Exodus: Wie sich Gott ein Volk erfand

Im Sklavenhaus

Jakobs Nachkommen leben in Ägypten, aber nach etlichen Generationen werden sie versklavt. Die Bibel erklärt es damit, dass bei den Nachfolgern des Pharaos die Erinnerung an Josef zunehmend verblasste und schließlich ganz verschwand. Da kam ein neuer König auf, der nichts von Josef wusste.

Er weiß nichts, aber sieht: Das Volk der Kinder Israels ist zahlreicher und stärker als wir. Darum zwingt er sie mit Gewalt zum Dienst in den königlichen Steinbrüchen und Baustellen, macht ihnen das Leben bitter mit harter Zwangsarbeit und setzt Sklaventreiber über sie. Um die Vermehrung dieses Volkes zu stoppen, befiehlt er den hebräischen Hebammen, die neugeborenen Söhne der Hebräerinnen zu töten.

Es handelt sich also um einen sehr brauchbaren, tüchtigen König, denn er beherrscht das Königshandwerk, die Technik der Macht. Er ist umsichtig, nach allen Seiten misstrauisch und riecht hundert Kilometer gegen den Wind, wenn sich etwas regt, was seine Macht gefährden könnte.

Ein fremdes Volk im eigenen Land, das sich zu stark vermehrt, ist solch eine Gefahr. Es könnte ja eines Tages streiken, die anderen Arbeiter aufwiegeln und sämtliche Baustellen des Landes lahm legen. Wenn es Krieg gibt, könnte das Volk fliehen, zum Feind überlaufen und an dessen Seite gegen Ägypten kämpfen.

Tyrannen wissen sehr genau, dass ihre Tyrannis nur so lange funktioniert, wie das Volk aus lauter Angst mitspielt. Darum sind Tyrannen krankhaft misstrauisch und päppeln mit viel Geld gewaltige Spitzelapparate auf, um ins Volk hineinhören und den leisesten Widerstand aufspüren zu können. Darum müssen von Zeit zu Zeit ein paar Leute gehängt werden, egal, ob schuldig oder nicht, damit jeder weiß, was ihm blüht, wenn er nicht spurt.

Das Ergreifen vorsorglicher Maßnahmen zählt daher zu den vornehmsten Königspflichten, schon im Ägypten des zweiten Jahrtausends vor Christus. Und das Volk der Juden erkennt die Mechanismen der Macht mit scharfem Blick – in der Bibel werden sie bloßgelegt. Im Protest gegen die auf Gewalt beruhende Macht wird Israel zum Volk.

Der Protest beginnt mit der Weigerung der Hebammen, die neugeborenen Kinder der Hebräerinnen zu töten. Vor dem Pharao reden sie sich damit heraus, dass die hebräischen Frauen vitaler seien als die ägyptischen. Ehe die Hebammen zu den Hebräerinnen kommen, hätten sie schon geboren, erzählen sie dem Pharao.

Solch passiver Widerstand mag in Demokratien funktionieren, in totalitären Systemen fruchtet er nicht. Der Pharao befiehlt nun, alle neugeborenen Söhne der Hebräer in den Nil zu werfen. So macht man das, wenn man zum Herrschen geboren ist.

Meistens herrscht dann Ruhe. Damals aber ruft der Pharao mit seiner Entscheidung einen Gegner auf den Plan, mit dem er nicht rechnen konnte: Gott. Leider ist Gott meistens ohnmächtig. Er kann ja nur durch Menschen handeln, und so lange die sich die Tyrannei gefallen lassen, kann Gott nichts ausrichten. Sobald er aber einen Einzigen findet, der rebelliert, eilt Gott freudig herbei, um mit großem Eifer zu helfen. Wie es dabei zugeht, was genau passiert, wissen wir nicht, das bleibt Gottes Berufsgeheimnis. So lässt sich nur sagen: Hat er auch nur einen einzigen Freiwilligen, macht Gott sich voller Tatendrang ans Werk.

Damals, vor 3300 Jahren in Ägypten, hat das zum ersten Mal funktioniert. Niemand hat etwas davon geahnt, denn zunächst geht scheinbar alles seinen normalen Gang, wie seit Jahrtausenden schon. Des Königs Anordnungen wird Folge geleistet. Die Hebräerinnen gebären, und wenn es ein Sohn ist, wird er tatsächlich in den Nil geworfen.

