Der Weg zum Kreuz

Wenn man jemanden für besonders verlogen und heuchlerisch hält, dann fällt oft das Wort «Pharisäer». Sein schlechtes Image hat der Pharisäer Jesus zu verdanken, besonders dieser Geschichte: Es gingen zwei Menschen in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer betete: O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner da. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Und der Zöllner stand von ferne, wagte nicht einmal seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug an seine Brust und sprach: O Gott, sei mir Sünder gnädig.

Jesus sagt über den Zöllner, dieser ging gerechtfertigt in sein Haus hinab, im Gegensatz zum Pharisäer. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Christen, die das nur halb verstanden haben, neigen seitdem zu dem Gebet: Lieber Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die Pharisäer 

Zur Zeit Jesu waren die Pharisäer eine angesehene Gruppe und stolz auf sich. Es gab sie schon seit rund 130 Jahren. Sie gingen aus einer Widerstandsbewegung gegen den griechischen König Antiochus IV. hervor, der im zweiten vorchristlichen Jahrhundert über Israel regierte. Dieser König raubte die jüdischen Tempelschätze, betrat das für ihn verbotene Heiligtum, konfiszierte die Torarollen, verbot den Juden die Ausübung ihrer Religion – keine Opfer und Feste, kein Sabbat, keine Beschneidung – und gab den Tempel frei für die Verehrung des Zeus.

Damit provozierte er jüdische Aufstände. Unter der Führung von Judas dem Makkabäer endeten sie siegreich. Judäa kam für ein paar Jahre wieder unter jüdische Herrschaft, das Volk selbst aber vom Regen in die Traufe, denn die «Befreier» errichteten ein Herrschaftssystem, das genauso korrupt war und genauso entfernt von der wahren Tradition Israels wie die vorausgegangenen Fremdherrschaften. Nun bildeten sich Widerstandsgruppen gegen das eigene korrupte System, und diese Widerständler waren die Pharisäer. Daher stammte ihr Nimbus.

Sie nutzten ihn, um zu einer der einflussreichsten Gruppen in Israel zu werden. Das gelang auch deshalb, weil ihre Führer und die bedeutendsten Mitglieder Schriftgelehrte und zugleich im Volk verwurzelt waren, die sich nicht, wie andere Gruppen, dem Volk verschlossen. Sie achteten die Tora, versuchten aber, die alten biblischen Gesetzesvorschriften für die Gegenwart verständlich und praktizierbar zu machen. Da sie das Volk zudem immer wieder gegen die Mächtigen in Schutz nahmen, standen sie gerade bei den einfachen Leuten in hohem Ansehen.

Den Pharisäern ging es um die kultische Reinheit und die Reinheit der Lehre. Schon deshalb hielten sie Distanz zur römischen Besatzungsmacht und praktizierten den Grundsatz: Mit den Besetzern arbeitet man nicht zusammen. Andere jüdische Volksgruppen waren da «flexibler». Der König, seine Beamten, etliche Hohepriester und Steuereintreiber bis hinunter zum kleinen Zöllner paktierten um der eigenen Privilegien willen mit der römischen Fremdherrschaft und bereicherten sich an den dem Volk abgepressten Steuern.

Daher kann man verstehen, warum die Pharisäer so stolz auf sich gewesen sind und mit großer Verachtung auf die Kollaborateure herunterschauten. Man versteht auch, warum der Geringste unter ihnen, der Zöllner, der halt auch seinen kleinen Vorteil aus der allgemein üblichen Korruption und Kollaboration ziehen wollte, der am meisten Verachtete in Israel war – obwohl diese Rolle eigentlich dem König und einigen opportunistischen Hohepriestern hätte zufallen müssen.

Das wird Jesus durch den Kopf gegangen sein, als er seine Pharisäer-Zöllner-Geschichte erzählte. Er sieht das Ganze mit einem anderen Blick, und unter dieser anderen Sichtweise tut Jesus der sündige Zöllner plötzlich Leid. Und über den schriftgelehrten Gutmenschen ärgert er sich.

