Abb. 8. Die Toten der Armen: Die Bedürftigen wurden meist ohne jedes Zeremoniell auf den Armenfriedhöfen außerhalb der Städte begraben. Dass Arme sich manchmal auch bescheidene Bestattungen leisten konnten, zeigt die Rekonstruktion des Gräberfelds auf der Isola Sacra bei Ostia.

Die Liste der wenigen überlieferten Quellen, die dem Wissenschaftler Material zur Sichtweise der Armen selbst liefern, führt die Schwierigkeit vor Augen: Sprichwörter, Fabeln, Volkslieder, mündliche Überlieferung, Legenden, Witze, Sprache, Rituale und Religion. Davon aber stehen den Sozialhistorikern der Römerzeit nur Sprichwörter und Fabeln sowie Bruchstücke von Witzen und die Religion zur Verfügung. Sprichwörter kommen in vielen Formen und Kontexten vor. Fabeln, die ausführliche Form der Sprichwörter, finden sich in der Sammlung von Äsops Geschichten und anderen Anthologien. Natürlich gab es Volkslieder, die vielfach erwähnt sind, so bei Dion Chrysostomos, dem Schriftsteller aus der Oberschicht:

 

… – wie Männer, die beim Fortstemmen einer schweren Last rufen und singen und sich dadurch die Arbeit unbemerkt erleichtern: Arbeiter, keine Sänger und Liederdichter. (Sämtliche Reden. Von der Herrschaft 1 1,9)

 

Doch keines dieser Lieder ist überliefert. Legenden, Sprache und Rituale existieren nur in winzigen Bröckchen oder in einem durch die Hand von Autoren stark entstellten Kontext.

An wissenschaftlichen Untersuchungen zu Sprichwörtern und Fabeln ist kein Mangel, doch erst in jüngster Zeit hat man versucht, ihren Inhalt auf die Lebenswirklichkeit der Armen zu beziehen. In der Antike war man sich darüber im Klaren, dass diese Gattungen Ausdruck dessen waren, was man heute Volksmoral nennt. Vergleichende Untersuchungen betonen auch ihren Wert für die Erforschung der geistigen Welt der Mittel- und Unterschicht und im Besonderen der am stärksten unterdrückten Mitglieder der Gesellschaft, der Armen und der Sklaven. Einzelbeispiele können natürlich vom Kontext ihrer Anwendung abhängen, und sowohl das einfache Volk wie die Elite schätzte und benutzte Fabeln im persönlichen Leben. Hinzu kommt, dass einige Sprichwörter und Fabeln ziemlich rätselhaft sind. Doch überlegtes Vorgehen kann nützliche Resultate zeitigen. Die Zusammenstellung erzählerischer Topoi macht Grundwerte deutlich. Wegweisend ist hier Teresa Morgan, die in ihrer sorgfältigen und umfassenden Untersuchung Popular Morality in the Early Roman Empire zu ähnlichen Schlüssen kommt, wie ich sie aus meinen eigenen Forschungen gezogen habe. Ich benutzte hier ausgewählte Sprichwörter und Fabeln als wesentlichen Zugang zur geistigen Wirklichkeit der Armen.

Aus der Antike ist ein einziges Buch mit Witzen überliefert, obwohl man von einer weit größeren Zahl ausgehen kann. Aber schwieriger noch als bei Sprichwörtern und Fabeln ist hier auszumachen, was als Verweis auf das Denken der Armen dienen kann. Bemerkungen, die das religiöse und philosophische Denken betreffen, sind über die klassische Literatur verstreut, müssen aber zunächst auf einen möglichen Bezug zur Sichtweise der Armen untersucht werden, um dann entsprechend zu einer Gesamtdarstellung beizutragen. Schließlich gibt auch das Neue Testament, namentlich in den bildhaften Situationen und Gleichnissen der Evangelien, Einsicht in die Vorstellungswelt der Armen. Die Gesamtheit des Quellenmaterials ergibt vielleicht ein überraschend kohärentes Bild, das zeitübergreifend für das gesamte Römische Reich Gültigkeit hat.

