Aus Jakob wird Israel

Die Geschichten des Alten Testaments gleichen Bäumen, die aus kleinen Samenkörnern gewachsen sind. Am Anfang der großen Jakobsgeschichte stand vielleicht nur ein kleiner Spott, wie es ihn zwischen Rivalen schon immer gegeben hat. Auch heute noch: Die Kölner spotten über die Düsseldorfer und umgekehrt, die Mainzer über die Wiesbadener, die Ossis über die Wessis.

In der Welt Isaaks und Jakobs lebten sesshafte Bauern und Nomaden, Hirten und Jäger, die Isaak-Sippe und andere Sippen. Konflikte, die zwischen solchen Gruppen unvermeidlich sind, bilden wahrscheinlich den Urstoff für die Geschichte von Jakob und Esau. Die karikierende Beschreibung Esaus als rötliches Baby, das behaart auf die Welt kommt, sich zu einem tumben Tor entwickelt, der für ein Linsengericht sein Erstgeburtsrecht verkauft, deutet darauf hin, dass sich hier Hirten einen Schmäh über die in ihren Augen primitiven Jäger ausgedacht haben.

Die Jäger werden daraufhin Jakob als Muttersöhnchen bespöttelt haben, und wahrscheinlich stammt von ihnen das Detail, dass sich Jakob bei der Geburt Esaus Ferse gekrallt hatte. Vielleicht saßen Hirten und Jäger am Lagerfeuer beieinander, wo man sich solche Bösartigkeiten und zur Unterhaltung auch noch andere Geschichten erzählte. Man musste sich seine Krimis noch selbst ausdenken. Etwa die Geschichte von jenem Bürschchen, das mit Hilfe seiner Mutter den Bruder um den väterlichen Segen bringt.

So eine Geschichte schreit nach Fortsetzung. Was wird aus den beiden Brüdern? Die Sache spinnt sich wie von selber fort: Der betrügerische Bruder flieht, muss zwanzig Jahre Frondienst leisten in der Fremde, wo er zum betrogenen Betrüger wird und am Ende reumütig zurückkehren möchte in seine Heimat.

Derlei Geschichten waren über Jahrhunderte in Umlauf und bildeten das Rohmaterial, das später, zur Zeit König Davids (um 1000 vor Christus), und noch später, im babylonischen Exil (um 600 vor Christus), von Israels Theologen zu Literatur veredelt wurde. Da wird dann nicht mehr schlicht erzählt, dass Rebekka über die Stöße in ihrem Bauch erschrak, sondern die Theologen ergänzen, Rebekka habe gefragt, was aus ihr werden solle. Und habe von Gott die Antwort erhalten: Zwei Völker sind in deinem Leib, zwei Stämme trennen sich in deinem Schoß. Ein Stamm ist dem anderen überlegen. Der ältere muss dem jüngeren dienen. Aus Jakob wird Israel, aus Esau Israels Nachbarvolk der Edomiter.

Und schon handelt es sich nicht mehr um den Beginn einer Posse, sondern um eine Reflexion über die Erwählung Israels durch Gott. Durch diese Heraushebung des einen Volkes kommt ja ein Riss in die Welt – die Ursache für neue Konflikte und Missverständnisse.

Jemand fühlt sich auserwählt, hält sich für etwas Besseres, dünkt sich den anderen überlegen, erkennt die Götter der anderen nicht an, lässt nur seinen Gott gelten. Die heidnischen Völker sind tolerant, lassen die Götter der anderen gelten, übernehmen sogar fremde Götter und haben kein Problem damit.

Mit Israels Glaube an nur einen Gott aber kommt die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Göttern in die Welt, und diese Unterscheidung stößt den Rest der Welt vor den Kopf. Da kommt den Theologen die Geschichte Jakobs gerade recht. Indem sie Jakob, den Betrüger, zu ihrem dritten Stammvater erklären, nehmen sie jenen Kritikern den Wind aus den Segeln, die Israel wegen seines Auserwähltseins eine unerträgliche Hybris unterstellen.

Einen Kleinkriminellen als Stammvater eines Volkes zu benennen, ist etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Die Stammväter der anderen Völker sind Ritter ohne Fehl und Tadel, Sieger, Helden, Götter und Halbgötter. Israel bekennt sich zu einem Betrüger und sagt damit: Wir bilden uns nicht ein, etwas Besonderes und etwas Besseres zu sein. Im Gegenteil, uns mit unserer unrühmlichen Abstammung überrascht es ja selbst am allermeisten, dass Gott sich ausgerechnet uns ausgesucht hat. Uns sind keinerlei Verdienste bekannt, die so etwas rechtfertigen. Aber offenbar waren wir die Einzigen, die sich Gottes Willen unterwarfen, und nur darum sind wir zu seinem Volk geworden.

