Kanaan

Ein Kardinal, der sich bei seinen Spaziergängen durch einen römischen Park immer über den dort unermüdlich arbeitenden Gärtner freut, kleidet diese Freude eines Tages in das Lob: «Der Park wird immer schöner. Daran sieht man doch, was erreicht werden kann, wenn menschlicher Fleiß und göttliche Vorsehung zusammenwirken.» Da habe der Kardinal Recht, antwortete der Gärtner, «Sie hätten den Park mal sehen sollen, als nur die Vorsehung an ihm gearbeitet hat.»

Der Mensch muss handeln, fürs Gelingen sorgt dann Gott. Wie es dabei zugeht, wissen wir nicht. Das war damals in Ägypten und in der Wüste nicht anders als heute. Darum dürfen wir es nicht wörtlich nehmen, wenn es heißt, Gott habe sein Volk wieder zurück in die Wüste geschickt. Man darf bei all diesen Geschichten nie vergessen, dass sie erst viele Jahrhunderte nach den tatsächlichen Ereignissen die Form gefunden haben, die wir kennen. Das große Epos des Exodus und der Landnahme ist aus einem kleinen, unepischen Kern gewachsen. Dieser Kern enthält kein Wort von vierzig Jahren Wüste. Sehr kurz und nüchtern heißt es im fünften Buch Mose nur:

Mein Vater war ein heimatloser Aramäer, dem Umkommen nahe. Er zog hinab nach Ägypten, war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu Jahwe, dem Gott unserer Väter. Und Jahwe sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und gestrecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder. Er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen.

Aus diesem Kern sprossen im Lauf der Jahrhunderte immer mehr Geschichten. Einzelerlebnisse wurden gedeutet, mit anderen Deutungen verbunden, mit Glaubenserfahrungen ganzer Generationen verkettet, literarisch verdichtet und geformt. Ungefähr zwischen 1000 und 500 vor Christus, also 300 bis 800 Jahre später, haben Israels Theologen das ganze Material – Bekenntnisse, Sprüche, Lieder, Gedichte, Erzählungen, Legenden, Sagen, Gesetzestexte – gesammelt und geordnet, auch geglättet und redigiert, es zu einem großen Ganzen gefügt und in die endgültige Form gebracht. In die Geschichten, die von weit zurückliegenden Ereignissen berichten, flossen die Deutungen und Erfahrungen der später Geborenen ein. Historische Fakten waren Nebensache, die Taten Gottes Hauptsache.

Schon die Exodus-Geschichte wird so erzählt, als habe Gott alles allein gemacht und sein Volk fast gar nichts. Die Realität dürfte von den Flüchtlingen vermutlich etwas anders erlebt worden sein. Zwar bedurfte es viel Gottvertrauens, um den Entschluss zum Auszug zu fassen. Aber dass alles Weitere unter Gottes Führung lief wie geschmiert und die Fliehenden nie ernstlich gefährdet waren, weil ja Mose in der Gefahr nur seinen Zauberstab zu recken brauchte? Das ist schon nachträgliche Deutung der glücklich Davongekommenen, Mythisierung eines Geschehens, das sich in seinen Einzelheiten nicht mehr rekonstruieren lässt.

Im Nachhinein wird aus der gelungenen Flucht die Lehre gezogen: Weil wir uns auf Gott verlassen haben, hat er uns nicht verlassen. Und darum wollen wir es auch in Zukunft so halten. Er soll uns führen, dann wird unser Leben gelingen.

 

Nicht anders verhält es sich bei den Geschichten der Landnahme. Das Land, das Israel vorfand, war nicht leer. Es gab tatsächlich Stadtkönige, die das Land für sich beanspruchten. Es war tatsächlich nicht ganz ungefährlich, sich dort einfach anzusiedeln, und darum war das Zögern des Volkes Israel in Kadesch-Barnea nicht nur ein kollektiver Angstwahn vor der Freiheit, sondern auch eine natürliche, gar nicht unvernünftige Reaktion auf Gefahren und Probleme, die drohten.

Später berichtet die Bibel auch von bewaffneten Auseinandersetzungen, in denen Gott zum Kriegsherrn mutiert, der mit seinem Volk in die Schlacht zieht. So werden beispielsweise die Mauern Jerichos allein durch Blasen der Posaunen und «Feldgeschrei» des Volks zum Einsturz gebracht.

Aber so unblutig geht’s nicht immer zu. Andere Geschichten erzählen geradezu kriegslüstern, wie Israel Kanaan erobert, sich alles unterwirft, die Besiegten nicht schont und das Land unter den zwölf Stämmen aufteilt. Aber auch hier ist es Gott, der seinem Volk voranzieht und für Israel die Schlachten schlägt.

Es geht in diesen Geschichten nicht um Kriegs-, sondern um Gottesverherrlichung – eine sehr missverständliche Verherrlichung, welche später die Kirche die Kanonen segnen lässt und die Nationalstaaten scheinbar legitimiert, «Gott mit uns» in die Koppelschlösser ihrer Soldaten zu gravieren. Kam’s dann zum Krieg, beteten die verfeindeten Armeen zum selben Gott, baten denselben Gott um den Sieg.

