Sintflut – und das Leben geht weiter

Kain darf weiterleben. Ihm folgen Kinder, Enkel, Urenkel und in der siebten Generation ein Nachfahre namens Lamech, der zwei Frauen heiratet und eines Tages prahlt, er habe zwei Männer erschlagen, aus Vergeltung. Denn Kain, sagt Lamech, wird siebenfach gerächt, Lamech aber siebenundsiebzigfach.

Tatsächlich hatte Gott erklärt, wer Kain totschlage, habe mit siebenfacher Rache zu rechnen. So wurde die Blutrache eingeführt. Sie ist nicht das letzte Wort in der Bibel, sondern eines der ersten. Später wird es heißen: Auge um Auge, Zahn um Zahn – die maßlose Vergeltung soll ein Ende haben, die Strafe in einem angemessenen Verhältnis zur Tat stehen. Und auch dabei bleibt es nicht. Jesus wird sagen: Liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen.

Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Im Paradies ging das Vertrauen des Menschen zu Gott verloren, auch das Misstrauen untereinander wuchs. Angst, Rivalität und Gewalt waren die Folge. Die Blutrache war ein erster Versuch, die Gewalt zu bändigen – durch Abschreckung. In der siebten Generation verlangt der gekränkte Mensch nach siebenundsiebzigfacher Strafe, um seinen Rachedurst zu stillen, und er vollzieht sie selber. Eigentlich hatte sich Gott diese Strafe vorbehalten. Wie aber kann der Gewalt Einhalt geboten werden?

Gott, so erfahren wir nun am Ende des sechsten Kapitels der Genesis, dem ersten Buch Mose, weiß keinen anderen Ausweg, als seine Schöpfung zurückzunehmen. Als er sah, dass die Bosheit des Menschen sehr groß war auf der Erde, da reute es ihn, dass er den Menschen gemacht hatte. Darum beschließt Gott, den Menschen vom Erdboden zu vertilgen, denn die Erde ist mit Gewalttat erfüllt, und das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an. Eine alles vernichtende Sintflut will Gott über die Erde kommen lassen.

Nur einer fand Gnade in den Augen des Herrn, Noah, ein gerechter Mann, war untadelig unter seinen Zeitgenossen, denn er wandelte mit Gott. Ihm erzählt Gott, vierzig Tage und Nächte wolle er es ununterbrochen regnen lassen. Deshalb soll Noah eine Arche bauen, sie mit reichlich Proviant beschicken, von jeder Tierart je ein Paar in das Schiff bringen und mit seiner Frau und seinen drei Söhnen Sem, Ham und Japhet die Arche besteigen.

Und: Es eilt. Nur noch sieben Tage, dann sollen sich alle Schleusen des Himmels und der Erde öffnen. Und Noah tat, wie der Herr ihm geboten hatte. Kurz bevor es losgeht, schließt Gott eigenhändig die Tür.

Das Wasser kommt, steigt und steigt, so hoch, dass nach einiger Zeit sogar die höchsten Berge tief unter ihm liegen. Hundertfünfzig Tage lang treibt Noahs Arche durch die Fluten. Langsam beginnt der Wasserspiegel wieder zu sinken, und das Schiff läuft am Berg Ararat auf Grund.

Noah wartet, bis das Wasser weiter sinkt, und lässt schließlich eine Taube fliegen. Sie kommt zurück. Die Taube fand keinen Ort, wo ihr Fuß ruhen konnte. Sieben Tage später lässt Noah die Taube erneut fliegen. Abends kehrt sie zurück mit einem Ölzweig im Schnabel. Die Bäume ragen also schon aus dem Wasser. Nach weiteren sieben Tagen lässt Noah die Taube ein drittes Mal fliegen. Die Taube kommt nicht mehr, und Noah weiß: Die Sintflut ist vorbei.

Er öffnet das Tor der Arche, entlässt die Tiere in die Freiheit, baut Gott einen Altar und bringt ihm ein Opfer. Gott riecht den lieblichen Geruch und sagt besänftigt, er wolle künftig die Erde nicht mehr verfluchen, obwohl das Trachten des menschlichen Herzens böse sei von seiner Jugend an. Erst bereut Gott, dass er die Menschen überhaupt gemacht, nun scheint er zu bereuen, dass er sie im Zorn ersäuft hat, und spricht die berühmten Worte: Von nun an soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht, solange die Erde besteht. Und er wiederholt, was er schon nach der Schöpfung sagte: Seid fruchtbar und mehret euch.

Diesen Worten folgen weniger bekannte, seltsam fremdartig klingende, über die man leicht hinwegliest: Furcht und Schrecken vor euch soll über alle Tiere der Erde kommen; … in eure Hand sind sie gegeben. Alles, was sich regt und lebt, soll euch zur Nahrung dienen. Nur dürft ihr das Fleisch nicht essen, während sein Leben, sein Blut, noch in ihm ist. Jedoch euer eigenes Blut will ich fordern. … Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.