Demographie

Aus der römisch-griechischen Welt – und auch aus der klassischen Welt ganz allgemein – liegen keine quantifizierbaren Angaben vor, die nennenswert dazu beitragen könnten, die relative Größe der demographischen Gruppen des Imperiums zu bestimmen. Selbst die Zahl der Gesamtbevölkerung – vielleicht 50 – 60 Millionen – ist nicht viel mehr als Vermutung. Außerdem können die relativen Zahlen orts- und zeitabhängig schwanken. Ich gehe allerdings davon aus, dass die Verhältnisse in den vorindustriellen Gesellschaften Europas und des Mittelmeerraums ein mehr oder minder vergleichbares Grundmuster aufweisen, und lege darum eine sehr allgemeine Vorstellung der Zahl in Armut lebender Menschen zugrunde. Ausgehend von Untersuchungen zum Europa der Frühmoderne, wo historische Dokumente eine realistische Beurteilung der Größe verschiedener ökonomischer Gesellschaftsgruppen erlauben, schätze ich, dass annähernd 65 Prozent der Bevölkerung, Sklaven und Freie, eine Existenz »am Rande« führten – das heißt, sie waren in ihrer kümmerlichen Existenz durch jeden Einbruch von Naturkatastrophen, Seuchen, Hungersnöten oder anderen Heimsuchungen vom Tode bedroht.

Die Armen lebten in sozioökonomisch benachteiligten und ungewissen Verhältnissen, und dieser Zustand bestimmte ihr Denken – eine verallgemeinernde Erklärung, die ein wichtiges Stück Alltagsrealität der römisch-griechischen Welt verdeckt. Die jeweilige Situation der Armen war von Ort zu Ort verschieden. Für eine sorgfältige Analyse müsste man zum Beispiel die Armen in Britannien betrachten und sich mit ihrer lokalen Überlieferung und Ökologie beschäftigen oder arme Bewohner Ägyptens im Licht ihrer sehr andersartigen kulturellen Gegebenheiten und wirtschaftlichen Möglichkeiten untersuchen. Arme, die in einer Welt klimatischer Extreme lebten und sich unberechenbaren Fluten oder Sandstürmen oder Dürrezeiten ausgesetzt sahen, hatten zum Schicksal vielleicht eine andere Einstellung als Menschen in einer Umgebung mit mehr oder weniger vorhersehbaren Veränderungen. Diese Vielfalt menschlicher Erfahrungen soll nicht bagatellisiert werden; allerdings liegt mir daran, die allgemeine Erfahrung eines Lebens am Rande und die sich daraus ergebende Gemeinsamkeit maßgeblicher Einstellungen zu betonen, denn die Welt des Mangels war die einzige, die sie kannten. Die Umwelt war eine stets gegenwärtige, wenn auch zeitweise nur potenzielle Bedrohung, die soziale Welt eine Ordnung zu ihrer Unterdrückung. Die Armen erlebten das Imperium als eine Welt der Unruhe und Ungleichheit. Ungewissheit von einer Sekunde zur andern war die Konstante ihres Daseins. Ihre soziopolitische Lage war die der Unterwerfung – sei es vor dem Steuereintreiber, dem Beamten, dem Grundbesitzer, dem Geldverleiher oder einfach nur vor der Not. Ihr eigener Herr waren sie in keinem Sinn des Wortes. Andererseits wurde ihr Denken auch von der unabänderlichen Gegebenheit des Status quo bestimmt. Die Fabel vom Schwanz der Schlange zeigt, dass es klug ist, sich der naturgegebenen Führung durch die Elite zu beugen:

 

Einst wollt der Schwanz der Schlange es nicht mehr ertragen, / daß immer nur der Kopf die Führung hab, und machte nicht mehr mit. / »Auch ich«, so sprach er, »für mein Teil, möcht einmal vorne sein!« [Er versucht zu führen, sieht aber nichts, so dass die Schlange in ein Loch fällt und sich schwer verletzt.] … Nun fleht der erst so Stolze untertänig: / »Herr Kopf, so rette uns, wenn du’s vermagst! / Mit Bösern bin in einen bösen Streit ich eingetreten. / Jetzt will ich besser dir, wenn du befiehlst, / gehorchen, daß du später – niemals werd ich mehr / den Führer spielen wollen! – Übles nicht zu fürchten hast.« (Babrios, Äsopische Fabeln 134)

