Das Reich des Pharaos

Jakobs und Josefs Nachfahren sind jetzt in Ägypten, doch die ägyptische Geschichtsschreibung hat nichts davon festgehalten. Auch nichts von Jakob und Josef, und wir wissen bis heute nicht, welcher Pharao es gewesen sein soll, dem Josef gedient hatte.

Aber im zweiten Buch Mose heißt es, es seien «Habiru» zum Bau der Städte Pitom und Ramses herangezogen. Habiru waren Fronarbeiter. In der Bibel wurde daraus das Wort «Hebräer», die als die Vorfahren Israels gelten. Unter diesen Habiru müssen also die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs gelebt haben.

Pitom und Ramses wurden unter Ramses II. gebaut, und der lebte von 1303 bis 1213 vor Christus. Also haben zu dieser Zeit, vor rund 3300 Jahren, Israels Vorfahren zum ersten Mal als historisch existente Gruppe die Bühne der Welt betreten – lange vor der Gründung Roms, dennoch vergleichsweise spät, denn zwischen Jordan, Euphrat, Tigris und Nil waren zu diesem Zeitpunkt schon viele Völker und Kulturen aufgestiegen, abgestiegen und wieder verschwunden.

Was die Menschen, aus denen nun das Volk Israel werden soll, in Ägypten sehen und erleben, muss ihnen als versteinerte Wirklichkeit erschienen sein.

Der Pharao ist Gottkönig, Sonnengott und Sinnzentrum, das von Anbeginn bis in alle Ewigkeit die Ernährung des gesamten Volkes sichert, den Lauf der Welt bestimmt, den ganzen Kosmos in Bewegung hält und für die Unsterblichkeit aller Ägypter sorgt. Dafür werden alljährlich Zehntausende von Sklaven, Arbeitern und Handwerkern in den Steinbrüchen und Totenstädten der ägyptischen Könige verschlissen, seit über einem Jahrtausend schon, immerzu, auch künftig, Tag für Tag, Jahr für Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert.

Als Israel in seine Geschichte eintritt, kündet die größte der Pyramiden Ägyptens, die Cheopspyramide in Giseh, schon seit 1200 Jahren unerschütterlich, monumental und weithin sichtbar von der Segen spendenden Herrschaft der ägyptischen Könige. Zwei Millionen Kubikmeter Stein, Zehntausende von Granitblöcken, bis zu vierzig Tonnen schwer, mussten allein für die Cheopspyramide von den Steinbrüchen in Assuan über achthundert Kilometer zur Baustelle transportiert werden.

Seitdem wurde immer weiter gebaut. 1200 Jahre lang, ohne Pause, ist die Luft in dem Land um den Nil erfüllt vom Geklirr der Meißel, die mit Hämmern in den Stein getrieben werden. Und auch als die Nachfahren Jakobs in Ägypten ankommen, klirren die Meißel, tönen die Hämmer. Immer neue Pyramiden, Prinzen- und Beamtengräber für die Ewigkeit sind zu errichten. Stelen, Skulpturen, Paläste zur Verherrlichung und Verewigung des Ruhms der Pharaonen werden in Stein gehauen.

Am Hof der Pharaonen strömt die ganze Welt zusammen. Man zollt dem König Tribut, beteuert seine Ergebenheit, wirbt um die königliche Gunst, bewundert die ägyptische Technik und Wissenschaft. Die Ägypter schreiben nicht mehr auf Tontäfelchen wie in Sumer und Babylon, sondern auf Papyrus, beherrschen Mathematik und Astronomie, haben einen präzisen Kalender und verfügen über metallurgische, chemische, medizinische und anatomische Kenntnisse.

Die Masse des Volkes besteht aus Analphabeten. Aber die Oberschicht ist hoch gebildet. Die ägyptischen Priester und Beamten werden in Literatur, Religion und Ethik unterwiesen. Sie kennen und beherrschen die ganze Bandbreite schriftlicher Kultur: Gleichnisse, Metaphern, Alliterationen und Wortspiele, Hymnen an die Götter, mythologische und magische Texte, Erzählungen, didaktische Schriften wie Weisheits- und Schulliteratur, Gedichte, biographische und historische Texte, wissenschaftliche Abhandlungen, Gesetzes-, Verwaltungs- und Handelstexte. Und natürlich auch schon Propaganda, Hofberichterstattung und politische Lügen. Nur die Kritik daran gibt es noch nicht, wird es nie geben in Ägypten.

Der Pharao auf seinem Thron erblickt, wenn er auf sein Reich schaut, gewaltige Totentempel, volle Kornspeicher und Lagerhäuser, große Viehherden, Heerscharen von Priestern, Beamten, Soldaten, Bauern, Fronarbeitern, Sklaven und eine schier endlose Kette von Ahnen, die er über Dutzende von Dynastien und durch Jahrtausende bis weit in eine mythische Vergangenheit benennen kann.

Er thront inmitten kolossaler Bauten, genießt seine imperiale Größe, den Glanz und die Glorie seiner Würde und Macht und glaubt mit der Unerschütterlichkeit seiner Megatonnen schweren Gräber, dass dies so sein und auf ewig so bleiben müsse.

Wohl sieht er, dass an seinen Grenzen feindliche Heere und Völker aufeinander einschlagen. Aber das bereitet ihm keine schlaflosen Nächte. Das war schon immer so. Und immer schon ist es seinen Vorgängern gelungen, diese fremden Völker und Heere entweder zu unterwerfen oder wenigstens von den eigenen Grenzen fern zu halten. Also wird es auch ihm gelingen.

