Abraham: Als Gott alles auf einen Menschen setzte

Gottes Utopie

Die Urgeschichte ist zu Ende. Die Vätergeschichte beginnt. Die Urgeschichte war eine Geschichte von Sünde und Verfall und wenig Hoffnung. Die Vertreibung aus dem Paradies war vergebens. Nichts haben die Menschen aus der Sintflut gelernt, nichts aus der babylonischen Sprachverwirrung. Gott schuf den Menschen und gab ihm Freiheit. Aber von dieser Freiheit wusste der Mensch keinen rechten Gebrauch zu machen. Am Ende der Urgeschichte schien Gott sich resigniert damit abzufinden.

Aber jetzt, am Beginn der Vätergeschichte, kündigt sich an, dass Gott die Hoffnung nicht aufgegeben hat. Gott glaubt weiterhin an den Menschen, glaubt, dass dieser noch lernt, wie er leben muss, damit sein Leben gelingt. Um dies den Menschen beizubringen, entwickelt Gott einen Plan, ja, eine Utopie. Um sie verwirklichen zu können, braucht er einen Menschen, Abraham. Deshalb beginnt die Vätergeschichte mit der Berufung Abrahams.

Und Gott sprach zu Abraham: Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.

Aus Abraham soll ein Volk werden, das Volk Gottes, das nach seinem Willen lebt. Gott braucht dieses Volk, damit es allen anderen Völkern zeigt, wie er sich das Miteinander der Menschen vorstellt. Und dass es noch etwas anderes gibt, als jenen auf Gewalt beruhenden Normalzustand, in dem die Starken die Schwachen ausbeuten und unterdrücken.

Mit Abraham legt Gott den Keim der Kirche. Sie ist nicht nur für die Juden und Christen da, sondern für die Heiden, Sünder, und überhaupt für alle Völker dieser Welt. Das ist gemeint mit der Formel und sollst ein Segen sein und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Das Volk Gottes soll durch seine Existenz beweisen, dass das, wovon die Urgeschichte handelt, die endlose Verkettung aus Hass und Gewalt, durchbrochen werden kann. Und zwar hier und jetzt auf der Erde und nicht erst in einem zukünftigen Jenseits.

Gott will eine andere Welt, dazu musste er sich die Kirche, sein Volk Gottes, erfinden. Es ist sein Werkzeug für die Verwirklichung seiner Utopie. Wie Gott sein Vorhaben ins Werk setzt, ist bemerkenswert. Drei Dinge fallen auf. Erstens: Er, der Allmächtige, könnte ja genau so, wie er durchs bloße Wort die Welt und die Menschen schuf, die Kirche erschaffen und die Menschen durchs bloße Wort bekehren. Das tut er nicht, denn er möchte, dass der Mensch sich Gottes Plan aus freien Stücken zu Eigen macht und mit Leben erfüllt. Gott riskiert bewusst, dass der Mensch nein sagt, seine Freiheit missbraucht und sich zu einem kalt berechnenden Wesen entwickelt, das tierischer handelt als jedes Tier – dass dies geschieht, erleben wir bis zum heutigen Tag. Aber ohne diese Möglichkeit wären wir keine Menschen, sondern programmierte Automaten ohne eigene Würde.

Weil Gott auf den freien Entschluss des Menschen setzt, ist der Allmächtige letztlich ohnmächtig. Gott will handeln, aber das gelingt nur, wenn die Menschen es zulassen. Nur durch sie kann Gott ins Weltgeschehen eingreifen. Vor diesem Hintergrund ist die oft gestellte Frage: «Wo war Gott in Auschwitz?» einfach falsch gestellt, denn die Frage kann nur lauten: Wo war der Mensch? Und schärfer noch: Wo war die Kirche? Wo waren die Christen?

Zweitens: Gott fordert Abraham auf, seine Heimat, seine Verwandten und seine Freunde zu verlassen und in eine unbekannte Fremde zu ziehen. Gott sagt nicht: «Versammle Gleichgesinnte in deiner Heimatstadt Ur und versuche, die Verhältnisse zu ändern, strebe nach politischer Macht, werde König und setze Reformen durch.» Gott stiftet Abraham auch nicht an, mit einer Schar Rebellen eine Revolution anzuzetteln, das alte System zu zerschlagen und ein neues zu etablieren. Gott sagt, gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.

Heraus aus allem Vertrauten. Fort aus der Heimat und dem Bestehenden, vorwärts in eine neue, ganz andere Zukunft! Auszug, Umkehr, Exodus: Das ist Gottes Parole für die Lösung der Probleme der Welt und die Erlösung des Menschen. Wir werden dieser Lösung noch öfter begegnen in der Bibel.