 

In Sprichwörtern erscheint die Welt im Zustand der Stabilität und nicht, wie häufig in den Schriften der Elite, des Niedergangs. Die Ordnung des Universums wird als statisch vorausgesetzt, die sozialen Perspektiven als unveränderlich – so, wie sie sind, müssen sie sein. Das »Sein« und das »Sein-Sollen« der Welt sind eins. Auf diese Weise entsteht eine konservative geistige Welt, die einengt und hemmt. Die Menschen können wählen und treffen ihre Wahl, aber das Spektrum ist sehr beschränkt – oft fehlen Optionen. Folgerichtig ist im Denken der einfachen Römer über Generationen kein Hinweis auf einen sozialen Fortschritt zu erkennen. Ein Leben gleicht dem andern, nur die Spieler wechseln. Und gerade diese Stabilität drückt aus, wie vieles den meisten versagt war. Sprichwörter spiegeln den Volksglauben, dass das Leben schwierig ist und vieles, was man tut, vergebens. »Die Hinfälligkeit und Zerstörung alles menschlichen Lebens ist ein durchgehendes Thema«, formuliert Teresa Morgan. Die Armen müssen mit der Veränderlichkeit der natürlichen und der Unveränderlichkeit der sozialen Verhältnisse fertigwerden. Weder die einen noch die anderen bieten nennenswerte Chancen, sich aus der herrschenden Situation herauszumanövrieren, und beide fördern ein Verhalten, das ein Überleben in diesem Rahmen ermöglicht.

Der Kampf ums Überleben

Im Zentrum der Reaktion des Armen auf sein prekäres Dasein steht ein System von Überzeugungen und Werten, das, aus der Lebensrealität erwachsen, dieses Leben organisiert, antreibt, erhält und ihm Veränderungen verwehrt. Diese geistige Welt wird beherrscht von Reaktionen auf den sie wesentlich prägenden Zustand: das drohende Scheitern beim Versuch, sein Auskommen zu finden. In ihr dreht sich alles um die unabwendbaren Lebenskrisen und die Versuche, ein soziales und moralisches Handeln zu unterstützen, das am ehesten geeignet ist, das Überleben im Jetzt und auf lange Sicht eine soziale Kontinuität zu sichern. Für Reflexion und Tiefsinn bleibt wenig Zeit; der Akzent liegt auf dem Tun, nicht auf der Gesinnung. Klug heißt für den Armen lebensklug zu sein – zu wissen, was zu tun und was zu lassen ist; abstrakte Betrachtungen bestimmter sozialer Verhaltensformen sind selten. Damit ist nicht gesagt, dass die Armen nicht kreativ seien; gesagt ist nur, dass ihr kreatives Denken begrenzt ist, weil sie sich auf das dringlichste Geschäft konzentrieren müssen – das Problem, den Herausforderungen vonseiten der Mitmenschen und der physischen Umwelt zu genügen. In ihrem Kampf ums Überleben sind die Armen vor allem wirklichkeitsbezogen.

Reflexion als Selbstbesinnung ist dementsprechend nur wenig ausgeprägt. Es fehlt der Versuch, sich selbst zu prüfen und daraus verhaltensrelevante Schlüsse zu ziehen. Für den Armen ist ein »Erkenne dich selbst« keine Mahnung zu erbaulicher Einkehr, sondern vielmehr die Mahnung zu praktischen Überlegungen über den möglichen Ausgleich konkurrierender Imperative (z. B. Freundschaft vs. Gewinn). Das philosophische Denken war tendenziell idealistisch ausgerichtet, das der Armen nur praxisbezogen. Die Anschauungen der Volksmoral unterscheiden sich also, wie Fabeln und Sprichwörter belegen, erheblich von denen der »gehobenen« philosophischen Systeme jener Zeit. Für den Armen ist Klugheit gleichbedeutend mit der Möglichkeit, in einer feindlichen Welt zu überleben, nicht aber mit einer Quelle des »Wissens« oder der Möglichkeit, soziale Probleme auf einer überindividuellen abstrakten Ebene zu lösen.

Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, im Denken der Armen nennenswerte Elemente irgendeines der großen philosophischen Konzepte aus den Schulen der Elite auszumachen. Um das Streben nach eudaimonia (Glück) schert sich die Volksmoral keinen Deut; die Vorstellung vom Guten als Hauptquelle des menschlichen Lebens, das heißt von der Tugend um ihrer selbst willen, ist ihr fremd, das stoische Ideal der apatheia und ataraxia (Gelassenheit) rätselhaft, und die Fixiertheit der Kyniker auf den Wert der Armut konnte den unwiderruflich Armen nur absolut sinnlos erscheinen; jeder Konflikt zwischen Schicksal und Willensfreiheit ist unbekannt, denn beide verbindet ein spannungsloses Nebeneinander; die Idee, sich mit den Epikureern oder Kynikern den Normen des sozialen Lebens zu verweigern, ist ein Luxus jenseits der Erfahrungswelt der Armen. Andererseits aber sind der gehobenen Philosophie und den Anschauungen der Armen auch viele Einstellungen und viele »Helden« gemeinsam. Die Autoritäten, auf die sich der Volksmund am häufigsten beruft, die die Hälfte aller zitierten Berühmtheiten ausmachen, sind (in dieser Reihenfolge): die Sieben Weisen, Äsop und Sokrates. Doch wie und wie weit die beiden Gedankenwelten miteinander in Berührung kamen und einander beeinflussten, ist eine andere Frage und schwierig zu beantworten. Eher hat, insgesamt betrachtet, die hohe Philosophie aus der Quelle volkstümlichen Denkens geschöpft, als dass Ideen von Bedeutung und in größerer Zahl von dort bis zum Mann auf der Straße durchgesickert wären. Für einen solchen »Einfluss« fehlen Beweise, und es ist sehr schwer vorstellbar, wie er hätte stattfinden können. Leichter tut man sich dagegen mit der Vorstellung, dass »Volksweisheiten« in den philosophischen Diskurs Eingang fanden.

Die Grundwerte der Armen innerhalb ihrer Welt sind komplex. Unter dem allgegenwärtigen Druck des Überlebenskampfes setzen diese Werte in doppelter und konträrer Hinsicht auf »gute Beziehungen«: erstens auf die Notwendigkeit, ein Lebensumfeld zu schaffen, in dem, sollte es zum Schlimmsten kommen, die Zusammenarbeit mit anderen zum Zweck der Nothilfe gesichert ist. In einer gewissen Spannung dazu steht zweitens der Druck, sich der wichtigsten Aktivität zu widmen, der Sorge für die Bedürfnisse der grundlegenden sozialen Einheit – in der Regel die Familie –, auch wenn dies bedeuten könnte, zum Schaden der Mitmenschen zu wirken. Diese Beziehungspflege funktioniert einerseits nach dem Prinzip positiver Reziprozität. Wechselseitige Verpflichtungen, seien sie horizontaler oder vertikaler Art (im typischen Fall die Schirmherr-Schützling-Variante), sind der Schlüssel zur »Sozialversicherung« für schlechte Zeiten. Auf dieser Makro-Ebene treten die Familien zueinander in Beziehung, um in schwierigen Zeiten gegenseitiger Hilfe sicher zu sein. Zum positiven Verhalten in diesem Kontext gehören Freundschaft, Tapferkeit, Schädigung des Feindes, Gastfreundschaft, Gerechtigkeit, Redlichkeit (eingeschlossen Wahrhaftigkeit), Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit gegenüber denen, die Not leiden. In den Fabeln sind diese Eigenschaften ein häufiges Thema, oft unter eingehender Behandlung von Doppelbödigkeiten.