Klein, unscheinbar, mit der schwächsten Kraft, die man sich denken kann, setzt Gott seinen Widerstand ins Werk. Eine der vielen Frauen, die gebären, macht nicht mit. Als sie sieht, dass ihr Sohn «ein feines Kind» ist, verbirgt sie es drei Monate, und als das zu gefährlich wird, macht sie ein Kästlein aus Schilfrohr, verklebt es mit Erdharz und Pech, legt das Baby ins Kästchen und setzt es ins Schilf am Ufer des Nil, ganz vorsichtig, damit es nicht sofort abgetrieben wird. In einigem Abstand postiert sie die ältere Schwester des Knaben, damit sie beobachtet, was passiert.

Und es kommt die Tochter des Pharaos mit ihren Jungfrauen, um zu baden, sieht das Kästlein und das darinnen liegende Kind, das weint, erbarmt sich und erkennt sofort: Es ist der hebräischen Kindlein eins. Die Pharaonentochter ist entzückt.

Geistesgegenwärtig eilt die beobachtende Schwester des Neugeborenen hinzu und fragt listig: «Soll ich eine hebräische Amme rufen, damit sie dir das Kindlein stillt?» – «Ja, geh», sagt die Pharaonentochter. Und die Schwester holt ihre Mutter, die das Knäblein mit nach Hause nimmt und stillt und sich kümmert, bis es groß ist. Dann bringt sie es der Tochter des Pharaos, die ihm den Namen Mose gibt und dafür sorgt, dass er eine vorzügliche Bildung und Erziehung bekommt.

So wurde der Mann gerettet, der später Israel retten und eine neue Religion stiften wird.

Wieder stellt sich die Frage: Warum gerade er? Vielleicht, weil er am Königshof die Ausbildung und das Herrschaftswissen erwirbt, das zur Erfüllung seiner späteren Aufgabe nötig ist. So einer weiß, wie die Machthaber ticken. Vielleicht auch, weil er über eine Eigenschaft verfügt, die später für sein Volk wichtig wird: Sinn für Gerechtigkeit. Er, der Starke, rebelliert gegen das Recht der Stärkeren.

Er sieht, wie Frauen an einem Brunnen ihre Herden tränken wollen, dabei von Hirten durch bloße körperliche Überlegenheit einfach verdrängt werden, und kommt den Frauen zu Hilfe, tränkt eigenhändig ihr Vieh. Er wird Zeuge eines Streits zwischen zwei Israeliten. Dem Schwächeren geschieht Unrecht, und er droht im Streit zu unterliegen. Da mischt sich Mose ein und verhilft dem Schwächeren zu seinem Recht. Es wird Mose nicht gedankt.

Gewalt gegen Schwächere kann Mose so in Rage bringen, dass er auch die Gegengewalt nicht scheut. Als er sieht, wie ein Ägypter auf einen Hebräer eindrischt, eilt er hinzu, erschlägt zornentbrannt den Ägypter und muss fliehen. Geholfen hat er seinem Volk damit nicht. Gewalt ist keine Lösung, lernt er daraus.

Aber er hatte zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Begegnung mit Gott. Zu dieser Begegnung kommt es, als die Kinder Israel seufzen und schreien über ihre Arbeit und das Geschrei zum Himmel dringt. Da erinnert Gott sich an seinen Bund mit Abraham, Isaak und Jakob und sieht Mose.

Durch ihn kann er handeln. In einem brennenden Dornbusch offenbart er sich Mose. Er wolle sein Volk herausführen aus Ägypten in ein Land, in dem Milch und Honig fließen, erzählt er ihm. Und er, Mose, soll daher zu seinem Volk gehen, ihm von dem göttlichen Plan berichten und mit seinem Bruder Aaron das Volk anführen.

 

Wir wissen nicht, wie wir uns das Geschehnis vorstellen sollen, was wir zu sehen bekämen, wenn Fernsehkameras dabei gewesen wären. Vielleicht gar nichts. Es ist gut möglich, dass sich alles nur in Moses Kopf abgespielt hat. Aber das, was sich dann später ereignete, die wirkliche Flucht der Israeliten aus Ägypten, war keine Kopfgeburt mehr. Das hätte man filmen können.

Mose ist willig, berichtet die Bibel, aber er hat keine Ahnung, wie er Gottes Auftrag erfüllen soll. Ihm ist alles Mögliche beigebracht worden am Königshof, aber nicht, wie man gegen den Pharao aufbegehrt. Macht aber nichts, denn etwas Wichtiges, für das Ziel unbedingt Notwendiges und in Ägypten offenbar noch nie Dagewesenes ist jetzt da: die kollektive Weigerung von Sklaven, ihre Versklavung als unabänderliches Schicksal einfach hinzunehmen.

