Volk Gottes oder New Church?

Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint das Projekt der Moderne gescheitert. Die Hoffnung, Wahrheit und Orientierung durch Vernunft und Wissenschaft zu finden, ist zerstoben. Die Hoffnung auf das Heil durch Kommunismus und Sozialismus endete im Unheil. Auch der Nationalismus endete im Unheil. Und die Verbindung beider Irrtümer, der Nationalsozialismus, führte in die Hölle.

Demokratische Sozialisten, Gewerkschafter, Sozialdemokraten und auch Politiker christlicher Parteien wollten, die Zwangsbeglückung vermeidend, durch eine Politik der kleinen Schritte stetig voranschreiten, hin zu den großen Zielen einer humanen Menschheit: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Frieden und Wohlstand für alle. Es ist noch immer der vernünftigste unter allen gangbaren Wegen, aber auch dieses Projekt der Moderne ist stecken geblieben.

Kurzzeitig verlagerten sich die Heilserwartungen in den absurden Glauben an Markt und Technik. Aber die von den Propheten der New Economy ausgelöste Massenhysterie hatte eine noch kürzere Halbwertszeit als die der marxistischen Propheten. Und US-Präsident George W. Bush lernt, dass sein Programm, andere Völker mit Bomben und Soldaten von den Vorzügen westlicher Demokratie zu überzeugen, nicht zu funktionieren scheint.

Ein Irrtum war und ist auch der Versuch vieler politisch engagierter Christen, Jesu Bergpredigt zur Richtschnur staatlichen Handelns zu machen. Dafür war die Bergpredigt nie gedacht, dafür taugt sie auch nicht. Sie ist eine Handlungsanleitung für den Aufbau von Gemeinde und Kirche, nicht für den Aufbau von Staaten und Regierungen. Regierungen können nur Gesetze machen. Den Menschen können sie nicht ändern. Die neue Gesellschaft kann nur im Raum der Kirche entstehen und nicht durch Parlamentsbeschlüsse herbeigeführt werden.

So scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Welt mit ihrer Weisheit am Ende zu sein. Die «Weisen» der Welt wissen nicht, wie die demnächst fünfzehn Milliarden auf diesem Planeten lebenden Menschen zu ernähren sein werden. Sie wissen nicht, wie eine Welt ohne Terror und Krieg zu schaffen ist. Sie wissen nicht, wie das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen ist. Nur eines wissen sie: wie man mit UN-Debatten, Gipfeltreffen, Sitzungen des UN-Sicherheitsrats, Konferenzen der G-8-Staaten und Beschlüssen der EU-Kommission Betriebsamkeit zeigt, überlegen in die Kameras lächelt und mit sonorer Stimme der Weltöffentlichkeit vortäuscht, alles im Griff zu haben.

Die Welt bräuchte jetzt dringend die Weisheit der Kirche. Weil die Menschen dies spüren, weil sie nach einer Alternative zum alternativlos sich gebärdenden Totalkapitalismus suchen, wenden sie sich wieder den Religionen zu, aber auch allerlei Fundamentalismen, Sekten und obskuren Vereinigungen – eigentlich eine gewaltige Chance und Herausforderung für die Kirche.

Leider kann sie die Chance nicht nutzen, denn sie hat nichts, womit sich die Wahrheit ihres Glaubens erweisen ließe. In dieser Situation sieht sich die Kirche drei Versuchungen ausgesetzt, denen zu widerstehen ihr umso schwerer fällt, je mehr Menschen ihr den Rücken kehren und je schneller die Zahl der frei umherirrenden Sinnsucher anwächst.

Die erste Versuchung besteht in der Rückkehr zu einem Fundamentalismus, der mit neuester Technik, Sacro-Pop und Jugendslang seinen Mangel an intellektueller Redlichkeit vertuscht. Der christliche Primitivglaube neigt überdies dazu, sich mit wohlhabenden Kreisen und politisch konservativen Mächten zu verbünden, um den verloren gegangenen Einfluss auf die Gesellschaft zurückzuerobern. In den USA ist diese Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten.

Der zweiten Versuchung drohen gegenwärtig die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland zu erliegen: Überleben mit den Mitteln des Marketings. Die dritte Versuchung ist die Kombination beider Versuchungen. Auch dieser Trend zeichnet sich bereits ab.

Ende der 1990er Jahre sind sich in Deutschland beide Konfessionen ihrer eigenen Ratlosigkeit bewusst geworden und holten sich teuren Rat von Unternehmensberatern: McKinsey im Allerheiligsten. Die Bischöfe, gewarnt von ihren Kämmerern, glaubten, sich mit Hilfe von Fachleuten aus der Wirtschaft gegen die voraussehbaren Sparzwänge wappnen zu können.