Auf der Mikro-Ebene benutzen die Mitglieder einer Familie die Verwandtschaft als Basis eines komplizierten Netzwerks wechselseitiger Erwartungen in einer Umgebung, in der jeder selbstverständlich und unausgesprochen unter dem Anspruch steht, diese oder jene Hilfe zu leisten, ohne dafür einen besonderen Lohn zu erhalten. Interessant ist, dass diese entscheidenden innerfamiliären Beziehungen in der geistigen Welt der Armen keine größere Rolle spielen. Den Fabeln und Sprichwörtern nach zu schließen werden Verhältnisse wie das zwischen Mann und Frau oder Eltern und Kind oder die ökonomische Seite des Hauhalts nicht zum Gegenstand kritischer Überlegungen, denn diese Themen sind im Denken des Durchschnittsrömers, soweit überliefert, kaum je präsent. Diese Seiten ihrer Existenz scheinen festen Regeln unterworfen, so dass Konflikte der Art, wie sie in Fabeln und Sprichwörtern gelöst werden, nicht auftreten. Bedauerlicherweise hilft uns also die Volksweisheit nicht, die Armen hinsichtlich dieser Aspekte ihres Leben zu verstehen.

Nun zur anderen Seite der Beziehungspflege: Sie findet Ausdruck in Formen des Konflikts. Denn das arme, irdische Leben ist voll Misserfolg und Zurückweisung und eine solche Umgebung ein Nährboden für Streit. Die Welt der Fabeln ist eine Bühne ständiger Gefahren und Konflikte, ein Umstand, der interessanterweise in der Sekundärliteratur bei weitem nicht die erwartete Aufmerksamkeit gefunden hat, denn in der Primärforschung über die Armen – genauer, meistens der Bauern – wird überall das von Wettbewerb und Konkurrenz geprägte Klima des Alltagslebens betont. Wo soziale Einheiten darum kämpfen, ihr Überlebenspotenzial zu maximieren, grassiert unsoziales Verhalten. Ein durchgehendes Motiv der Volksliteratur ist der Umgang mit negativen Eigenschaften wie Arroganz, Schmeichelei, Unzuverlässigkeit, Starrsinn, Missmut, Feigheit (das Thema vieler Sprichwörter), Unehrlichkeit, Geiz, Verleumdung, Eitelkeit und ganz allgemein mit untragbarem Sozialverhalten.

Unter den Armen herrscht vor allem der Wettbewerb – um Ehre und Status ebenso wie um materielle Vorteile – im Verein mit seinen Genossen Stolz, Neid und Rache. Die Welt der Fabel ist voll davon. In »Die Hähne und das Rebhuhn« zum Beispiel liegen »Gleiche« (die Hähne) ebenso mit sich selbst im Streit wie mit den »Anderen« (den Rebhühnern):

 

Jemand hatte Hähne auf dem Hof, und als einmal ein zahmes Rebhuhn zum Verkauf stand, kaufte er es und brachte es nach Haus, um es mit den anderen zu halten. Die Hähne aber schlugen und verfolgten es. Das Rebhuhn war darüber traurig, weil es glaubte, es werde deshalb verachtet, weil es fremdstämmig sei. Als es aber nach kurzer Zeit sah, wie die Hähne miteinander kämpften und nicht eher voneinander abließen, als bis sie sich gegenseitig blutig geschlagen hatten, da sagte es zu sich: »Jetzt ärgere ich mich doch nicht mehr, dass ich von ihnen geschlagen werde. Denn ich sehe, dass sie sich auch gegenseitig nicht in Ruhe lassen.« (Äsop, Fabeln)

 

Vom destruktiven Charakter des Geizes handelt »Der gierige Hund«:

 

Ein Hund stahl in der Küche ein Stück Fleisch, / mit dem lief er am Fluß entlang. Da sah er jenes Fleisch / sich spiegeln in der Strömung, größer noch um vieles: / Drauf ließ das Stück er los und sprang dem Schatten nach. / Doch der war fort wie das auch, was er hatte fallen lassen. / So kehrte hungrig er nach Haus zurück. (Babrios, Äsopische Fabeln 79)

 