Was fehlt, ist ein Plan, wie man sein Schicksal wendet. Gott hat zwar gesagt, er wolle sein Volk aus Ägypten führen, aber noch glaubt nicht einmal Mose richtig daran, hält das eher für eine utopische Vorstellung, denn er weiß: Niemals wird der Pharao so viele Arbeitskräfte einfach aus seinem Land ziehen lassen. Was Mose sich im günstigsten Fall vorstellen kann, ist eine Linderung der Sklaverei, eine Reform.

Und genau da setzt er an. Mose geht zum Pharao und bittet, mit seinem Volk drei Tage in der Wüste ein Fest zu Ehren seines Gottes halten zu dürfen. Drei Tage nur, dann werde man zur Arbeit zurückkehren, eine Art Pausenregelung wird erbeten – nicht gerade eine unverschämte Bitte. Aber natürlich naiv. Der königliche Machtmensch kennt das alte Herrscher-Motto: Reichst du dem Volk den kleinen Finger, ergreift es gleich die ganze Hand.

Und darum: Abgelehnt. Majestät zeigt sich beleidigt über solch ein Ansinnen und reagiert mit einer Verschärfung der Fron für Israel. Majestät weiß, wie man Anzeichen von Renitenz im Keim erstickt. Das Volk wird aufjaulen unter dem verschärften Druck und nicht den Pharao, sondern Mose dafür verantwortlich machen.

Genauso kommt es. Das Volk überschüttet Mose mit Vorwürfen. Der gemeinsame Wille ist gebrochen, kaum dass er sich zeigte. Mose steht vor der Frage aller Revolutionäre: Wie nimmt man den Unterdrückten die Angst vor ihrem Unterdrücker? Und, falls dies gelingt, welches Ziel kann realistischerweise erreicht werden? Die Umkehr der Machtverhältnisse? Illusorisch. Zu blutig. Letztlich zu wenig revolutionär. Gott will ja nicht die bloße Umkehr des Bestehenden, sondern dessen Verwandlung zu etwas ganz Neuem.

Mose erinnert sich, welche Lösung Gott bevorzugt: Raus aus dieser geschlossenen Anstalt namens Ägypten. Exodus. Das System wird an sich selbst zugrunde gehen, aber so lange kann Israel nicht warten. Darum raus und vorwärts in eine neue, unbekannte Zukunft. Wie Abraham.

Aber wie? Auch die Flucht ist mit Lebensgefahr verbunden. Und wohin? In die Wüste? Wie soll ein ganzes Volk darin überleben und vor den Ägyptern sicher sein? Solche Fragen plagen Mose, aber vor allem die Frage: Ist nicht alles sinnlos? Auch ein Plan für die Zeit danach fehlt. Aber einfach immer so weiterleben? Ohne Würde? Ohne Freiheit?

Da fasst sich Mose ein Herz und erkennt: Ohne Mut geht es nicht. Vielleicht hat er auch gesagt: Ohne Hilfe von oben geht gar nichts. Nur ein Gott kann uns noch retten. Seinem Volk sagt Mose: Der Gott unserer Väter ist mit uns. Und das Volk glaubt Mose. Es entschließt sich zum Widerstand. Es will raus in die Freiheit.

Widerstand braucht Zeit. Ist sie da, muss die Machtprobe riskiert, die Angst ausgehalten werden bis zum ersten Erfolgserlebnis, das darin besteht, dass der Machthaber nicht sofort zurückschlägt, wenn er den geballten Widerstand der Masse spürt. Denn nun weiß er, was immer er tut, es wird ihn etwas kosten, Soldaten, Arbeitskräfte, Zeit und Geld. Er muss überlegen, wie er die größtmögliche Wirkung zu den geringsten Kosten erzielt. Er braucht Zeit.

Dass überraschenderweise nichts passiert, die Soldaten in der Kaserne bleiben, bedeutet den ersten Erfolg – eine ganz neue Erfahrung für Menschen, die bisher nur erlebt haben, dass schon die kleinste Unbotmäßigkeit drakonisch bestraft wird. Und nun, angesichts der größten denkbaren Provokation, zögert die Macht.

Dieses Zögern ist für das Volk der wichtigste Moment. In ihm wird es sich seiner eigenen Macht bewusst und lernt: Einigkeit macht stark. Stärke macht mutig. Der Mut der vielen reißt die Ängstlichen mit. Je länger der Gegenschlag ausbleibt, desto schneller baut sich die Gegenmacht auf.

Gewonnen ist damit aber noch nichts, sondern es spitzt sich nur alles zu, eine Reaktion des Tyrannen wird nicht ausbleiben. Und die wird fürchterlich sein. Oder will der Tyrann verhandeln? Wie wird die Kraftprobe enden?