Die Bischöfe wollten von den Beratern lernen, wie man aus einer Mark oder einem Euro mehr herausholt als bisher. Die Berater aber antworteten sofort mit umfassenden Konzepten, die die Außenwahrnehmung der Kirche von Grund auf ändern sollten.

Sie erklärten den Bischöfen, dass sich die Kirche als handelnder Akteur auf dem Markt der Religionen betrachten müsse, und lehrten sie, wie sich so ein Akteur auf dem Markt zu verhalten habe. Es herrschte damals der Höhepunkt der Aktieneuphorie und der New-Economy-Besoffenheit. Die Bischöfe verstanden von Wirtschaft wenig und von New Technology nicht viel, also kauften sie blind und dachten überdies, da der Rat so teuer ist, müsse er auch gut sein.

Die Berater rieten: Statt als Volk Gottes solle sich die Kirche jetzt als Unternehmen auf dem Markt der Weltanschauungen und Religionen betrachten. Die über Jahrhunderte verspielte Glaubwürdigkeit solle die Kirche durch Werbung, PR, Events, Medienpräsenz, Corporate Identity, Schärfung ihres Profils und Entwicklung zu einer Marke wettmachen. Das Image einer verstaubten anachronistischen Großorganisation solle sie durch marktkonformes Verhalten abstreifen.

An die Esoterikkonkurrenz verlorene Marktanteile soll sie durch geschicktes Produktdesign zurückerobern. Ihren christlichen Spezialitätenhandel soll sie zum internationalen Hochtheologiekonzern ausbauen, der auch mal bei der buddhistischen, hinduistischen, taoistischen und islamischen Konkurrenz produzieren lässt, wenn es dem Geschäft dient. Religionspluralismus wird nicht mehr als Problem, sondern als Chance begriffen, denn je mehr Lehren man gelten lässt, desto größer ist die potenzielle Kundschaft.

Statt zu fragen, was Gott braucht, damit er wieder in der Welt handeln kann, fragen die Berater, was der Mensch braucht, damit er wieder in die Kirche kommt. Statt zu fragen, was Gott will, fragen die Berater, was der Kunde will. Welche neuen Theologien, Gottesdienstformen, Liturgien, Medien, Events locken den modernen Sinnkonsumenten in die Showrooms der Kirchen? Mit neuen zielgruppengerechten Dienstleistungen – gefühligen Taufzeremonien, professionellem Kommunions- und Konfirmations-Service, rauschenden Hochzeits-Events, schicken Trauerzeremonien – soll die Kirche wieder massenkompatibel und der Kunde spendenbereit gemacht werden.

Die Kirche folgt diesen Ratschlägen, je nach Bischof mehr oder weniger. Je mehr sie ihnen folgt, desto deutlicher gesteht sie öffentlich ein, dass sie ihrer eigenen Verkündigung nicht mehr glaubt. Wo sie gehorsam die Ratschläge ihrer Berater befolgt, gliedert sie sich brav ein in den Zirkus um Brot und Spiele. Die Botschaft vom Kreuz wird umfunktioniert zur Wellness-Religion. Dem ewig um sich selbst kreisenden, von Stress und Ängsten geplagten Individuum verkauft die Kirche alte Werte und moderne Spiritualität, zeitlose Wahrheiten und neue Mystik, innere Ruhe und sanfte Entspannung durch Entschleunigung. Enjoy it, Kraft durch Freude, lautet das Motto der New Church.

Zum Tanz ums goldene Selbst liefert die New Church die Musik, den Text und die Noten: «in Einklang mit sich selbst leben», «sich selbst vergeben», «gut zu sich selbst sein», «mit sich selbst eins werden», «sich selbst nicht wehtun», «zum Grund des eigenen Lebens finden», «sich der Kraft der eigenen Seele anvertrauen», «auf die Träume des eigenen Herzens hören» – so tönt es dem Sinn-Nachfrager aus christlichen Traktätchen, Einladungen zu Meditationswochenenden und Werbebroschüren für den Aufenthalt im «Kloster auf Zeit» entgegen.

Die Kirche wagt den Exodus, allerdings nicht ins Gelobte Land, sondern in jene postindustriellen Industriegebiete der Freizeit- und Spaßgesellschaft, in denen sich schon die Beautyfarmen, Badelandschaften und Ayurveda-Tempel angesiedelt haben. Unter den säkularen Zirkusnummern ist auch noch Platz für ein paar kirchliche.

