Der Glaube Abrahams

Warum Abraham? In der Geschichte von der Beinahe-Opferung seines Sohnes erfahren wir es endgültig. Was Abraham von anderen Menschen unterscheidet, ist sein radikaler Gehorsam gegen Gott. Er folgt ihm selbst noch dorthin, wo jeder vernünftige Mensch sagt: Bis hierher und nicht weiter.

Das, was uns diesen Mann als so monströs erscheinen lässt, ist genau der Grund, warum gerade er von Gott erwählt wird – eine größere Provokation für moderne Menschen ist kaum denkbar. Vernunft, Selbstbestimmung, Verantwortung, Vaterliebe, dies alles scheint vor Gott nicht zu zählen. Nur an Opfern und blindem Gehorsam scheint er interessiert zu sein. Und davon lässt er nicht ab, denn zwei Jahrtausende später wird wirklich ein Mensch geopfert, Jesus, Gottes eigener Sohn.

Angeblich musste er für unsere Sünden sterben, und der moderne Mensch denkt: Will ich das? Ich bin zwar kein Heiliger, aber so schlimm, dass jemand für mich sterben muss, bin ich auch wieder nicht. Ich will dieses Opfer nicht, brauche keine Opfer, mir ist diese ganze archaische Opferei zuwider.

Archaisch?

In den Jahren 1813/​14, ein Jahrzehnt nach Kants Tod, wurde in Deutschland zum ersten Mal in den so genannten Befreiungskriegen von Napoleons Herrschaft der Soldatentod auf dem «Feld der Ehre» gepriesen. Noch im Zweiten Weltkrieg galt es als süß, fürs Vaterland zu sterben. Erst heute scheint die Zeit der Verherrlichung des Opfers fürs Vaterland auf dem «Feld der Ehre» vorbei zu sein, zumindest in Europa.

Dafür wird heute anderen Göttern auf andere Weise geopfert. Manager treiben Raubbau an ihrer Gesundheit, opfern sich selbst und ihre Mitarbeiter im Krieg um Marktanteile, opfern auch ihre Familie und ihre Freunde, wenn sie sich mit Haut und Haar ihrem Unternehmen und ihrer Karriere verschrieben haben. Leistungssportler opfern ihre Jugend, manchmal die Kindheit, oft ihre Gesundheit – für eine Goldmedaille bei Olympischen Spielen, für Werbeverträge und materiellen Reichtum. Und nicht selten sind es die ehrgeizigen Eltern, die ihr Kind Monat für Monat ins Training treiben für den vagen Traum von Ruhm und Geld und den Wunsch, die eigenen unerfüllten Sehnsüchte zu befriedigen. Nur einer von tausend Athleten erreicht das Ziel. Einer bekommt immerhin noch Silber, der Dritte Bronze, aber schon der Vierte hat sein Opfer umsonst dargebracht, genau wie die restlichen Kämpfer. Ganze Industrien wurden auf den kaputten Knochen, zerrissenen Fasern und überdehnten Muskeln von gescheiterten Sportlern errichtet. Immer neue Opfer junger Menschen erhalten diese Industrien am Leben.

Wir opfern die Umwelt für unseren Wohlstand, und neuerdings sogar unsere Zukunft: Weil uns der Kampf um Wettbewerbsfähigkeit rund um die Uhr so auf Trab hält, dass wir keine Zeit mehr haben, um Kinder zu kriegen und zu erziehen, sterben wir aus. So bringen wir uns selbst zum Opfer auf dem Altar des globalen Wettbewerbs.

Diese Hinweise auf die Opfer, die wir heute zu bringen bereit sind, lösen das Rätsel der Isaaksgeschichte nicht, holen uns aber von jenem Ross, auf dem wir Aufgeklärte zu sitzen meinen. Es scheint allemal vernünftiger, dem «archaischen» Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs Tribut zu zollen, als den modernen Götzen des Wettbewerbs.

Doch muss man bedenken, dass es sich bei der Isaaksgeschichte nicht um eine wirkliche Begebenheit handelt. Es ist eine erdachte Geschichte, die uns vor Augen führt, was Glaube an Gott heißt, welche Konsequenzen er hat und in welche Einsamkeit der Glaubende in Grenzsituationen geraten kann. Die Geschichte ist ein Bild, und darum ist sie so stumm, darum wird kaum geredet, nicht psychologisiert, sondern nur gehandelt. Die Geschichte ist ein Bild für den erschreckend radikalen Unbedingtheitsanspruch Gottes an den Menschen.