 

In der Bibel hört sich alles sehr einfach an. Da hat das Volk Gott auf seiner Seite, und darum kann ihm eigentlich gar nichts mehr passieren. Aber das ist bereits gedeutete und verdichtete Geschichte, verkleidet in mythologische Sprache, geschrieben viele Jahrhunderte nach dem Ereignis. Wie es wirklich war, wie viel Mut und Solidarität des Volkes es bedurfte, wie viel Gottvertrauen Mose und Aaron brauchten, wie viel Überzeugungskraft nötig war, um das zaghafte, machtlose, seit Jahrhunderten unterdrückte Völkchen zum Widerstand gegen die waffenstarrende Supermacht zu bewegen, lässt sich aus den biblischen Texten nicht mehr rekonstruieren, sondern nur erahnen.

In der Bibel heißt es: Mose ging zum Pharao und verlangte, mit seinem Volk aus Ägypten ausziehen zu dürfen, was der Pharao natürlich ablehnte, was ihn aber auch erstaunte. Er dachte, er habe nun Ruhe. Er dachte, durch seine erste schroffe Ablehnung dem Volk eine Lektion erteilt und Zwietracht unters Volk gesät zu haben. Stattdessen hat dieser Mose die Stirn, ein zweites Mal zu kommen, mit einer noch unverschämteren Forderung.

Der Pharao sagt nein und denkt darüber nach, wie er in üblicher Weise die Daumenschrauben noch enger ziehen kann. Aber plötzlich gelingt dies nicht mehr. Plötzlich werden ihm selbst die Daumenschrauben angelegt, von Gott.

Gott hetzt jetzt dem Pharao zehn Plagen an den Hals, und diese Plagen stehen in der Bibel als Bild für die Machtprobe zwischen Volk und König. Mose reckt seinen Stab, und das Wasser im Nil und seinen Seitenarmen verwandelt sich in Blut, desgleichen in den Bewässerungskanälen und Sümpfen. Sogar das Wasser in den Zisternen wird zu Blut. Die Fische und alles Leben in den Gewässern sterben, der Nil kippt um und stinkt. Aber der Pharao zeigt sich unbeeindruckt, will dem Volk beweisen, das Problem könne er locker aussitzen.

Darum geht Mose abermals zum Pharao und sagt: Wenn du uns jetzt nicht ziehen lässt, dann wird unser Gott dich ein zweites Mal strafen, und zwar schlimmer als zuvor. Aber der Pharao pokert mit und sagt: Geh nur zu deinem Gott, er wird mir nichts anhaben können, und ihr bleibt hier, niemals lass ich euch ziehen, an die Arbeit mit euch!

Mose reckt seinen Stab zum zweiten Mal, und Abermillionen Frösche bedecken das Land, dringen in die Häuser und Betten, kriechen in die Zisternen und Backtröge und über die Menschen. Und diese Plage zeigt Wirkung. Der Pharao lässt Mose rufen und erklärt sich bereit, Israel ziehen zu lassen, wenn nur diese verdammten Frösche wieder verschwinden.

Gott lässt die Frösche sterben. Der Pharao ist zufrieden. Aber natürlich denkt er nicht daran, Israel ziehen zu lassen. Er wollte sich nur eine Atempause verschaffen und war von Anfang an entschlossen, Mose auszutricksen.

Also ist eine Mückenplage fällig. Der Pharao widersteht. Hundsfliegen fallen über Mensch und Tier her und stechen mörderisch. Der Pharao verhandelt. Aber wieder nur zum Schein, bricht seine Versprechungen, sobald die Plage vorbei ist.

Und so geht es weiter. Eine Viehpest tötet alle Nutztiere des Landes, aber der Pharao bleibt stur. Blattern befallen die Menschen, der Pharao gibt nicht nach. Hagel zerstört die Ernten, der Pharao verhandelt erneut zum Schein. Heuschrecken überfallen das Land, kommen in solchen Wolken, dass sich der Himmel verfinstert, und fressen, was nach dem Hagel übrig blieb. Der Pharao verliert den Rückhalt bei seinen Knechten und Höflingen. Sie fordern ihn auf, diese Hebräer endlich ziehen zu lassen, damit wieder Ruhe herrscht im Land.

Ein letztes Mal macht der Pharao Mose ein Angebot zum Schein, und die neunte Plage bricht herein: drei Tage Finsternis, stockdunkle Nacht, Verhandlungen mit dem Pharao, ohne Ergebnis. Die letzte Plage muss kommen.