Danach schließt Gott einen ewigen Bund mit Noah und seinen Söhnen und verspricht, die Erde nie mehr mit einer Sintflut zu verwüsten. Als Zeichen dieses Bundes und zur Erinnerung an dieses Versprechen wird Gott von Zeit zu Zeit den Regenbogen über die Erde spannen.

 

Der gute Noah, die gemütliche Arche, die vielen Tiere vom Elefanten bis zum Wurm, der fürsorgliche Gott, der die Arche schließt, der Gipfel des Berges Ararat, ein Regenbogen – Heerscharen von Vor- und Grundschulkindern haben diese Bilder schon gemalt, gebastelt, szenisch nachgespielt. Und die Taube mit dem Ölzweig im Schnabel gibt es von Picasso als Friedenstaube in mehreren Varianten. Dabei ist die Sintflut-Erzählung doch eigentlich keine Kinder- und keine Friedensgeschichte, sondern ein in seiner Zwiespältigkeit für uns moderne Menschen eher schwer verständlicher Text.

Gott ist mit der Entwicklung seiner Geschöpfe unzufrieden, zum dritten Mal schon – nach Adam und Evas Ursünde im Paradies und Kains Brudermord. Zu viel Hass, Blutvergießen, menschliche Bosheit. Daher radiert er die Menschen einfach aus, bis auf Noah und seine Familie. Tabula rasa. So grausam soll Gott sein?

Über Jahrhunderte wurde von der Kirche kritiklos akzeptiert, sogar gutgeheißen, dass Gott so rücksichtslos handelt. Kleriker deuteten Naturkatastrophen stets, wie es der Sintfluttext nahe legt: als eine notwendige Strafe oder Warnung. Jedes Donnern und Blitzen am Himmel wurde als Zorn Gottes verstanden. Der strafende Vater, das kalte, herzlose Christentum haben darin ihre Wurzeln – ebenso die Selbstgerechtigkeit der Frommen, die frohlocken, wenn andere das vermeintliche Gottesurteil trifft.

Dass es heute anders ist, zeigte sich bei jener Flut, die an Weihnachten 2004 über Südostasien hereingebrochen war. Der Tsunami hinterließ Tod und Verwüstung. Aber kein Kirchenmann deutete dieses Grauen als Strafe Gottes. Der Bamberger Erzbischof sah in der Flut eine Anklage gegen die Reichen und forderte Frühwarnsysteme. Der oberste Bischof der deutschen Protestanten kritisierte die ungleichen Lebensverhältnisse in der einen Welt. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz erklärte vorsichtig, die Theologie kenne heute die Grenzen der Theorie und halte sich deshalb mit Deutungen zurück. Der Papst sprach wortkarg von einer ungeheuren Tragödie.

Dagegen beschrieben kirchenferne Journalisten die «Sintflut» ganz unbefangen in biblischen Worten, berichteten von «apokalyptischen Szenen», einer «Flut biblischen Ausmaßes» im Urlauber-«Paradies» und fragten vorwurfsvoll: Wo war Gott? Die den Islamisten nahe stehende Zeitung «Attajdid» in Marokko deutete die Flut unverhohlen als Strafe Gottes: Der Tsunami sei nicht nur eine Vergeltung Allahs für den dort verbreiteten Sextourismus gewesen, sondern auch eine Warnung an Marokko, wo Prostitution und Homosexualität und der damit verbundene Fremdenverkehr die guten Sitten der Muslime verdürben.

Manche Muslime und christliche Fundamentalisten nehmen auch heute noch jede Naturkatastrophe zum Anlass, den Menschen vor Gott anzuklagen. Religionskritische Zeitgenossen reagieren genau umgekehrt: Sie schieben Gott auf die Anklagebank und fragen: Warum lässt du das zu? Oder sie können im Massensterben nichts anderes erkennen als sinnlosen Zufall und einen Beweis für die Nichtexistenz Gottes. Aufgeklärte Christen fragen nach dem Anteil des menschlichen Versagens an solchen Katastrophen – vielleicht, um nicht an ihrem Gott zu verzweifeln.

Diese moderne Haltung zeigte sich erstmals in Europa nach einer ähnlich großen Katastrophe. Im November 1755 waren durch Erdbeben und Springflut in Lissabon über sechzigtausend Menschen umgekommen. Und die kritischen Geister folgerten: Wenn Gott das Leid nicht verhindern kann, ist er nicht allmächtig. Wenn er es nicht verhindern will, ist er nicht allgütig. Irgendetwas kann also nicht stimmen am christlichen Gottesbild.

Der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der von der Lissaboner Katastrophe nichts wissen konnte, weil er schon vierzig Jahre zuvor gestorben war, hatte noch mühsam versucht, darzulegen, warum diese Welt trotz menschlichen Leids und scheinbarer Unvollkommenheiten die beste aller möglichen Welten sei. Der französische Philosoph Voltaire spottete nach dem Lissaboner Beben: «Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?» Und er fragte: «Hat, der das Gute schuf, das Übel mitgeschaffen?»