Ihm, dem zu Recht geachteten, anständigen Menschen, sagt Jesus: Bilde dir nicht so viel ein auf deinen vorbildlichen Lebenswandel. Was aus dir geworden ist, verdankst du zum geringsten Teil dir selbst und zum größten deiner Herkunft, für die du nichts kannst, deiner Bildung, die man dir angedeihen ließ, sodass du heute lieber arm und gerecht als ein reicher Ausbeuter sein willst und darum jetzt vor Gott so großartig dazustehen scheinst.

Dass einer zum Zöllner wird, ist zwar dessen eigene Schuld, niemand wird dazu gezwungen. Aber wenn so einer sich seiner Schuld bewusst wird und bereut, dann ist die pharisäische Verachtung das Letzte, was dieser reuige Sünder verdient. Vor Gott sind alle gleich, vor Gott sind alle Sünder, auch der Pharisäer.

So etwas treibt natürlich die Pharisäer zur Weißglut: Willst du etwa unsere Lebensleistung in den Dreck ziehen? Willst du etwa die Unterschiede zwischen unserem aufrechten Gang und dem schmierigen Gebuckel der Zöllner verwischen? Woran soll das Volk sich halten, wenn jetzt plötzlich der Zöllner auf der gleichen Stufe steht oder gar auf einer höheren als der Pharisäer?

Sie haben ja recht, die Pharisäer, aber genau daran, an ihrer Selbstgerechtigkeit, nimmt Jesus Anstoß. Wer immer nur Recht hat und längst alles weiß, ist nicht mehr zu ändern. Deshalb schleudert er diesen gebildeten, politisch korrekten, hochanständigen Leuten entgegen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und die Huren kommen eher in das Reich Gottes als ihr.

Gott ist es egal, ob einer ein Gerechter oder ein Sünder ist. Es kommt einzig darauf an, ob einer mithilft an der Verwirklichung der Pläne Gottes. Dabei macht Gott die Erfahrung, dass gerade von den Gerechten, oder denen, die sich dafür halten, die geringste Hilfe kommt. Wozu auch? Sie machen doch bereits alles richtig. An ihnen liegt es nicht, wenn diese Welt nicht funktioniert. Sie wissen ohnehin, was zu tun ist. Dass es nicht getan wird und die Welt nicht auf sie hört, liegt nicht an ihnen, sondern an den anderen.

Was also will dieser Jesus eigentlich von uns? Warum muss er uns dauernd piesacken und auf die Nerven gehen? Er soll doch erst mal seinen Umgang mit Huren und gottlosen Zöllnern überdenken, dieser Fresser und Weinsäufer. Wer Umgang mit Unreinen hat, ist selber unrein. Und von so einem sollen wir, die Reinen, uns belehren und beschimpfen lassen?

Deshalb, weil die «Gerechten» in dieser Weise argumentieren, ist Gott auf die Sünder und Zöllner angewiesen. Nur mit Menschen, die wissen, wie sehr sie sich in Schuld verstrickt haben, die darunter leiden und denen bewusst ist, dass sie sich aus eigener Kraft nicht aus ihrer Verstrickung befreien können, kann Gott das Neue schaffen.

Mit solchen Überlegungen dringt Jesus bei den Pharisäern und Schriftgelehrten nicht durch. Für die ist es schon schlimm genug, dass er sie dauernd angreift. Es kommt aber noch hinzu, dass er selbst kein Schriftgelehrter ist, nicht dazugehört und sich eigentlich mit nichts anderem legitimieren kann als mit seinem durch nichts gerechtfertigten Selbstbewusstsein. Außerdem bringt er das Volk in Aufruhr, er ist gefährlich. Darum muss dieser Jesus zum Schweigen gebracht werden. Mit welchen Mitteln auch immer.

Außer den Pharisäern gibt es in Israel noch die Sadduzäer, die Essener und Zeloten. Wäre Jesus ein kluger Taktierer mit diplomatischem Geschick, würde er sich mit einer dieser einflussreichen Gruppen verbünden, ein paar Kompromisse machen, um wenigstens einen Teil seines «Programms» zu verwirklichen. Das Problem ist nur: Gottes Plan, den Jesus wieder neu ausführen will, verträgt keine Kompromisse. Alle diese Gruppen haben schon ihr festes Weltbild, ihre unverrückbaren Überzeugungen, und darin ist der Plan Gottes entweder nicht vorgesehen oder, wie viele glauben, schon längst verwirklicht.

