Die Kirche: Gottes unerfüllte Hoffnung

Der Auftrag

Hatten die Jünger nach dem Tod Jesu Kontakt untereinander? Haben sie versucht, mit ihrer Enttäuschung fertig zu werden? Die Evangelien erzählen nichts davon. Stattdessen warten sie mit einer Geschichte auf, die alles, was vorher gewesen ist, in den Schatten stellt: Jesu Auferstehung am Sonntag nach der Kreuzigung, vierzig Tage später die Himmelfahrt, fünfzig Tage danach die Ausgießung des Heiligen Geistes, Pfingsten.

Angesichts solcher Ereignisse ist der Jünger Katzenjammer, dem sie sich drei Tage lang ergeben hatten, nicht der Rede wert. Darum reden sie nicht mehr davon, deshalb erfahren wir nichts. Darum kommt in der Bibel nach dem Tod gleich die Auferstehung. Für uns ein bisschen zu früh.

Wir Krisengeschüttelten, wir modernen orientierungslosen Zeitgenossen sollten noch eine Weile versuchen, ohne die «Hypothese Auferstehung» auszukommen, die uns allergrößte Schwierigkeiten bereitet. Versuchen wir zunächst, uns vorzustellen, dass es keine Auferstehung gegeben hat am dritten Tag, sondern vierzig, fünfzig Tage lang nichts anderes geschah als Krisenbewältigung bei den Jüngern und bei Jesu Anhängern. Wie könnte diese Krisis verlaufen sein?

Es lohnt sich zu spekulieren: Zunächst haben sich Jesu Anhänger einzeln oder in Grüppchen aus Angst vor der römischen Supermacht irgendwo versteckt, dann vorsichtig die Fühler ausgestreckt, um herauszufinden, ob sie von den Römern gesucht werden. Als sich herausstellte, dass für die Römer der Fall erledigt ist, wagten sich die ersten, vermutlich die mutigeren Frauen, heraus aus ihren Verstecken. Die Frauen sagten dann: Lasst uns zusammenkommen und miteinander reden. Und sie treffen sich irgendwo. Eine geschlagene, ängstliche Truppe aus lauter Versprengten sammelt sich zum ersten Mal nach dem Tod dessen, den sie für den Messias gehalten hatten.

Es muss eine traurige Veranstaltung gewesen sein. Wahrscheinlich ist nicht mehr dabei herausgekommen als der mit knapper Mehrheit, unter heftigem Zureden der Frauen gefasste Beschluss, sich erneut zu treffen. Man trifft sich also wieder und hört auf, sich gegenseitig anzufrusten. Sie erzählen einander, wie sie die letzten Tage verbracht, was sie erlebt, gefühlt und gedacht haben. Sie fragen sich, warum alles so gekommen ist. Sie fragen sich, wie es nun weitergehen solle.

Wie soll es schon weitergehen, sagen die Frauen. Wir bleiben zusammen, bis Jesus wiederkommt. Er hat doch gesagt, dass er wiederkommen wird.

Thomas antwortet, dass er dies, nach allem, was vorgefallen ist, so wenig glaubt, wie er noch glaubt, dass Jesus der Messias war. Darum werde für ihn jetzt gar nichts weitergehen. Die Sache sei gelaufen, er habe sich geirrt und vor aller Welt blamiert. Das, woran er mal geglaubt hatte, habe die schlimmstmögliche Wendung genommen. Also werde er jetzt einfach beschämt in sein früheres Leben zurückkehren, den alten Beruf wieder ausüben und sich künftig hüten, neu auftretenden Messiassen auf den Leim zu gehen.

Einige stimmen lebhaft zu, einige schweigen, andere stellen Vermutungen an, suchen nach Gründen, warum sie diesem Jesus auf den Leim gegangen sind. Sie bezichtigen sich und die anderen der Einfalt und Dummheit, behaupten, eigentlich immer schon an dem Ganzen gezweifelt und in letzter Zeit sogar geahnt zu haben, dass alles katastrophal enden würde – bis Maria Magdalena laut und heftig widerspricht, sich einiger Worte des Toten erinnert und sagt: So dumm ist das doch alles gar nicht gewesen, was Jesus zeit seines Lebens gesagt und getan hatte.

