Eine tragische Geschichte

Ein Christ fragt einen Juden, warum er sich so hartnäckig weigere, Jesus als Messias anzuerkennen. «Weil er nicht der Messias sein kann», sagt der Jude. «Warum kann er es nicht sein?», fragt der Christ. Daraufhin öffnet der Jude das Fenster seiner Wohnung, bittet den Christen, hinauszuschauen, und sagt: «Da siehst du, warum der Messias noch nicht da gewesen sein kann.»

Da draußen in der Welt hat sich seit den Tagen Jesu nichts geändert, deshalb kann Jesus nicht der Messias gewesen sein. In der Welt heute müsste es doch komplett anders zugehen, wenn der Messias tatsächlich da gewesen wäre. Die Nachrichten im Fernsehen müssten andere sein, wenn es stimmte, was die Christen seit zweitausend Jahren behaupten: Das Reich Gottes ist angebrochen.

Die heutige Kirche unterschätzt die Wucht dieser zweifelnden Anfrage der Juden. Die Kirche hat das Reich Gottes ins Jenseits verlegt, in die Seele und das Innere des Menschen. Sie unternimmt nichts dagegen, dass so viele Gläubige in Mystik und Spiritualität flüchten und sich nur noch um ihr individuelles Seelenheil kümmern, statt um die Welt. Die Kirche überlässt die Welt der Politik, und dieser erteilt sie kluge Ratschläge.

Dabei war das Reich Gottes ja tatsächlich schon einmal angebrochen, nämlich in den ersten drei Jahrhunderten der Christenheit. Aber dann ist es offenbar wieder zusammengebrochen. Was ist da eigentlich passiert?

Es ist eine tragische Geschichte. Der Teufel selbst muss Regie geführt haben. Die von römischen Machthabern verfolgten Christen beteten fast dreihundert Jahre lang um einen Herrscher, der endlich aufhört mit dem Christenmassakrieren. Sie flehten Gott an, er möge doch einen Kaiser schicken, der sie endlich in Ruhe lasse. Und das Flehen wurde erhört. Kaiser Konstantin der Große gewährte im Jahr 313 den Christen die volle Gleichberechtigung im Staat. Ab sofort waren sie frei von allen Einschränkungen und Repressalien.

Der Kaiser gewährte die neuen Rechte nicht nur aus der politischen Einsicht heraus, dass diese Christen ja doch nicht mehr auszurotten seien, sondern aus echter Sympathie für sie und ihre Lehre. Diese Sympathie ließ er sie spüren. Die Christen jubelten darüber. Nach Jahrhunderten der Verfolgung konnten sie sich zum ersten Mal frei und ohne Angst bewegen im ganzen Reich. Für den Kirchenhistoriker Eusebios war Konstantin ein Diener und Freund Gottes. Vielleicht war er es ein bisschen zu sehr.

Nach einem Jahrzehnt der Gleichstellung von Christen und Heiden begann Konstantin, die Christen im Reich zu bevorzugen. Er verbot jetzt seinen heidnischen Beamten, was früher den Christen verboten war: das öffentliche Bekenntnis ihres Glaubens durch Opfergaben. Außerdem besetzte er immer mehr Beamtenstellen mit Christen, und 321 führte er die Sonntagsfeier per Gesetz ein.

Was die Stunde geschlagen hatte, wurde öffentlich sichtbar, als Konstantin im Jahr 325 den zwanzigsten Jahrestag seines Regierungsantrittes feierte. Da war er umgeben von den Bischöfen des Konzils von Nicäa. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte dort bei solch einem Anlass die heidnische Oberschicht gesessen. Die Welt hatte sich gedreht, das Christentum gesiegt. Die Christen deuteten es als Beweis für die Wahrheit ihres Glaubens und das Handeln Gottes in der Welt. Eigentlich hätten jetzt die ersten Alarmglocken schrillen müssen, denn Gott denkt nicht in den Kategorien von Sieg und Niederlage. Vielleicht haben sie ja geschrillt, aber wurden im Jubel nicht gehört.

Taufen ließ sich der Kaiser erst auf dem Totenbett, aber lange zuvor schon war er im Herzen Christ geworden und machte die Angelegenheiten und Sorgen der Kirche zu seinen eigenen. Die Kirche war ihm dafür so dankbar, dass sie nun ihrerseits des Kaisers Angelegenheiten als die eigenen betrachtete.