Die Sadduzäer sind die staatstragenden Kreise in Israel. Sie bilden die reiche Oberschicht der Jerusalemer Bevölkerung und stellen vor allem den priesterlichen Hochadel. Sie geben nichts auf die Weiterentwicklung und zeitgemäße Interpretation der Tora, sondern halten sich an die Buchstaben des Gesetzes. Wo dieses Schlupflöcher bietet, machen sie davon Gebrauch. Wo es nicht hinreicht, folgen sie ihrem Interesse. Das ist juristisch einwandfrei.

Die Sadduzäer sind stark an die hellenistisch-römische Welt angepasste Pragmatiker – «Realpolitiker», würde man heute sagen. Sie haben Erfahrung mit der Macht und der Politik, können gut mit den Römern, ziehen daraus Vorteile für sich selbst, aber auch fürs Volk. Daher sind die Sadduzäer darauf bedacht, dass niemand durch Störung des Friedens zwischen Israel und der Besatzungsmacht Repressalien gegen die israelische Selbstverwaltung heraufbeschwört. Als privilegierte Nutznießer der bestehenden Ordnung haben die Sadduzäer kein Interesse an deren Veränderung. Ihre Welt ist in Ordnung.

Ganz anders die Zeloten. Sie lehnen die römische Fremdherrschaft radikal ab und erwarten einen Messias, der in Macht und Herrlichkeit erscheint, die Römer aus dem Land jagt und in Israel das Reich Gottes errichtet. Sie warten so ungeduldig, dass sie schließlich das neue Reich mit Gewalt selbst herbeiführen wollen und hoffen, damit das Eingreifen Gottes zu provozieren.

Der friedfertige Wanderprediger Jesus kann für sie schon deshalb nicht der Messias sein, weil er gar nicht in der Lage wäre, die Römer zu vertreiben. Und die Zeloten können für Jesus keine Verbündeten sein, weil er sieht: Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen. Und mit den Steuern an den römischen Kaiser hat Jesus ebenfalls kein Problem: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.

Am ehesten noch könnte sich Jesus mit den Essenern verbünden. Die Essener sind jüdische Mönche. Sie haben sich aus der Gesellschaft in Klöster zurückgezogen, wo sie einem streng geregelten Leben nachgehen – Gebet, Schriftauslegung, Arbeit. Die Arbeit beschränkt sich auf Handwerk und Ackerbau. Der Orden lebt in Gütergemeinschaft, und seine Mitglieder erwarten den Untergang der Welt, die Auferstehung der Toten und ein Weltgericht.

Auch Jesus erwartet das Reich Gottes, aber nicht im Kloster, sondern mitten in der Welt, und er bindet den Anbruch des Reiches Gottes an seine Person. Mit ihm habe es bereits begonnen, sagt er. Und damit gerät er nicht nur in Widerspruch zu allen Gruppen seiner Zeit, sondern geradezu in Teufels Küche. Dieser Anspruch, dass Gott durch ihn seine Herrschaft aufrichtet, ist für alle führenden Theologen Israels eine skandalöse Gotteslästerung. Nach dem Gesetz ist so etwas mit dem Tod zu ahnden.

Es war aber zwei Tage vor dem Passah und dem Fest der ungesäuerten Brote. Und die obersten Priester und die Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn mit List ergreifen und töten könnten. Sie sprachen aber: Nicht während des Festes, damit kein Aufruhr unter dem Volk entsteht.

Die obersten Priester und Schriftgelehrten hatten also einen Entschluss gefasst. Jesus musste weg. In Israel regierte nicht mehr Gott, sondern, wie überall, ein System. Ein System, das seinen eigenen Regeln folgte und in dem jeder gemäß der ihm zugewiesenen Aufgabe funktionierte. Israel war in der normalen Welt angekommen.