Jakobus stimmt zu und sagt: Er ist jetzt zwar tot, aber bleibt nicht wahr, was er uns gelehrt hat? Nein, wir waren nicht dumm. Wir mussten so handeln, wie wir handelten, weil uns seine Worte unmittelbar einleuchteten. Und eigentlich leuchten sie mir immer noch ein.

Petrus sagt, er fühle sich mitschuldig am Tod Jesu. Andere murmeln etwas von eigenem Versagen und vermuten, dass Jesus vielleicht noch lebte, wenn sie, statt zu fliehen und ihn mutterseelenallein zu lassen, die Öffentlichkeit informiert und mutig vor dem Hohen Rat protestiert hätten. Einige weinen. Andere trösten sie. Thomas widerspricht und fragt provozierend in die Runde, ob sie es vielleicht besser gefunden hätten, mit Jesus ans Kreuz genagelt zu werden?

Dann gehen sie auseinander, hängen allein ihren Gedanken nach, kommen wieder zusammen, reden, tauschen Erinnerungen aus, drei Tage lang, vierzig Tage lang, sieben Wochen.

Allmählich teilt sich die Gruppe in zwei Lager. Die einen haben keine Lust mehr, wollen, dass man sich jetzt einfach auflöst und jeder seiner Wege geht. Die anderen, besonders die Frauen, sind noch nicht fertig miteinander und mit dem Geschehenen, wollen auch in Zukunft zusammenkommen. Die Treffen gehen weiter. Einige bleiben weg.

Irgendwann erinnert Andreas sich und die anderen an jene denkwürdige Predigt Jesu, die später unter dem Namen «Bergpredigt» Berühmtheit erlangte und bis heute den Kern christlicher Ethik ausmacht. Damals, als sie mit Jesus auf dem Berg gewesen sind, auf dem er vor vielen Leuten gepredigt hat, hatte er unter anderem gesagt: Glückselig sind die geistlich Armen, denn ihrer ist das Reich der Himmel. Und Andreas fragt: Sind das nicht wir, die «geistlich Armen»? Wir sind doch völlig ratlos, orientierungslos, ohne Hoffnung, krisengeschüttelt. Warum aber sind wir nicht glückselig, sondern fühlen uns jämmerlich?

Er hat auch gesagt, glückselig sind die Trauernden, denn sie sollen getröstet werden, aber wie sollen wir uns trösten? Ist da jemand, der uns trösten kann?, fragt Thomas.

Ja, und die Sanftmütigen sind glückselig, hat er gesagt, die Barmherzigen, die Friedfertigen, die reinen Herzens sind und die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, ergänzt Jakobus.

Schöne Worte, sagt Thomas, helfen sie irgendeinem von euch? Gebt doch zu, dass ihr einem Phantom aufgesessen seid. Drei Jahre lang sprach dieser angebliche Messias von nichts anderem als von großen Ereignissen, die der Welt bevorstehen, und was ist jetzt? Tot ist er, und die Welt geht weiter ihren normalen Gang.

Und doch bin ich nicht bereit, die zurückliegenden Jahre mit Jesus als verloren zu betrachten, sagt Johannes. Das, was er auf dem Berg gesagt hat, das stimmt doch immer noch, beispielsweise dieser Satz: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, so biete ihm auch die andere dar, und wer mit dir vor Gericht gehen und dein Hemd nehmen will, dem lass auch den Mantel. Ich hielt das damals für verrückt. Heute leuchtet es mir ein.

Glaubst du, die Römer würde das beeindrucken?, fragt Thomas. Glaubst du, dass sie das davon abhalten würde, dir auch rechts eine reinzuhauen?

Nein, glaube ich nicht, sagt Johannes. Jesus hat auch nicht die Römer gemeint, sondern uns. Wir sollen so miteinander umgehen, nicht die Römer. Aber wenn die Römer sehen könnten, dass ein ganzes Volk so miteinander umgeht, wie wir das tun sollten, dann bestünde zumindest die Chance, dass einige Römer nachdenklich werden.

Es geht aber kein ganzes Volk so miteinander um, wie es dem Backen-Wort entspricht, wendet Lukas ein.