Die Jakobsgeschichte ist also ein Friedensangebot Israels an die Nachbarvölker, zum Beispiel an die Edomiter. Ihnen sagt Israel: Dass wir unseren einzigen Gott anbeten, uns nicht an eure Vielgötterei anpassen wollen und die Unterschiede zwischen uns nicht verwischen können, soll kein Grund für Unfrieden zwischen uns sein, denn eigentlich sind wir Brüder. Unser Urahn hat eurem Urahn zwar Unrecht getan, aber beide haben sich auch wieder versöhnt – so geht die Geschichte nämlich weiter.

 

Nach seinem seltsamen Erlebnis am Jabbok, wo Jakob den Namen Israel erhält, zieht er Esau entgegen und verneigt sich siebenmal vor ihm. Da läuft Esau auf ihn zu, umarmt ihn, fällt ihm um den Hals, küsst ihn, und beide weinen. Esau will Jakobs Geschenke gar nicht annehmen, Jakob nötigt ihn, sie doch zu nehmen.

Die Brüder sind versöhnt, Esau hat Jakob verziehen, die Geschichte endet nicht wie bei Kain und Abel. Gottes Eingreifen am Jabbok hat es möglich gemacht. Gott ist es, der dort mit Jakob ringt. Als er seiner nicht Herr werden kann, schlägt er Jakob so auf die Hüfte, dass er fortan hinkt. Jakob bekennt nach diesem Kampf: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist gerettet worden. Danach wird er bei der Begegnung mit Esau sagen: Ich habe dein Angesicht gesehen, als sähe ich Gottes Angesicht, und du warst so freundlich gegen mich.

Der Ringkampf Jakobs mit Gott steht hier als Bild für Jakobs Ringen mit seinem Gewissen, dem allmählichen Wachsen der Einsicht in seine Schuld gegenüber Esau und dem Wunsch, sich mit ihm zu versöhnen. Hier, am Jabbok, fand Jakobs Umkehr statt, und erst in diesem Moment wird er tatsächlich zum dritten Stammvater Israels. Der Jakob nach der Umkehr ist ein anderer als der Betrüger, der er zuvor gewesen ist, und erhält deshalb auch einen neuen Namen.

Jakob hat allerdings auch Glück. Esau hätte ja Jakobs Bitte um Versöhnung ablehnen können. Versöhnung lässt sich nicht erzwingen. Hier gerät der Mensch wieder an eine Grenze, die er nicht überwinden kann, an der er auf Gott angewiesen ist. Dass sich Esau versöhnungsbereit zeigte, muss daher Gottes Handeln zugeschrieben werden. Nur so konnte die Geschichte, die mit Abraham begann, fortgesetzt werden.

 

Mit der Deutung der Jakobsgeschichte als Friedensangebot der Israeliten an die anderen Völker ist die Geschichte aber noch nicht erschöpft. Israels Anspruch, ohne eigenes Verdienst von Gott erwählt worden zu sein, ist keinesfalls als bloß kluge Taktik zu verstehen, die es dem kleinen, ständig bedrohten Volk ermöglicht, in friedlicher Nachbarschaft mit den Heiden zu leben. Dieser Anspruch richtet sich genauso an jeden einzelnen Angehörigen des Volkes Gottes. Man ist sich in Israel wirklich keiner Verdienste bewusst, die Gottes Wahl als plausibel erscheinen lassen. Nur der Glaube ist vorhanden, das Vertrauen darauf, dass tatsächlich Gott es ist, der Israel ausgewählt hat.

Dass dieser Glaube ein sehr diesseitiger ist, schimmert ebenfalls in der Jakobsgeschichte durch. Jakob wächst völlig profan auf. Nur zweimal tritt Gott in sein Leben, auf seiner Flucht zu Laban und seinem Rückweg in die Heimat. In den zwanzig Jahren dazwischen geht Jakob seinen weltlichen Geschäften nach. Von Gott ist während der ganzen Zeit jedenfalls nicht die Rede.

Jakobs Geschichte spiegelt Israels Erfahrung in der Fremde. Den größten Teil seiner Geschichte musste es anderen Völkern dienen, wurde ausgenutzt wie Jakob und hoffte vergeblich auf göttlichen Beistand. Doch selbst wenn es scheint, als habe Gott sein Volk verlassen, so ist er dennoch da und wird sich, wenn er es für nötig hält, durch sein Handeln auch wieder zeigen.

«Mich tröstet der Gedanke, dass der Herr mit unfertigen Werkzeugen zu arbeiten versteht», hat der frisch gekürte Papst Benedikt XVI. in seiner ersten Rede an das Volk gesagt. Auch dafür ist die Geschichte von Jakob ein Beispiel. Das Holz, aus dem der Mensch geschnitzt ist, mag so krumm sein, wie es will, der liebe Gott biegt alles wieder gerade – wenngleich sofort hinzuzufügen ist, dass der Vorrat an Gemeinsamkeiten zwischen dem schlitzohrigen Jakob und dem tugendhaften Papst begrenzt sein dürfte.