Desgleichen rät ein Sprichwort: »Wirf nie deine Sichel in eines anderen Weizen« (Publilius Syrus, Sentenz 593). Auch schlechte Gewohnheiten wie Prahlerei und Neid werden in den Fabeln an den Pranger gestellt. Als letztes Beispiel sei der Mann genannt, der andere umstandslos schädigt, um sein Überleben zu sichern, wie die Fabel vom »Fischer, der das Wasser schlägt« illustriert:

 

Ein Fischer fischte in einem Fluss. Er spannte seine Netze aus und zog sie von beiden Seiten der Strömung her zusammen und befestigte dann einen Stein an einem Tau und schlug damit das Wasser; so sollten die Fische vor Schreck wegschwimmen und in die Maschen geraten. Einer der Bewohner dieses Ortes sah, was er da tat, und tadelte ihn, weil er das Wasser des Flusses trübe mache und sie nun kein klares Wasser mehr trinken könnten. Der aber antwortete: »Wenn der Fluss nicht so aufgewirbelt wird, muss ich hungers sterben.« So sind auch die Demagogen in den Städten dann am aktivsten, wenn sie ihre Heimat zum Aufruhr anstacheln. (Äsop, Fabeln)

 

Dieses potenziell (und oft genug auch faktisch) obstruktive Verhalten darf jedoch gemäß stillschweigender Übereinkunft den im Grunde kooperativen Tatendrang nicht übertrumpfen. Die Fabeln sind voll von Lektionen über Zusammenarbeit. Im Folgenden einige Beispiele: »Das Pferd und der Esel« lehrt den Wert geteilter Lasten:

 

Ein Mann besaß ein Pferd. Das pflegt’ / er ledig neben sich zu führen, indes die Last / der alte Esel tragen mußte. Drunter schmachtend, / trat der zum Pferd und sprach: / »Wenn du ein wenig von der Last nur tragen wolltest, / so kann das meine Rettung sein, sonst aber werd ich sterben.« / Doch jenes sagte: »Scher dich weg und stör mich nicht!« / Da schleppt’ der Esel schweigend sich dahin, / bis daß die Kräfte ihm versagten und er umfiel, tot, wie er’s verheißen. / Jetzt hieß der Herr sogleich das Pferd an seine Stelle treten / und nahm des Esels Last, legt’ sie dem Pferde auf / und noch dazu das Sattelzeug für das Gepäck, ja auch / das Fell des Esels, das er abgezogen, packte er darauf. / Da rief das Pferd: »Wie war ich dumm! / Den Teil zu übernehmen war ich nicht bereit, / jetzt aber muß die ganze Last ich tragen.« (Babrios, Äsopische Fabeln 7)

 

»Der Bauer und der Fuchs« klärt über die Notwendigkeit auf, sein Temperament zu zügeln:

 

Dem Fuchs, des Weinbergs und des Gartens Feind, / gedacht ein Bauer einen schlimmen Streich zu spielen. / Er band ihm Werg an seinen Schwanz, er zündete es an / und ließ ihn laufen dann. Den Feuerträger lenkt’ ein Gott / aufmerkend auf die Felder dessen, der den Tort / ihm angetan. Es war die Zeit der Reife, / und eine reiche Ernte weckte Hoffnung. / Der Bauer folgte, laut um seine Mühe klagend, / doch keine Garbe barg für seine Tenne Demeter. (Babrios, Äsopische Fabeln 11)

 

Auch in »Der Löwe und die drei Stiere« können die Armen lernen, dass man zusammenhalten muss:

 

Drei Stiere gingen miteinander auf der Weide, / und lange schon verfolgte sie der Leu. / Der drei auf einmal Herr zu werden schien unmöglich; / durch Tücke und Verleumdung aber sät er bittre Feindschaft, / er trennt sie voneinander / und greift sie einzeln an als leichte Beute. (Babrios, Äsopische Fabeln 44)

 

»Der kranke Rabe« zeigt, dass unfaires Handeln den Menschen im Notfall der Hilfe beraubt:

 

