Isaak

Eines Tages, Isaak ist zum jungen Mann gereift, verlangt Gott von Abraham das Ungeheuerliche: Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, Isaak, und geh hin in das Land Morija und bringe ihn dort zum Brandopfer dar auf einem der Berge, den ich dir nennen werde.

Spontan erwarten wir, dass Abraham entsetzt widerspricht. Gott hat ihn über Jahrzehnte hingehalten, von einem großen Volk schwadroniert, und dann, nachdem endlich der so sehnlichst erwartete Sohn geboren wird, soll dieser einzige Nachkomme sterben? Und wenn Abraham schon nicht an Gottes Verstand zweifeln will, könnte er ja wenigstens als Vater einschreiten.

Aber was tut Abraham?

Er schweigt und gehorcht, spaltet Holz fürs Brandopfer, sattelt seinen Esel, zieht mit Isaak und zwei Knechten nach Morija und behauptet, dort Gott ein Lamm opfern zu wollen. Seiner Frau Sara erzählt er kein Wort.

Drei Tage dauert die Reise. Drei Tage hat Abraham Zeit zu sagen: Lieber Gott, ich hab’s mir überlegt, ich werde meinen Sohn nicht opfern. Seit Jahrzehnten erfülle ich treu und gehorsam deinen Willen, bin nicht schlecht gefahren damit, meine Herden sind gewachsen, über mein materielles Wohlergehen kann ich nicht klagen, aber was du jetzt von mir verlangst, geht zu weit. Wenn du mich dafür strafen willst, strafe mich, wenn du mir dafür meinen Wohlstand nehmen willst, nimm ihn, wenn du deine Verheißungen zurücknehmen willst, nimm sie zurück. Aber meinen Sohn werde ich nicht opfern.

Aber Abraham widerspricht nicht. Zieht die Sache durch. Als er den Berg sieht, auf dem das Unfassbare geschehen soll, belügt er seine Knechte: Bleibt ihr hier mit dem Esel, ich und der Knabe wollen dorthin gehen und anbeten, und dann wollen wir wieder zu euch kommen. Komisch ist nur, dass er damit unwissentlich die Wahrheit spricht.

Entschlossen setzt Abraham fort, was er angefangen hat, legt Isaak das Holz fürs Brandopfer auf die Schulter, steigt mit ihm auf den Berg. Es muss ein großes Schweigen geherrscht haben während dieser drei Tage. Jedenfalls wird nicht berichtet, dass irgendjemand gesprochen habe. Auch über die Gefühle Abrahams, seine Gedanken, Zweifel, inneren Kämpfe erfahren wir nichts.

Endlich durchbricht Isaak das Schweigen: Vater, wir haben Feuer, wir haben Holz, aber wo ist das Lamm? Abraham antwortet: Gott wird für ein Lamm zum Brandopfer sorgen. Wieder muss Abraham lügen. Oder hofft er auf ein Wunder, einen göttlichen Sinneswandel im letzten Moment? Ahnt er, dass er nur geprüft werden soll? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass er wieder unwissentlich die Wahrheit spricht. Wir kennen ja den Ausgang der Geschichte.

Oben angekommen, baut Abraham einen Altar, schichtet das Holz darauf, bindet Isaak, legt ihn auf den Altar – und von Isaak keine Fragen, kein Wort des Entsetzens, kein Schrei, keine Gegenwehr. Abraham streckte seine Hand aus und fasste das Messer, um seinen Sohn zu schlachten.

Und da, wie in einem Krimi, in letzter Sekunde, kommt ein Engel des Herrn vom Himmel und ruft Abraham zu: Lass das Messer fallen. Das Ganze war nur ein Test.

Da erhob Abraham seine Augen und sah hinter sich einen Widder, der sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hatte. Abraham nahm den Widder und brachte ihn als Brandopfer dar an Stelle seines Sohnes.

Ein Happy End? Dafür sind die Fragen, die bleiben, zu bitter. Was ist das für ein Gott, der seinem treuesten Menschen solch eine makabre Prüfung auferlegt? Was ist das für ein Sohn, der offenbar bereit war, sich widerstandslos von seinem Vater abstechen zu lassen? Was ist das für ein Vater, der seine grundsätzliche Bereitschaft bekundet, seinen Sohn umzubringen, wenn eine höhere Autorität es verlangt?