Drittens: Gott wählt einen ganz konkreten Ort, eine ganz bestimmte Zeit, einen einzelnen Menschen. Er hätte es ja auch zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten mit verschiedenen Menschen probieren können. Er hätte sich den Chinesen, Persern, Griechen, Inkas und Mayas offenbaren können. Doch nur Abraham sucht er sich aus. Ihn macht er zum Stammvater der Juden, Christen und Muslime, weshalb die drei Religionen als «abrahamitische Religionen» bezeichnet werden. Auch dies, dass nämlich Gott an einem einzigen Ort, zu einer ganz bestimmten Zeit, mit einem einzigen Menschen in die Welt eingreift, werden wir noch öfter erleben.

Und Gott lässt sich Zeit. Es dauert viele Jahrhunderte, bis aus Abraham wirklich ein Volk geworden ist. Es dauert Jahrtausende, bis die ganze Welt davon erfährt. Und dass dieses Volk so lebt, wie Gott es sich vorgestellt hat, dass es sich überhaupt als unterschiedenes, von Gott aus der Völkergemeinschaft herausgenommenes Volk begreift, darauf wartet die Welt noch heute.

 

Warum gerade Abraham? Was zeichnet ihn vor allen anderen aus? Wie ging es überhaupt zu bei der Berufung Abrahams? Hat Gott durch eine Wolke zu ihm gesprochen? Hat nur er diese Stimme gehört? Hat Gott es auch bei anderen versucht? Wir wissen es nicht. Darüber berichtet die Bibel keine Einzelheiten. Außerbiblische Zeugnisse über Abraham gibt es nicht. Wir wissen nicht einmal, ob es sich um eine historische Figur handelt, die wirklich gelebt hat. Und der Herr sprach zu Abraham – das ist mythische Sprache, keine Sprache der Berichterstatter. Noch immer bewegen wir uns in Mythen, Sagen und Legenden mit nur vagen historischen Anhaltspunkten. Sehr wahrscheinlich ist Abraham eine literarische Erfindung. Mit ihr werden wichtige theologische Erfahrungen verdichtet und Fragen beantwortet: Was zeichnet einen Menschen aus, auf den Gott alles setzt?

Und wir erfahren: Man muss kein besonders edler Mensch sein, denn Abraham war es auch nicht. Es bedarf keines Heldenmutes, denn Abraham hatte ihn auch nicht. Als Mann von Charisma, der seine Mitmenschen begeistert, glänzt er ebenso wenig. Abraham ist ein Land suchender Randnomade aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus. Was ihn auszeichnet, ist seine Einsicht, dass der heidnische Götterglauben hohl ist. Abraham hatte kritisch zu betrachten gelernt, wie das System funktioniert, und wohin es führt. In dieser Erkenntnis begegnet ihm der neue Gott, der in ein neues, besseres System hineinführt. Nur diesem neuen Gott will Abraham künftig folgen.

Als 75-Jähriger zieht er weg aus seiner Heimat, nimmt seine Frau Sara mit, die unfruchtbar ist, und seinen Neffen Lot. Mit all ihrer Habe, ihren Herden, ihrem Gesinde, ziehen sie nach Kanaan. Dort verheißt Gott Abraham zum zweiten Mal eine große Nachkommenschaft.

Abraham fragt nicht, wie das zugehen soll mit seiner unfruchtbaren 75-jährigen Sara. Er stellt überhaupt wenig Fragen, redet nichts, baut aber seinem Gott, der noch keinen Namen hat, einen Altar. Abraham ist noch kein Monotheist, also jemand, der nur an einen einzigen Gott glaubt. Den Gedanken, dass sein Gott der Einzige sei, kann er noch nicht denken, nur, dass sein Gott der einzig Richtige sei unter all den anderen Göttern.

Das Land, in das dieser Gott ihn führte, erweist sich als Flop. Eine Hungersnot bricht aus, und von einer Schwangerschaft Saras ist nichts zu sehen. Abraham und Lot ziehen nach Ägypten, bleiben dort längere Zeit, vermehren ihren Wohlstand, also ihre Herden, und ziehen dann wieder Richtung Kanaan, wo Abraham einen Altar errichtet hatte. Dort trennt er sich von Lot, weil das Land nicht reicht für die Herden beider.

Über viele Jahre geht das so. Abraham zieht kreuz und quer durch Kanaan, bekommt immer mal wieder von Gott ein Land und viele Nachkommen verheißen, aber darüber werden er und Sara noch älter. So viele Nachkommen wie Sterne am Himmel wurden ihnen versprochen. 24 Jahre nach Gottes erstem Versprechen dieser Art ist das Paar noch immer kinderlos. Sara lacht nur noch, wenn sie mal wieder von einer göttlichen Verheißung erfährt. Aber dann, im hundertsten Lebensjahr Abrahams, gebärt Sara tatsächlich einen Sohn, Isaak.

Bei diesem einzigen Sohn bleibt es – eine etwas magere Ausbeute angesichts der astronomisch hohen Zahl künftiger Nachkommen. Eigentlich eine ziemlich verrückte Geschichte. Es soll noch viel verrückter kommen.