Rousseau dagegen argumentierte schon ganz auf der Linie heutiger Bischöfe und fragte nach der Verantwortung des Menschen für die Folgen der Katastrophe: Nicht die Natur und nicht Gott, sondern die Menschen hätten zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stockwerken übereinander getürmt – was den Bewohnern zum Verhängnis wurde.

Längst wissen wir: Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche sind Naturkatastrophen, die sich aus der geologischen Beschaffenheit unserer Erde zwangsläufig ergeben. Die beste Planung wird nicht verhindern können, dass Menschen dabei sterben. Deren Tod hat  nichts mit göttlichen Eingriffen und nichts mit menschlichen Verfehlungen zu tun.

Was also ist der Kern der Sintflutgeschichte?

Gott beschließt zu Beginn die Totalvernichtung. Man erschrickt und stürzt sich erleichtert auf das Ende der Geschichte. Noahs Opfer und Dank, der liebliche Geruch, der Regenbogen und Gottes Versprechen, nun keine Sintflut mehr zu schicken, verleiten uns dazu, dies als Happy End zu verstehen und zu glauben, nun werde alles wieder gut.

Doch nichts wird wieder gut. Was hat sich denn durch die Sintflut geändert? Vor der Sintflut erklärte Gott, das Trachten des menschlichen Herzens sei böse von Jugend an. Nach der Sintflut sagt er exakt das Gleiche.

Der Mensch hat sich also nicht geändert. Aber Gott hat sich geändert. Er will seine Geschichte mit den Menschen fortsetzen, obwohl er weiß, dass es schon bald wieder Mord und Totschlag geben wird unter ihnen.

Noch etwas hat sich geändert. Vor der Sintflut sollten Mensch und Tier nur von Früchten und Gemüse leben. Nach der Sintflut erlaubt er den Menschen, auch Tiere zu essen. Das ist gemeint mit dem merkwürdigen Wort: Furcht und Schrecken vor euch soll über alle Tiere der Erde kommen. … Alles, was sich regt und lebt, soll euch zur Nahrung dienen. Nur dürft ihr das Fleisch nicht essen, während sein Leben, sein Blut, noch in ihm ist. Hier hat das Schächten seinen Ursprung.

Rund fünfhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung hat man sich also in Israel schon Gedanken über das Leid der Tiere gemacht und gefragt, warum eine Kreatur die andere auffrisst. Der Erzähler gibt die tiefgründige Antwort: Gottes Wille war es nicht. An der menschlichen Ursünde und der daraus hervorgehenden Neigung zur Gewalt liegt es. Gott hat einen Kompromiss gemacht mit den Menschen. Umso mehr Wert legt Gott jetzt auf die Respektierung der anderen Grenze: Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.

 

Es ist, als sei eine Liebesgeschichte zu Ende gegangen. Zu Beginn sah Gott den Menschen wie durch eine rosarote Brille als sein Ebenbild. Der Schöpfer war vernarrt in sein Geschöpf. Nach der Flut sieht er den Menschen realistisch. Enttäuscht weiß er jetzt, der Mensch braucht eine Ordnung, an die sich zu halten ihm schwer fallen, aber ihn nicht überfordern wird: Herstellung von Frieden durch Androhung von Gewalt. Nur die zweitbeste aller Welten wird mit diesem Menschen möglich sein.

Bis heute ist uns nichts Besseres gelungen als diese zweitbeste Lösung des Gewaltproblems. Nur Jesus hatte eine bessere Lösung. Aber die Christen haben nicht danach gelebt. Es ist kein sehr schmeichelhaftes Bild, das da vor zweieinhalb Jahrtausenden vom Menschen gezeichnet wurde. Aber es stimmt noch immer.

Menschen brauchen Grenzen, sagt die Bibel. Sie sagt es noch einmal in der Geschichte vom Turmbau zu Babel. Die Menschen wollen einen Turm bauen, der bis an den Himmel reicht, um sich «einen Namen zu machen». Wieder so eine Grenzverletzung. Gott antwortet, indem er die Sprache der Turmbauer verwirrt, sodass sie einander nicht mehr verstehen, den Bau einstellen müssen und sich in alle Winde zerstreuen. Erst an Pfingsten, der Ausgießung des Heiligen Geistes über die christliche Urgemeinde, wird diese Sprachverwirrung wieder zurückgenommen.

Weil er die von Gott gesetzten Grenzen ständig verletzt, ist die Geschichte des Menschen eine endlose Folge von Verhängnissen und Katastrophen. Dafür steht das Bild der Sintflut. Wo die Grenzen respektiert werden, kann das Leben überdauern. Deshalb die Arche. Der Mensch ist nicht, wie er sein soll, aber Gott liebt ihn trotzdem. Seine Geschichte mit dem Menschen geht weiter. Dafür steht der Regenbogen.