Und so einer ist nun der Stammvater der Juden, Christen und Muslime, das Urbild des gottesfürchtigen Menschen. Ist er nicht einfach nur der erste verblendete Fundamentalist, ein religiöser Fanatiker? Wenn das christlicher und jüdischer Glaube sein soll, wie können wir dann verrückt gewordene Sektierer davon unterscheiden?

Auch Isaak zählt zu den Stammvätern. Sollen Juden und Christen sich wirklich ein Beispiel an ihm nehmen? Sich wehrlos abschlachten lassen? Nicht einmal nach den Gründen fragen?

Immanuel Kant argumentierte gegen Abrahams absoluten Gehorsam, selbst wenn Gott wirklich zum Menschen spräche, so könnte dieser dennoch niemals sicher sein, dass das, was er hört oder zu hören glaubt, Gottes Stimme sei. Wenn aber diese Stimme etwas verlange, was gegen das moralische Gesetz verstößt, dann könne der Mensch gewiss sein, dass die Stimme nicht zu Gott gehört. «Abraham», so fügte Kant in einer Fußnote hinzu, «hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‹Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden›, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.»

Die meisten modernen Menschen, selbst tief gläubige Christen denken und empfinden heute so. Warum aber gehört diese Geschichte zum biblischen Kanon?

Pfarrer predigen ungern über diese Geschichte, und wenn sie’s tun, weil sie müssen, beschwören sie gern die «dunkle Seite» Gottes, loben Abrahams Gehorsam und Gottes gnädiges Eingreifen, raunen geheimnisvoll von den «unauslotbaren Tiefen» dieser Geschichte, aber verzichten dann zumeist doch darauf, in die Tiefen hinabzusteigen, Sie bleiben hübsch an der Oberfläche und kratzen ein beruhigendes Bätzlein Fortschritt heraus, das uns mit Gottes unglaublichem Ansinnen versöhnen soll. Die Geschichte von Isaaks Beinahe-Opferung markiere einen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte, lautet die versöhnlerische Deutung, das Menschenopfer werde abgeschafft und durchs Tieropfer ersetzt.

Tatsächlich waren Menschenopfer, sogar Kinderopfer, in Israels Umkreis bekannt. Aber wenn Gott hätte sagen wollen, dass er auf Kinder keinen Wert lege, sondern sich auch mit einem Hammel begnüge, hätte er es ja nur zu äußern brauchen. Wenn die  Abschaffung des Menschenopfers die Pointe der Geschichte wäre, handelte es sich um einen miserablen Erzähler. Umständlicher könnte man nicht mehr auf diese Pointe zusteuern. Warum wird sie eingeleitet mit «Gott prüfte Abraham», wenn es nicht um eine Prüfung, sondern um eine Reform der Opfersitten geht? Müsste es dann nicht heißen: Und Gott wollte Abraham das rechte Opfern lehren?

Aber selbst mit diesem Anfang wäre die Geschichte in sich nicht schlüssig, denn wenn es bisher in Abrahams Umgebung der Brauch gewesen wäre, Menschen zu opfern, und wenn damit nun in Morija Schluss gemacht werden sollte, wie hätte dann Isaak nach dem Lamm fragen können? Isaaks Frage setzt den Brauch des Tieropfers doch bereits voraus.

So leicht, wie die Versöhnler es sich machen, kommt man also nicht davon. Wir müssen schon ernst nehmen, was die Geschichte erzählt. Und sie erzählt, ob es uns gefällt oder nicht, von einer Prüfung Abrahams durch Gott. Es ist und bleibt eine grausame Prüfung. Zu Recht stockt uns der Atem, sind wir schockiert.

Wie aber sollen wir das Schockierende verstehen? Wie sollen wir das in Einklang bringen mit dem Bild vom gnädigen, gerechten Gott, das die Kirche zeichnet? Wiederum könnte man es sich einfach machen und sagen, es handle sich um ein frühes, längst vergangenes, nicht mehr gültiges Gottesbild, eben um den Gott des Alten Testaments. Das neue, moderne, das gültige Gottesbild werde im Neuen Testament gezeichnet. Aber Jesus hat keinen neuen Gott gelehrt, auch nie gegen diese Geschichte polemisiert. Sein Gott war der Gott der Juden, der Gott des Alten Testaments. Er ist auch der Gott der Christen. Wer meint, diese Geschichte weichspülen zu müssen, entkommt ihr nicht.