Er kann nicht ahnen, dass auch sein Weltreich, wie alle Weltreiche davor und danach, dem Untergang geweiht ist. Er kann sich nicht vorstellen, dass die Griechen, mit denen man Handel treibt, zu einer Gefahr für Ägypten heranwachsen könnten. Er weiß noch nichts von den Römern, nichts von den barbarischen Germanen, die sich nördlich der Alpen in den Wäldern herumtreiben und selber noch nicht wissen, dass sie einst ein anderes Weltreich liquidieren werden.

Und schon gar nicht vermag er zu erkennen, dass mitten in seinem Imperium ein revolutionäres Volk heranwächst, das Ägypten und alle späteren Imperien überdauert und mit seiner radikal neuen Sicht der Wirklichkeit die ganze Welt bis zum heutigen Tage verändern wird. Der Pharao weiß nur: Der Kult, das Bauen, die Verewigung durch Versteinerung darf nicht aufhören, muss immer weitergehen. Nur so, glaubt er, glauben alle, kann das Reich von Dauer sein.

So wie der nie versiegende Strom des Nil das materielle Fundament Ägyptens bildet, so lebenswichtig ist auch der Strom derer, die auf den königlichen Baustellen die ägyptische Staatsidee in Stein meißeln. Darum darf auch dieser Strom nie versiegen.

Irgendwann in der mehrtausendjährigen Geschichte Ägyptens ist daher ein Pharao oder einer seiner Beamten auf die Idee gekommen, während der Nilüberschwemmungen zwischen Mitte Juli und Mitte November die Bauern in den Dienst des königlichen Totenkults zu stellen. Während dieser Zeit müssen die Bauern auf ihren Feldern untätig bleiben, also können sie Pyramiden bauen.

Fast das gesamte einfache Volk wird auf diese Weise zwangsverpflichtet, muss immer zur Regenzeit seine Dienste leisten. Reine Sklavenarbeit ist diese Fron nicht, denn die Arbeiter werden bezahlt. Strenge Aufseher sorgen für maximale Ausbeutung der Arbeitskraft, achten aber auf eine gute Ernährung ihrer Männer. Den königlichen Schriftführern und Chronisten sind sie allerdings keine Zeile wert. Der Einzelne in dieser Masse ist für die gebildete Oberschicht nichts weiter als Arbeitstier und Zugvieh.

Das «Zugvieh» aber begehrt nicht auf, verbindet sein Schicksal mit dem seines Herrn, denn beide leben vom Nil und von der Sonne, von den Kräften des Wachstums und der Fortpflanzung. Die ewige Wiederkehr des Gleichen wird als natürlicher Lauf der Welt empfunden.

Daneben gibt es noch die anderen, die Habiru, Nichtägypter, Kriegsgefangene, die als Sklaven nach Ägypten gebracht wurden, dazu tributpflichtige Untertanen aus den unterworfenen ägyptischen Provinzen. Diese Leute identifizieren sich nicht mit ihrer Fron, nehmen sie aber schicksalsergeben hin, denn sie wissen: Es gibt kein Entrinnen. Die Supermacht Ägypten ist perfekt organisiert. Niemand kommt ungehindert ins Land hinein, niemand ungehindert hinaus. Flucht wäre Selbstmord.

Auch Nomaden, die in Trockenzeiten mit ihren Herden legal auf ägyptisches Hoheitsgebiet ziehen dürfen, können zwangsrekrutiert werden. Dieses Schicksal war vermutlich den Vorfahren Israels beschieden. Es gibt einen alten Text, in dem ein Grenzbeamter meldet, dass er Beduinenstämme aus Edom ins östliche Delta hineingelassen habe, um sie und ihr Vieh am Leben zu halten. So etwas kam öfter vor, und irgendwann im Verlauf der ägyptischen Geschichte, vielleicht ein paar hundert Jahre vor dem Bau von Ramses und Pitom, muss unter diesen Beduinenstämmen auch eine Gruppe gewesen sein, die von sich behauptete, von Abraham, Isaak und Jakob abzustammen.

Vom Glanz Ägyptens, seiner Kunst, Kultur und Wissenschaft erzählte diese Gruppe, die später diesem System entfloh, nie etwas. Darum erfahren wir auch in der Bibel nichts davon. Ägypten war für die Steineklopfer immer nur «das Sklavenhaus». Auf ihren Rücken, ihren geschundenen Knochen wurde diese Kultur errichtet. Das ist es, was die Israeliten als Erinnerung aus Ägypten mitnehmen.

Während ihres Aufenthaltes in Ägypten sind sie in dem bunten Gewimmel aus Ägyptern, Nomaden, Fronarbeitern, Sklaven und Kriegsgefangenen nicht weiter aufgefallen. Jedenfalls haben wir so gut wie keine schriftlichen Zeugnisse darüber.

So entging den königlichen Geschichtsschreibern, dass es innerhalb der großen Gruppe der Habiru eine kleinere Gruppe gab, deren Mitglieder sich merkwürdige Geschichten von einem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs erzählten. Es entging ihnen, dass sich in dieser Gruppe so etwas wie rebellische Kritik an dem gigantischen Unsinn des ägyptischen Totenkults und der Menschenschinderei entzündete. Es entging ihnen, wie einige ihrer Knechte die scheinbar gottgewollte Ordnung von oben und unten infrage zu stellen begannen. Es entging den vornehm-verknöcherten Lakaien der versteinerten Supermacht, wie in ihrem geschlossenen Wahnsystem eine welterschütternde, revolutionär neue Idee geboren wurde: Freiheit!