Gott will von den Angehörigen seines Volkes keine Abgaben, sondern er verlangt alles, nicht deren Freizeit, sondern deren ganze Zeit, nicht den religiösen Teil ihrer Persönlichkeit, sondern den ganzen Menschen. Schärfer noch: Er fordert, dass der Mensch darauf verzichtet, sein Schicksal selbst zu bestimmen.

Nur dann, wenn genügend Freiwillige bereit sind, sich auf diese ungeheure Forderung einzulassen, kann Gottes Plan gelingen. Weil diese Forderung so groß ist und die menschliche Bereitschaft, ihr zu entsprechen, so klein, darum harrt Gottes Plan bis heute seiner Erfüllung. Der Mensch glaubt nicht, dass er das Leben gewinnt, wenn er’s drangibt. Daran scheitert Gottes Utopie.

Dass Gott so radikal fordernd Anspruch auf unsere ganze Existenz erhebt, empört uns. Umso mehr, wenn wir daran denken, wie viele Menschen mit Verweis auf die Bibel im Laufe der Jahrtausende geopfert wurden. Aber die Empörung hilft uns nicht, diese Geschichte zu verstehen. Wir müssen endlich nach dem Unterschied fragen zwischen Kadavergehorsam und Gehorsam gegen Gott. Die folgende Geschichte wird diesen Unterschied zeigen.

Maria, eine zwanzigjährige Frau des 20. Jahrhunderts, hat sich gerade frisch verliebt in einen Mann, der achtzehn Jahre älter ist als sie. Sie schreibt ihm Briefe, zunächst aber nur in ihr Tagebuch, im Februar 1943 beispielsweise: «Wenn Du mich hier so sehen würdest. Ich glaube, Du würdest mich manchmal gar nicht mögen. – Wenn ich so wild reite und mich mit Stallknechten auf Platt unterhalte. – … Wenn ich Grammophon spiele, dazu auf einem Bein durch die Stube hüpfe und auf das andere einen Strumpf mit einem riesengroßen Loch ziehe … Ich mache noch viel schlimmere Sachen. Ich rauche eine Zigarre, weil ich solch ein Ding noch nie geraucht habe und doch wissen muß, wie das ist …» Ein Jahr später, im Mai 1944 schreibt sie ihm, nun nicht mehr ins Tagebuch, nachdem sie bei herrlichem Frühlingswetter im Garten gearbeitet hat: «Und vor allem freue ich mich drauf, das einmal in einem eigenen Gärtchen tun zu dürfen. Hilfst Du mir dann? Stellst Du Dir das nicht wahnsinnig lustig vor, wenn wir beide zusammen unseren Garten hübsch machen. In die Mitte kommt ein großer Rasenplatz, auf dem im Frühjahr Krokusse und dann Schlüsselblumen und Vergißmeinnicht wachsen. … In unserm Garten steht ein weißer Tisch mit Bank und Stühlen und im Sommer frühstücken wir draußen. Einen Hund haben wir vielleicht auch. – Es wird traumhaft schön werden!»

Der Traum wird sich nie erfüllen.

Der Mann, dem diese Briefe gelten, sitzt im Gefängnis. Dietrich Bonhoeffer heißt er, Pfarrer ist er und gehört zu den wenigen in Deutschland und in der evangelischen Kirche, die Hitler von Anfang an durchschauen und darum konsequent und kompromisslos bekämpfen.

An Bonhoeffer und seinen Gegnern lässt sich exemplarisch zeigen, worin der Unterschied besteht zwischen Kadavergehorsam und Abrahams Gehorsam gegen Gott, dem aufmerksamen Horchen, Hören und Wahrnehmen und der Bereitschaft, dem Gehörten auch dann zu folgen, wenn die eigenen Interessen, ja, das eigene Leben, bedroht sind.

Bonhoeffer sieht mit Entsetzen, wie sich seine evangelische Kirche Hitler in vorauseilendem Gehorsam vor die Füße wirft. Er erlebt, dass die Juden von großen Teilen der evangelischen Kirche nicht etwa vor Hitler geschützt, sondern gemeinsam mit Hitler verfolgt werden. Seine Kirche lässt sich gleichschalten, übernimmt die Arierparagraphen, verjagt die zum Christentum konvertierten Juden aus ihren eigenen Reihen und beklatscht die von den Nazis so genannte Reichskristallnacht, bei der im ganzen Land die Synagogen brennen.