In aller Unschuld und in der festen Überzeugung, Gott wolle es so, wurden Thron und Altar zu Komplizen. Eusebius berichtet noch völlig unbefangen und voll des Lobes für Konstantin, dass nun «die Bischöfe kaiserliche Schreiben, Ehrungen und Geldzuwendungen erhielten». Mehr noch als das Geld und die Schreiben und Ehrungen beglückte Eusebius, dass aus einem Feind ein Bruder geworden war, und es sich bei diesem neuen Bruder zufällig um den mächtigsten Mann der Welt handelte.

Als in der Kirche wegen heftiger Auseinandersetzungen über Glaubensfragen Abspaltungen drohten, griff der große Bruder sofort ein, wollte über kaiserliche Sondergerichte die Streitigkeiten schlichten, die im Staat geltende Wahrheit festlegen, notfalls durch Befehl, denn der Bruder Kaiser war nicht nur am Wohlergehen der Kirche interessiert, sondern auch an deren Nutzen für sein Reich und seine Herrschaft. Eine starke Kirche im Dienste des Staates war – bewusst oder unbewusst – sein Ziel. Der Kaiser hat es im Wesentlichen erreicht.

Der römische Bischof Miltiades war wenigstens noch wachsam genug, um dafür zu sorgen, dass aus den kaiserlichen Gerichten kirchliche Synoden wurden. Konstantin nahm es hin, behandelte nun aber die Synode wie ein kaiserliches Gericht. Er war es, der die erste ökumenische Synode nach Nicäa berief, er setzte die Tagesordnung fest, er leitete die Synode, und er sorgte für die Durchführung der Beschlüsse. Die Bischöfe waren auf Staatskosten angereist und hatten dort auf Staatskosten gelebt.

Der tausendjährige Versuch, das Reich Gottes per kaiserlichem Dekret zu erbauen und den Weg ins Paradies mit dem kaiserlichen Schwert zu bahnen, hatte begonnen. Der Versuch führte von einer Hölle in die nächste.

Nach allem, was wir heute wissen, der Kirche diese Ursünde vorzuwerfen, ist billig. Dass die Kirche nach der soeben beendeten Christenverfolgung die kaiserliche Fürsorge nicht als staatliche Bevormundung durchschaute, kann man kritisieren. Aber die Christen hatten noch keinerlei Erfahrung im Umgang mit der Macht und sahen zunächst nur, wie ihre Kirche unter dem Kaiser wuchs und gedieh. Warum sollten sie da die Verquickung ihrer Interessen mit denen des weltlichen Herrschers nicht als göttliche Fügung betrachten? Ebendeshalb muss es der Teufel selbst gewesen sein, der Regie geführt hat.

Dies hätte die Kirche spätestens merken müssen, als im Jahr 380 unter Theodosius dem Großen die Religionsfreiheit abgeschafft und das Christentum zur Staatsreligion wurde. Heidentum und Häresie waren zum Staatsverbrechen geworden, und noch vor dem Ende des 4. Jahrhunderts wurden schon die ersten Ketzer hingerichtet. Innerhalb kürzester Zeit war aus der verfolgten Kirche eine verfolgende Kirche geworden.

Sie hat nicht erkannt, dass Gewalt und Zwang zutiefst Gottes Willen verletzen und der Kirche nur schaden. Was einst die Kirche stark gemacht und zu ihrem großen Erfolg beigetragen hatte, der freiwillige Eintritt in die Christengemeinschaft, der damit verbundene Ernst, die tiefe Überzeugung ihrer Mitglieder, das besondere Leben in den Gemeinden, die Radikalität der christlichen Existenz, verschwand jetzt wieder, denn wie konnte man eine ernsthafte Überzeugung von Menschen verlangen, die zur Taufe gezwungen wurden oder sich aus purem Opportunismus taufen ließen?

Plötzlich bestand die Kirche in ihrer Mehrzahl aus Menschen, die innerlich gar nicht für das Christentum gewonnen waren. Dadurch wuchs sie zwar schnell zu einer mächtigen, übers ganze Römische Reich verbreiteten Organisation, aber von nun an ging ihre innere Stärke und Überzeugungskraft genau in dem Maß verloren, in dem ihre äußere Machtentfaltung wuchs.

Die Christen der ersten vier Jahrhunderte hatten naiv geglaubt, durch die Bekehrung des Kaisers werde alles gut. Sie hatten geglaubt, die Zwangschristianisierung sei im Interesse der Gezwungenen, denn durch die Taufe erwarben sie sich eine Planstelle im Himmel samt ewigem Heil.