Der kranke Rabe sprach zu seiner Mutter, die sehr klagte: / »Ach, wein nicht, Mutter, bete zu den Göttern, / daß sie aus schlimmem Leid und Schmerzen mich aufrichten!« / »Doch wer, mein Lieber, von den Göttern soll dir helfen? / Wen hättst du nicht an dem Altare je bestohlen?« (Babrios, Äsopische Fabeln 78)

 

Das gebotene Verhalten wird mit sozialen Mitteln durchgesetzt – in der Hauptsache und höchst wirksam durch Klatsch, Spott, Vorwurf, mündlichen Tadel und schließlich durch Ächtung –, während Zwangsmaßnahmen etwa durch ein Polizeiaufgebot vollständig fehlen, ein Faktor, der als Teil der geistigen Welt der Armen nur selten sichtbar wird. Es sind dies natürlich unvollkommene Waffen, die unserem Denken nach oft unfair und oft auch ohne Einspruchsmöglichkeit eingesetzt werden – die opinio communis der Gruppe wird vorgeschrieben, ohne dass eine offizielle Plattform die Möglichkeit böte, Einwände vorzubringen. Die aufputschenden Folgen dieser Situation zeigen sich in Familienfehden, in der verallgemeinernden Überzeugung, dass Selbsterhöhung, in gewissen Grenzen natürlich, und ähnlich egozentrisches Verhalten akzeptabel sei. Infolgedessen zeigen sich die Armen nur ungern allzu vertrauensvoll, selbst Freunden gegenüber, wie ein Sprichwort sagt: »Die stete Furcht nur macht dein Leben sicher« (Publilius Syrus, Sentenz 401).

Eine andere Seite der geistigen Welt der Armen, die sie immer wieder ins Blickfeld der Nicht-Armen rückt, ist ihre Einstellung zur Arbeit. In der antiken Literatur fällt mit schöner Regelmäßigkeit der Vorwurf, die Armen seien arbeitsscheu. Löst man sich jedoch von diesem in der Elite verbreiteten Negativklischee, bleibt als Faktum, dass die Armen harte Arbeit durchaus schätzen. Fabeln in dieser Richtung sind zahlreich: »Die Ameise und die Fliege«, »Der alte Bulle und der junge Stier«, »Wie die Lerche erkannte, wann sie fortfliegen mußte« und »Als der Faulpelz zur Ameise ging«, um nur wenige Beispiele zu nennen. Allerdings ist einschränkend zu sagen: Auch wenn die Armen hart arbeiten – zu Tode arbeiten wollen sie sich nicht. Ihre Aussichten lassen diesen Aufwand als sinnlos erscheinen. Sie wollen überleben, nicht florieren. Ihre prekäre Existenz hat sie gelehrt, dass sich die Risiken, die man eingehen muss, um »aufzusteigen«, nicht lohnten, denn es besteht die sehr reale Aussicht, dass ein Streben nach mehr mittels veränderter Strategien oder sozialer Arrangements nur zum Bumerang werden und sie vernichten würde. Also lassen sie Vorsicht walten und hüten sich davor, sich über das Konservative hinauszuwagen. Diese Risiko-Aversion findet ihren Ausdruck in der Fabel »Der kleine Fisch im Netz«: Ein Fischlein an der Angel bittet den Fischer, es freizulassen – was könne es ihm, so wenig ausgewachsen, wie es sei, denn nützen; er solle später wiederkommen, dann werde er es gut gefüttert und passend für einen reichen Tisch wieder einfangen. Der Fischer jedoch entgegnet:

 

»Wer nicht auf Kleines, wenn es sicher, achtet, … / sondern Ungewissem nachjagt, der ist töricht.« (Babrios, Äsopische Fabeln 6)

 

