf die Israel das Copyright hat und nicht der deutsche Professor. Und dessen aschfahl-klapperdürre Zielvorgabe – der bleiche Weltgeist möge zu sich selber kommen – lässt ihn ebenfalls ein bisschen matt dastehen vor der saftig-sinnenfrohen Vorgabe der alten Steineklopfer-Truppe:

Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde. Der Herr der Heerscharen wird auf dem Berg allen Völkern ein Mahl von fetten, markigen Speisen bereiten, ein Mahl von alten, geläuterten Weinen. Er wird den Tod auf ewig verschlingen und die Tränen abwischen von allen Gesichtern. Und er wird Recht sprechen und viele Völker zurechtweisen, sodass sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden werden und ihre Speere zu Rebmessern. Sie werden den Krieg nicht mehr erlernen. Da wird der Wolf bei dem Lämmlein wohnen und der Leopard sich bei dem Böcklein niederlegen. Das Kalb, der junge Löwe und das Mastvieh werden beieinander sein, und ein kleiner Knabe wird sie treiben. Die Kuh und die Bärin werden miteinander weiden und ihre Jungen zusammen lagern, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rindvieh. Der Säugling wird spielen am Schlupfloch der Natter, und der Entwöhnte seine Hand nach der Höhle der Otter ausstrecken. Sie werden nichts Böses tun noch Verderben anrichten auf dem ganzen Berg meines Heiligtums; denn die Erde wird erfüllt sein von der Erkenntnis des Herrn, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken. So sieht das Ziel der Geschichte im Alten Testament aus.