Dann eben nicht, sagt Matthäus. Kümmert euch doch nicht um das, was die anderen tun oder nicht tun, sondern um das, was ihr tut und was wir tun. Lasst uns damit anfangen und andere davon überzeugen, dass sie es auch tun sollten.

Maria Magdalena wiederholt ihre Überzeugung, dass Jesus wiederkommen werde. Er ist längst auferstanden, sagt sie, er ist bei Gott im Himmel, und sie sei sich sicher, dass er jetzt zugleich unsichtbar mitten unter ihnen sei und ihnen zuhöre. Wäre es daher nicht am besten, fragt sie, wenn man zusammenbliebe, auf seine Wiederkunft wartete und bis dahin einfach so weiterlebte, wie er es gelehrt hatte – friedfertig, gerecht, barmherzig und immer im Bewusstsein, dass er da, wo zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen, mitten unter ihnen ist? Ist es nicht das, was er gewollt hat?

Und im Geist der Versöhnung, ergänzt Petrus. Und er zitiert: Wenn du nun deine Gabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.

Immer mehr solcher und ähnlicher Worte fallen ihnen nun ein, und sie zitieren eifrig durcheinander: Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet. Gebt, so wird euch gegeben werden. Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?

Die Stimmung hellt sich auf. Sogar der ungläubige Thomas und all die anderen Skeptiker sind jetzt bereit, an den nächsten Treffen weiter teilzunehmen. Was aber kann dabei herauskommen, wenn sich eine geschlagene Truppe im Verlauf von Tagen und Wochen in eine bessere Stimmung hineinredet? Nichts.

Eben.

So, wie bisher erzählt, könnte es zwar gewesen sein, aber so um den fünfzigsten Tag nach Jesu Kreuzigung muss etwas Unerklärliches passiert sein. Anders ist nicht zu erklären, was dann geschah. An jenem fünfzigsten Tag hatten plötzlich alle miteinander, einschließlich des ungläubigen Thomas, schlagartig verstanden, dass sie einem falschen Gottes- und Messiasbild aufgesessen waren. Sie hatten einen Endsieg erwartet, einen Sieg mit Glanz und Gloria und hübschen Pöstchen und Belohnungen dafür, dass sie sich so lange hatten verspotten lassen. Ihre Vorstellung von einem Messias, der wie ein römischer Kaiser mit Legionen von Engeln aus dem Himmel herabsteigt, die Welt zum Erbeben bringt, seine getreuen Jünger vor aller Welt auszeichnet und sie zu sich erhebt, haben sie als falsch, typisch menschlich, heidnisch, beschränkt und dumm erkannt.

Noch nie hat sich Gott, wenn er handelnd in die Welt eingriff, des kaiserlichen Brimboriums bedient. Immer bediente er sich einfacher, gewöhnlicher Menschen – Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Josef, der Propheten, Jesus. Und nun, so erkannten sie, sind sie dran: Maria Magdalena, Petrus, Johannes, Jakobus der Ältere und Jakobus der Jüngere, Andreas, Thomas, Matthäus, Thaddäus, Simon, Matthias, Philippus, Bartholomäus und noch viele andere Männer und Frauen, die sich an jenem fünfzigsten Tag versammelt hatten.

Einmütig erkannten sie ihren Auftrag: Das, was Jesus begonnen hatte, fortzuführen. Einträchtig beschlossen sie, fortan so miteinander zu leben, wie Jesus es sie gelehrt hatte. Und plötzlich waren die Angst und Verzweiflung weg.

Weil sie nun nichts mehr fürchteten, beschlossen sie, wieder in die Öffentlichkeit zu gehen und aller Welt das Evangelium von Jesus zu verkünden, egal, was die Römer machen würden. Wie sagte Jesus? Glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und lügnerisch jegliches böse Wort gegen euch reden um meinetwillen. Sollen sie uns doch kreuzigen. Unsere Körper können sie töten. Das, wofür wir stehen und was mit Jesus in die Welt gekommen ist, die Sache Gottes, können sie nicht ans Kreuz nageln. Das bleibt in der Welt, so lange, wie die Welt besteht.