Menschenfischer

Jesus erkennt: Zwölfhundert Jahre nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten ist Gott von seinem Ziel so weit entfernt wie eh und je. Sein auserwähltes Volk ist nicht die neue Gesellschaft, die er sich vorgestellt hatte. Sein Volk ist den anderen Völkern kein Vorbild, keine «leuchtende Stadt auf dem Berg». Es liefert dem Rest der Welt keine überzeugenden Gründe für die Annahme, dass der Gott Israels der wahre Gott sein könnte.

Israel kann der Welt nicht zeigen, wie eine gerechte Gesellschaft aussieht, denn es ist selbst zu einer Klassengesellschaft verkommen. Es gibt Arme, die es niemals geben dürfte. Deren Not wird zwar gelindert durch die Almosen der Oberschicht, aber Linderung war nie das Ziel. Milch und Honig für alle stand auf dem göttlichen Plan. Irgendwann im Lauf der Geschichte ist die Erfüllung dieses Plans aufgegeben worden. Umso eifriger befolgt das Volk die Speisegebote, die rituellen Waschungen, das Opfern und die vielen anderen Vorschriften, die nicht direkt den eigenen persönlichen Vorteil betreffen. Der Eifer fürs Gesetz verdrängt die Sorge um den Nächsten.

Jesus erkennt es. Wie vor ihm schon die Propheten kritisiert Jesus, wie sehr die in Israel gelebte Praxis an dem vorbeigeht, was Gott mit Israel einst vorhatte. Aber anders als die Propheten belässt er es nicht bei der Kritik, sondern hält Ausschau nach Gleichgesinnten, mit denen gemeinsam er den beklagenswerten Zustand Israels ändern kann. Das ist neu. Und wie er sein Vorhaben ins Werk setzt, ist völlig neu.

Seinen Wegbereiter findet Jesus in Johannes dem Täufer, einem sonderbaren Menschen, der in der Wüste lebt, mit Kamelhaaren bekleidet ist und sich von Heuschrecken und wildem Honig ernährt. Johannes hält Bußpredigten, ruft zur Umkehr auf und taucht die Umkehrwilligen ins Wasser des Jordan.

Er predigt nicht nur, tauft nicht nur, sondern prophezeit auch etwas: dass einer kommen werde, der stärker sei als er. Dieser Kommende werde nicht mit Wasser, sondern mit Geist taufen, und er, Johannes, sei nicht würdig, diesem Mann die Riemen seiner Schuhe zu lösen.

Die Gemüter in Israel sind alle ein wenig erhitzt, manche sogar sehr. Alle haben das Gefühl, dass es bald nicht mehr so weitergeht, wenn alles so weitergeht. Viele sind in Endzeitstimmung, fürchten die Apokalypse, andere hoffen darauf, erwarten einen Messias, halten sich selbst für den Messias oder sagen sein Kommen voraus. Johannes ist auch einer von ihnen. In ihm findet Jesus den ersten Menschen, der seine Sicht der Welt teilt und vielleicht ahnt, worum es ihm eigentlich geht.

Wie Jesus hat Johannes erkannt: Israel ist zwar vor mehr als tausend Jahren über den Jordan ins Gelobte Land gegangen, aber nur körperlich. Geistig verharrte es an der Grenze zum Land der Verheißung.

Dies versucht Johannes seinem Volk zu vermitteln. Deshalb, und nicht, weil er ein asketisches Leben führen möchte, geht er an die Grenze zur Wüste, kleidet sich wie ein Wüstenbewohner und isst, was ihm die Wüste bietet. Er predigt und tauft genau an jener Stelle des Jordan, an der Josua sein Volk vor zwölfhundert Jahren ins verheißene Land geführt hat. Er predigt die Umkehr. Jedem Einzelnen sagt er: Höre auf, deinen bisher eingeschlagenen Weg fortzusetzen, ziehe noch einmal ins verheißene Land, diesmal aber ganz, nicht nur körperlich. Nur dann kann Israel Gottes Plan erfüllen.

Eines Tages kommt auch Jesus. Johannes tauft ihn, wie er alle anderen tauft. Als aber Jesus aus dem Wasser steigt, tut sich der Himmel über ihm auf, der Geist Gottes kommt gleich einer Taube zu ihm herab, und dazu ertönt eine Stimme, die sagt: Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.

Das Bild soll vermitteln: Wieder beginnt Gott von vorn. Wieder mit einem Einzigen. Und wieder mit einer Erinnerung an den Exodus. Weil Israel vierzig Jahre in der Wüste verbrachte und hungerte, geht Jesus nach seiner Taufe vierzig Tage in die Wüste und fastet. Wie Israel in der Wüste erprobt wurde, wird auch er geprüft. Der Teufel erscheint ihm und verspricht ihm Macht, Erfolg und Reichtum, wenn er ihm dient. Und Jesus, der fromme Jude, widersteht, sich zur Mitte der Tora bekennend, der Versuchung: Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen. Über Jesus haben die Götter der Welt keine Macht.

Nach dem Erlebnis mit seinem Wegbereiter Johannes und der bestandenen Prüfung in der Wüste sucht Jesus nach Wegbegleitern. Die ersten findet er am See Genezareth. Dort sieht Jesus einen Fischer namens Simon und dessen Bruder Andreas, wie sie gerade die Netze auswerfen. Zu ihnen sagt Jesus: Folgt mir nach, und ich will euch zu Menschenfischern machen.

Das ist bemerkenswert. Jesus sagt nicht etwa, wie smarte Jugendpfarrer es heute tun würden: «Hey, kommt doch heute Abend mal bei mir vorbei, wenn ihr gerade Zeit habt», sondern er sagt: Hört jetzt auf zu fischen, sofort, fischt überhaupt nie mehr, hängt euren Beruf an den Nagel und folgt mir in eine ungewisse Zukunft. Und Simon, der später den Namen Petrus bekommen wird, tut das. Andreas auch.

Und so geht es weiter. Jesus sieht Jakobus und dessen Bruder Johannes, die auch im Schiff waren und die Netze flickten. Und sogleich berief er sie; und sie ließen ihren Vater Zebedäus samt den Tagelöhnern im Schiff und folgten ihm nach.

Jeder Vernünftige sagt sofort: Das kann niemals gut gehen. Und es ging ja auch nicht gut. Die Sache endete am Kreuz, zuerst für Jesus, später für Petrus, und den anderen erging es auch nicht viel besser. Die Vernünftigen haben also Recht.

Aber: Der verrückte Entschluss des Petrus, seine sichere Existenz aufzugeben und diesem noch verrückteren Jesus zu folgen, hat die Existenz von Generationen von Pfarrern, Bischöfen und Kardinälen bis heute gesichert und darüber hinaus die Existenz vieler anderer, die in der Kirche arbeiten oder an der Kirche verdienen.

Als Jesus tatsächlich zwölf Verrückte beisammen hat – es müssen zwölf sein wegen der zwölf Stämme Israels –, zieht er mit diesen predigend, erzählend, lehrend, streitend, heilend, provozierend und Wunder vollbringend durch das Land, ein paar Jahre nur, dann kommt das Ende am Kreuz. Aber danach ist nichts mehr so, wie es war.

Verstanden haben wir das Neue damit noch nicht. Das ist normal. Die Jünger, obwohl immer in seiner Nähe, hatten es auch bis kurz nach seinem Tod nicht wirklich begriffen.