Natürlich hätte der eine oder andere Christenführer mal fragen können, ob diese Zwangsbeglückung Gottes Willen entspreche. Aber die Christen waren damals so erfolgreich, dass sie, wie alle Erfolgreichen, nicht mehr in der Lage waren, sich selbst in Frage zu stellen. Sie wähnten sich im Besitz der Wahrheit und ignorierten, was um sie herum vorging. Sie meinten, schon längst alles zu wissen – was immer der Anfang vom Ende ist.

 

Am Ende des 6. Jahrhunderts war dann so gut wie alles wieder da, womit Jesus ursprünglich aufgeräumt hatte: eine Kirche, die den Menschen tausend Vorschriften macht, die christliche Lebenspraxis in den Gemeinden durch Opfer, Bußgottesdienste und allerlei fromme Ersatzhandlungen kompensiert, die reine ursprüngliche Lehre mit heidnischen Bräuchen und Lokalitäten verquickt, Priester als Vermittler zwischen Mensch und Gott einschaltet, Dogmen und Denkverbote erlässt, Reliquien verehrt, Ketzer verfolgt und äußerlich von heidnischen Religionen kaum mehr zu unterscheiden ist.

Allerdings: Auch das Timing war von teuflischer Genialität. Die Durchsetzung des Christentums fiel zeitlich in den Zerfall des Römischen Reiches und den Beginn der Völkerwanderung. Die Christen schlitterten in eine historische Umbruchphase hinein, in der ihnen die Aufgabe zufiel, ein altes Reich zu liquidieren und ein neues aufzubauen. Mitten im Chaos mussten sie eine neue Ordnung etablieren, die Germanen zivilisieren und sich um Politik, Wirtschaft, Verkehr, Recht, Bildung, Verteidigung und die innere Sicherheit kümmern. Für Gott blieb keine Zeit mehr, und so haben sich die vielbeschäftigten Manager des neuen Reiches im Lauf der Jahrhunderte immer weiter von ihren Ursprüngen entfernt, sich immer tiefer in die Händel der Welt verstrickt und dabei verschlissen.

Dem im 4. Jahrhundert besiegelten Bündnis von Thron und Altar folgten Inquisition, Scheiterhaufen und Hexenverbrennungen, die Ausbeutung und Unterdrückung der Schwachen durch den privilegierten Klerus, die Unterdrückung und Manipulation von Wahrheit, die Unterdrückung der Meinungs- und Glaubensfreiheit, Kriege und Kreuzzüge im Namen Gottes, Missionierung der Heiden durch Feuer und Schwert, Ausrottung der Indianer im Namen Christi, Imperialismus, Kolonialismus und Versklavung der Schwarzen unter kirchlicher Duldung, Segnung der Kanonen und kirchlich genährter Antisemitismus.

Aber: Dass wir dies heute alles wissen, dass man dies schreiben darf, ohne um sein Leben fürchten zu müssen, verdanken wir der Tatsache, dass der von der jüdisch-christlichen Religion ursprünglich selbst in die Welt gesetzte aufklärerische Impetus sich am Ende des Mittelalters gegen die Kirche gekehrt und die Neuzeit und die säkulare Welt vorbereitet hat. Damit hatte die Kirche selbst ihre eigene Entmachtung ermöglicht.

Doch wie konnte sich diese schon früh verlotterte und verkommene Kirche so viele Jahrhunderte am Leben erhalten? Eine gängige Antwort lautet, eben wegen dieses unseligen Bündnisses von Thron und Altar habe die Kirche die Jahrhunderte überdauert und sei dadurch selbst immer mächtiger und reicher geworden. Das ist nur zu einem Drittel richtig.

Das zweite Drittel der Wahrheit lautet: Die Christen der ersten drei Jahrhunderte hatten ein Glaubenskapital angehäuft, von dessen Erträgen die Kirche noch lange gut leben konnte, zumal dieses Glaubenskapital später auch noch mit enormem wirtschaftlichem Kapital gepolstert wurde.

Zum Dritten: Wie verkommen und verlottert sie auch immer gewesen sein mag, stets hat sie die alten Geschichten ihres Ursprungs durch die Jahrhunderte getragen, die alten Texte vorgelesen. Mag der, der da liest, auch ein gottverdammter Heuchler sein, er liest immerhin und viele hören es.

Nicht alle hören es. Meistens sind es nur Minderheiten, die es hören, und von denen sind es wieder nur wenige, die von dem Wort getroffen werden wie vom Blitz. Aber dieser Blitz schlägt immer wieder ein, und das führt dann bei den Getroffenen dazu, dass sich ihr Leben ändert. Sie rotten sich dann mit anderen zu einer Reform- und Protestbewegung zusammen, etwa in einem Kloster, und bringen die Kirche wieder auf Kurs. So ist es kein Zufall, dass gerade in jenem 6. Jahrhundert, in dem die Kirche schon fast nicht mehr vom Heidentum zu unterscheiden war, Benedikt von Nursia auf dem Monte Cassino ein Kloster baut und damit das abendländische Mönchtum begründet.