Das ärgerliche Missverständnis wird noch ärgerlicher, wenn man bedenkt, dass Israel das Land sehr wahrscheinlich viel friedlicher eingenommen hat, als die Bibel erzählt. Bei keiner einzigen kanaanäischen Stadt jener Zeit lässt sich nachweisen, dass sie von Israel zerstört wurde. Bis heute kennen wir keinen archäologischen Befund, der die biblische Darstellung der kriegerischen Landnahme Israels stützen könnte. Woher auch hätte denn Israel die Mittel nehmen sollen, um gegen die Streitwagen und Armeen der kanaanäischen Stadtkönige zu punkten?

Was sich jedoch belegen lässt, ist eine Besiedlung des weitgehend unbewohnten Landes in den Bergen seit ungefähr 1300 vor Christus. Waren es die Flüchtlinge aus Ägypten, die sich da niederließen?

Dagegen spricht die technische Perfektion, mit der diese Siedlungen angelegt wurden. Moderne Häuser, Kopfsteinpflaster, Getreidesilos, Zisternen, Pflüge, Maßnahmen gegen die Bodenerosion – über so viel Know-how und handwerkliche Kunstfertigkeit konnten die Steineklopfer aus Ägypten nicht verfügen. Diese Siedlungen wurden von Menschen gebaut, die schon lange in Kanaan lebten. Sie waren vermutlich Kleinbauern, Pächter, wirtschaftlich Abhängige, die zu hohen Steuern, zu Fron- und Militärdiensten gezwungen wurden und für das Wohlergehen der städtischen Oberschichten zu sorgen hatten – und die sich diese Ausbeutung nicht mehr gefallen lassen wollten und deshalb in die Berge flohen, wohin die Kampfwagen der Machthaber nicht kamen.

Outcasts, wie Moses Leute, waren diese Bauern in den Bergen also auch. Eine Art Exodus hatten sie ebenfalls hinter sich, den Drang nach Freiheit kannten auch sie. Irgendwann treffen diese freien Bauern die ägyptischen Flüchtlinge, Moses Leute. Andere Nomaden stoßen dazu, darunter eine Abraham-Gruppe, eine Isaak-Gruppe, eine Jakob-Gruppe, alle auf der Suche nach einem Stück Land, auf dem sie sich niederlassen können. Dort in den Bergen finden sie es. Die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs haben also das Land nicht militärisch erobert, sondern sind, zusammen mit anderen, ins Land eingesickert.

Und erst dort, mit den anderen, werden sie zum eigentlichen Volk Israel.

Sie konnten es werden, weil sie einander ihre Geschichten erzählten und dabei die verblüffende Ähnlichkeit ihrer Erfahrungen erkannten. So etwas verbindet. Darum verbünden sie sich. Wenn einer Gruppe Gefahr von den alten Machthabern oder feindlichen Stämmen droht, kommen die anderen zu Hilfe. Für solche kriegerischen Auseinandersetzungen werden kurzzeitig Führer gewählt. Danach kehrt jeder wieder zu seinem Stamm zurück.

Diese verschiedenen Gruppen leben nun in einem lockeren Verbund aus Familien und Sippen nebeneinanderher. Von Zeit zu Zeit kommen sie zusammen, beraten über praktische Dinge, die mit ihrem Leben als Viehzüchter und Ackerbauern zusammenhängen. Sie versammeln sich aber auch zu gemeinsamen Festen an verschiedenen Heiligtümern und erzählen sich dort ihre Geschichten.

Die freien Bauern haben ihre alten Götter aus den Städten mitgebracht, aber als sie vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs hören, finden sie diesen überzeugender und lassen ihre alten Götter fallen. Über den gemeinsam verehrten Gott wächst die ehemals bunte Chaostruppe zu einem Zwölf-Stämme-Bund und über diesen zum neuen Volk Israel zusammen – ohne Regierung, ohne Staat.

Die Mose-Gruppe hat aus der Wüste die Zehn Gebote mitgebracht und eine Reihe weiterer Vorschriften, Rechtsregeln, Speise- und Fastengesetze und Reinheitsgebote. Auch die anderen haben Regeln, Grundsätze, Gesetze.

Daraus entwickelt sich im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte das Zentrum Israels, die Tora, die Sozialordnung Gottes, das Gesetz. Dieses Gesetz und der Glaube an den einen Gott unterscheiden das neue Volk der Juden von allen anderen damals lebenden Völkern.

Die Tora ist keine Neuerfindung des Rechts. Große Teile der Tora stammen aus den Kulturen, denen die verschiedenen Stämme Israels entflohen sind. Aber das neue Volk formt dieses alte Rechtsgut entscheidend um und fügt ihm welthistorisch bedeutsame Neuerungen hinzu.

Die Neuerungen und Umformungen speisen sich aus der gemeinsamen Grunderfahrung dieser Menschen als frühere Sklaven und aus der revolutionären Erkenntnis: Könige sind auch nur Menschen. Dass sie sich selbst vergöttern und von ihren Untertanen vergöttern lassen, steht ihnen nicht zu. Und es steht ihnen auch nicht zu, kraft ihrer Königswürde andere Menschen zu Nutztieren und Zugvieh herabzuwürdigen.

In dieser Erkenntnis treffen sie sich mit Gottes Vorstellungen von einer anderen Welt. Ihre Sehnsucht nach einer neuen Gesellschaft treibt sie in die Arme des dafür richtigen Gottes. Und Gott findet für seine Pläne das dafür richtige Volk. In der Tora setzt das neue Volk den ersten großen Meilenstein auf dem Weg zur Verwirklichung von Gottes Utopie. Kanaan birgt diesen Stein. Darum ist es das Gelobte Land.