Im Juni 1940 vollzieht Bonhoeffer den letzten Schritt, entschließt sich zum aktiven Widerstand. Für ihn eine Konsequenz seines Denkens. Schon 1933 hatte er erklärt: «Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.» Dass dies möglicherweise «Märtyrerblut» kosten kann, hatte er schon 1932 ausgesprochen. Er stand damals mit seinen Ansichten ziemlich allein in Deutschland, auch in seiner Kirche, und blieb es bis zuletzt.

Dann verliebte er sich. Jeder normale Mensch hätte sich jetzt vielleicht gesagt: Pfeif auf Hitler, pfeif auf den Widerstand, ich muss jetzt an unsere gemeinsame Zukunft denken. Er hätte aussteigen, sich aus der Gefahr begeben können. Aber Bonhoeffer war eben kein normaler Mensch, sondern etwas ganz anderes, ein Glaubender, einer wie Abraham.

Im Dezember 1943 schreibt er an seinen Freund Eberhard Bethge über seine Beziehung zu Maria: «Nun sind wir fast ein Jahr verlobt und haben uns noch nie eine Stunde allein gesehen. Ist das nicht Wahnsinn?»

Und Maria? Auch sie war auf ihre Art eine Glaubende. Nie hat sie ihn gebeten, um ihrer gemeinsamen Zukunft willen von seinem gefährlichen Tun abzulassen. Sie hat gebangt, gezittert um ihn, aber alles mitgetragen, sich nie beklagt, nie daran gezweifelt, dass er tun muss, was er tut. Beide stimmten darin überein, dass es etwas gibt, das ihre Liebe übersteigt. An Weihnachten 1944 schreibt sie: «Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Sinne entwickelt, die wir im täglichen Leben kaum kennen. Deshalb habe ich mich keinen Moment einsam oder verlassen gefühlt. … Du musst nicht glauben, dass ich unglücklich wäre. Was ist Glück, was Unglück? Es hängt so wenig von den Umständen ab. … Ich bin für jeden Tag dankbar, den ich Dich habe, und das macht mich glücklich.»

Am 9. April 1945 wurde Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg gehängt. Deutschlands Kapitulation kam für Bonhoeffer einen Monat zu spät. Seine Verlobte blieb wochenlang im Ungewissen. Erst im Juni 1945 erfuhr sie von seinem Ende.

Der Kreis der Widerständler gegen Hitler umfasste etliche tausend Personen, eher Zehntausende. Viele einfache Menschen, die wegen ihrer Opposition umgebracht wurden, sind namenlos geblieben. Nicht alle waren Christen. Kommunisten waren darunter, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Liberale und Nationalkonservative. Aber sie alle einte die Überzeugung, dass es so etwas wie ein göttliches oder moralisches Gesetz gibt, das unbedingt gelten muss, und koste es das Leben.

Die Frauen der meisten Verschwörer des 20. Juli waren eingeweiht, trugen den Widerstand ihrer Ehemänner mit, nahmen die Gefahr für sich und ihre Familien in Kauf. Sie verhielten sich wie Isaak, der sich nicht wehrte, nicht schrie.

 

Abraham hat damals auf dem Berg in Morija seinen Glauben an Isaak weitergegeben. Isaak hat den Glauben seines Vaters gesehen und ihn für sich übernommen. Beide hatten dort, auf diesem Berg, erkannt, dass es etwas gemeinsames Drittes gibt, das stärker ist als die engsten Familienbande.

Auch die Männer und Frauen des Widerstands gegen Hitler hatten diese Überzeugung. Dafür riskierten sie ihr Leben. Deutschland, mit seiner Geschichte, steht unter den Völkern dieser Welt recht armselig da. Wie arm aber wären wir, wenn es nicht einige tausend Deutsche gegeben hätte, die bereit waren, sich selbst und das Liebste, was sie auf Erden hatten, zu opfern.

Glücklich das Land, das keine Helden braucht, dichtete Brecht. Und ebendas ist die eigentliche Pointe der Geschichte von Isaaks Beinahe-Opferung. Wenn die Menschen bereit sind, sich ganz unter Gottes Willen zu begeben, wie Abraham und Isaak, dann bedarf es keiner Helden und Opfer. Nicht aufs Opfer kommt es an, sondern auf die Unterordnung unter Gottes Willen. Weil Abraham grundsätzlich dazu bereit war, blieb es ihm erspart, das Opfer tatsächlich bringen zu müssen.