Konsequent angewandt, wird diese Methode sogar zum Erfolg führen. Konsequent betriebenes Marketing zeitigt in einer Markt- und Konsumgesellschaft immer irgendwelche Erfolge. Eine Kirche, die nicht mehr Salz der Erde sein, sondern nur noch das Leben derer, die schon alles haben, überzuckern will, wird zweifellos finanziell gut über die Runden kommen.

Geld lässt sich damit gewiss machen. Das Reich Gottes nicht. Zu neuem Glauben wird so eine Kirche keinen einzigen Menschen erwecken. Geistig wird sie so tot sein wie die weltweite Community of Bacardi, die aber beweist, dass man auch ganz ohne Geist seinen Spaß haben kann.

 

Es gäbe indes neben Fundamentalismus, Kirche als Verkaufsshow und der Kombination von beidem noch eine dritte, zugegeben etwas aus der Mode gekommene Möglichkeit: Kirche als Volk Gottes. Kirche als Produzent eines neuen Glaubenskapitals.

Gewiss, sie hat vergessen, wie man das macht und wie das geht. Aber sie könnte ja die Buchdeckel ihrer kurzlebigen Management- und Know-how-Literatur einfach zuklappen und ausnahmsweise mal wieder jenes alte Buch aufschlagen, in dem steht, was in der Kirche zu tun ist, wenn es nicht mehr weitergeht.

Es ist ein Buch voller Geschichten über einen Gott, der treu zu seinem Volk steht und nur darauf wartet, dass es nach seinem Willen fragt und ihn tut. Dann hilft er.

Natürlich: Schrecklich fremde Worte – Umkehr, Buße, Exodus – lehrt dieses Buch. Befremdende Geschichten – von Abraham und Isaak, von Hiob, Jesu Tod am Kreuz, Gottes totalem Anspruch – erzählt es. Aber so fremd das auch in allen Ohren klingt, darin steckt die Weisheit der Kirche, die spezifische Lösung des Volkes Gottes für die Probleme jeder Zeit.

Die Kirche könnte in dem Buch lesen, dass das Volk Israel 1500 Jahre nach seinem Exodus aus Ägypten in einer ähnlichen Situation war wie die Kirche heute. Damals hat ein Mensch namens Johannes gesehen, dass sich der Glaube seines Volkes erschöpft hatte. Er überlegte, wie sein Volk zu neuen Kräften kommen könnte. Und er fand eine Lösung, die jener der heutigen Kirche diametral zuwider läuft. Statt den Leuten hinterherzurennen und ihnen die Botschaft Gottes wie Sauerbier anzutragen, ging er hinaus an den Rand der Wüste und mutete den Leuten zu, sich zu ihm auf den Weg zu machen.

Johannes der Täufer führte seine Zeitgenossen genau an die Stelle des Jordan, an der 1500 Jahre zuvor sein Volk aus der Wüste ins verheißene Land eingezogen war. Dort empfing er sie nicht mit lifestyligen Wohlfühlpillen, sondern konfrontierte sie mit dem fremden, befremdlichen, stets unangenehmen Willen Gottes. Statt von Wellness predigte er von schrecklichen Dingen wie Gericht, Buße, Umkehr und Exodus. Dann tauchte er sie ins Wasser des Jordan, schickte sie wieder weg und sagte ihnen, sie sollten sich auf den Messias vorbereiten, denn dieser werde bald kommen.

Johannes hatte die Wüstensituation und den Anfang des jüdischen Glaubens aus einer fernen Vergangenheit in die Gegenwart zurückgeholt, um von neuem daran anzuknüpfen, das ursprüngliche Ziel dieser Landnahme in Erinnerung zu rufen und seine Zeitgenossen aufzufordern, den Weg des Wüstenvolks erneut zu gehen.

Danach kam Jesus und erzählte seinen Jüngern und allen, die es hören wollten, vom Traum Gottes. Und er sagte ihnen: Wenn ihr es wollt, bleibt es kein Traum.

Sie wollten es. Und der Traum wurde wahr. Dreihundert Jahre lang sind sie den Weg gegangen, den Jesus lehrte. Das von ihnen angehäufte Glaubenskapital reichte für anderthalb Jahrtausende. Jetzt ist es weg und muss neu produziert werden. Es kann nur entstehen, wenn die Christen zurückgehen zu jenen Ursprüngen, in denen das verbrauchte Kapital entstanden ist, wenn sie versuchen, das, was schon einmal gelungen ist, ein zweites Mal gelingen zu lassen. Auch heute sagt Jesus: Wenn ihr es wollt, bleibt es kein Traum.