Es war der Protest gegen die Staatskirche, aber nicht das, was Jesus eigentlich wollte – sonst wäre er Mitglied in der Mönchsgemeinschaft der Essener gewesen. Mönchisches Leben ist bereits ein Ersatz für das verloren gegangene Leben in den Urgemeinden. Die Mönche praktizieren das Christentum stellvertretend für das zwangsgetaufte Volk. Immerhin halten die Mönche damit die Erinnerung an Kirche als Gegengesellschaft wach.

Mit ihrer freiwilligen Verpflichtung auf Armut, Gehorsam und Keuschheit sind sie es wenigstens noch, die weithin sichtbar auf jenen radikalen Anspruch des Christentums hinweisen, den Bischöfe, Pfarrer und Normalchristen schon lange nicht mehr erfüllen. Die Mönche distanzieren sich damit von den drei großen Götzen der Welt: Geld, Macht und Sex.

Indem sie diesen Mächten widerstehen, bringen sie das eigentlich Christliche zum Leuchten und teilen mit, dass sie ihre Energie lieber in die Gestaltung einer lebenswerten Welt für alle stecken als in die mörderischen Kämpfe um Macht, Erfolg, Reichtum, Glamour, Sex und frommen Mummenschanz.

Das Letzte, was von diesem eigentlich Christlichen noch übrig ist, ist der Zölibat. Weil es wirklich das allerletzte Unterscheidungsmerkmal ist, hält Rom so verzweifelt fest an ihm. Der neue Papst teilt mit dem alten die Überzeugung: Wenn die Kirche dieses Zeichen auch noch aufgibt, sind alle Unterschiede zwischen Kirche und Welt eingeebnet. Dann hat sich die Kirche endgültig selbst aufgegeben.

Aufbrüche und Protestbewegungen gegen die Verweltlichung der Kirche hat es im Verlauf der Kirchengeschichte immer wieder gegeben. Sie führten der Kirche immer wieder frisches Glaubenskapital zu. Daraus wuchs die Kraft für 1500 Jahre. Aber auch diese Aufbrüche und das gesamte Mönchtum verschlissen sich. Danach musste Luther kommen. Geteilt konnte die Kirche weitere fünfhundert Jahre existieren.

Sie konnte existieren. Gestalten kann sie schon lange nicht mehr. Die letzte große Chance, gestaltend in die Welt einzugreifen, hätte die Kirche in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gehabt. Sie hätte die Nazis möglicherweise verhindern, zumindest von Anfang an bekämpfen können. Sie hätte, als die Nazis, auch dank der Untätigkeit der Kirche, die Macht erobert hatten, mindestens opponieren können. Sie hätte, nachdem sie sogar aufs Opponieren verzichtete, den Fehler noch immer wieder gutmachen und mit dem Gehorsam Abrahams und den christlichen Märtyrern den Kampf auf Leben und Tod gegen das Naziregime wagen können.

Das sagt sich leicht von einem, der damals noch gar nicht gelebt hat und vielleicht, wenn er schon gelebt hätte, selber ein Nazi gewesen wäre. Das Argument bleibt trotzdem richtig: Opfer und Märtyrer wären vermutlich gar nicht nötig gewesen, wenn die Kirche schon vor Hitler ihre eigene Botschaft ernst genommen und von Anfang an ihre Gegnerschaft zu Nationalismus und Faschismus gezeigt hätte.

Aber große Teile der Amtskirche und ihrer Mitglieder, besonders der evangelischen, haben nicht nur stillgehalten, sondern den teuflischen Wahnsinn mitgemacht. Viele haben geschwiegen und weggesehen. Einige haben leise widersprochen, wenige laut. Nur ganz wenige haben den Widerstand gewagt. Damals, zwischen 1918 und 1945, wurden in Deutschland die letzten noch vorhandenen Reste kirchlicher Glaubwürdigkeit verspielt. Ein radikaler Neubeginn nach dem Krieg wäre nötig gewesen. Er wurde nicht gewagt.

Seitdem verdunstet das Christentum in ganz Europa, und ein Blick aus dem Fenster genügt, um zu sehen: Die Juden haben Recht. Da ist nichts mehr, was die Wahrheit des Glaubens der Kirche erweisen könnte.