Moderne Untersuchungen haben gezeigt, dass mit härterer Arbeit der Armen und intensiverer Nutzung aller verfügbaren Ressourcen die Familien wachsen und sich ein neues Gleichgewicht zwischen Ergebnissen und Bedürfnissen einstellt, und zwar auf annähernd demselben Lebensstandard wie zuvor, nun aber für mehr Personen. Außerdem haben die Armen das Empfinden, größere Erträge bedeuteten nur, dass ihnen mehr genommen wird und ihnen nicht etwa auf die Dauer mehr bleibt. Auch der Nullsummen-Charakter der Wirtschaft, zumindest aber das, was als solcher wahrgenommen wird, verstärkt diese Tendenz, an einem gewissen Punkt das Arbeiten aufzugeben, denn die Gruppe als Ganze wird Druck auf die Untereinheiten ausüben, nicht zu hart zu arbeiten, nicht mehr als einen angemessenen Anteil verfügbarer Ressourcen zu erwerben, da der Gewinn der einen Einheit für eine andere Verlust bedeutet. Diese Faktoren laufen eindeutig auf Aleksandr Čajanovs »Theorie der Plackerei« hinaus, die – zu Beginn des 20. Jahrhunderts ursprünglich im Rahmen von Untersuchungen der bäuerlichen Wirtschaft Russlands entwickelt – sich in der Folge aber als allgemein anwendbar erwies. Die Theorie besagt, dass der Arme seine Arbeit dann einstellt, wenn er zu dem Schluss kommt, dass weitere Anstrengung nicht genügend Ertrag abwirft, um die Beschwernis der Mehrarbeit aufzuwiegen. Von außen betrachtet, mag die Faulheit dieses Armen als irrationales Verhalten erscheinen, doch tatsächlich steht dahinter das Kalkül – vermutlich unbewusst auf eigene Erfahrungen und/oder Tradition gestützt –, dass zusätzliche Arbeit sich nicht auszahlt. Wozu also die Mühe? Aus der Perspektive des Armen ist es völlig akzeptabel zu arbeiten, bis die Grundbedürfnisse befriedigt sind, und dann den Kram hinzuwerfen. Diese Berechnung führt dann dazu, dass die Armen keine Riesenanstrengung unternehmen, um der Armut zu entkommen, mag dies auch bedeuten, die herrschende Ideologie hinzunehmen, die ihnen einen untergeordneten Platz in der Gesellschaft zuweist. Die »Faulheit« der Armen gründet in ihrer pragmatischen Einschätzung der Lebensmöglichkeiten.

Religion

Menschliche Gesellschaften tun sich schwer damit, sich selbst zu überwachen. Oft greift man auf das Übernatürliche als letzte Ordnungsinstanz zurück. Die der menschlichen Gemeinschaft von außen auferlegten Regeln gehen aus einer Macht der Mächte hervor, die ihnen auch Geltung verschafft und die, zumindest theoretisch, alle Spieler auf gleicher Ebene zum Spiel versammelt und überdies den passenden Grund dafür bereithält, warum einige Dinge bzw. Menschen erfolgreich sind und andere nicht. Es kann kaum überraschen, dass sich das Denken der Armen diese menschliche Konstante zu eigen macht, allerdings in einer sehr pragmatischen Art, denn die Armen sind den Eventualitäten des Lebens besonders ausgesetzt.

Ein Grundelement der religiösen Überzeugungen der Armen ist der »Wille der Götter«. Der »Wille« stärkt die überlieferten Werte sowie die Situation der sozialen Gruppe. Zumindest theoretisch legen die Götter Handlungsnormen fest und belohnen Frömmigkeit und Gehorsam, bestrafen aber Gottlosigkeit und Verstocktheit. Zu beobachten ist jedoch, dass die Götter diesen »Willen« – die Bestrafung der Irrenden und die Belohnung der Rechtschaffenen – nicht konsequent umsetzen. Angesichts dieser Diskrepanz zwischen Erwartung und Wirklichkeit stillt die Macht des Schicksals das Bedürfnis nach einer Erklärung. Diese Macht ist der Kontrolle nicht nur des Menschen, sondern auch der Götter entzogen; dem Fatum gegenüber sind beide machtlos. Das Schicksal steht gewissermaßen außerhalb der natürlichen Ordnung der Dinge, als der große Deuter des Rätsels, warum anscheinend so oft nicht das eintritt, was den Regeln des Spiels entsprechend eintreten sollte. Das Fatum, Fortuna, kommt ins Spiel, weil man sich einerseits in die Hand der Zukunft gibt und hinnimmt, wie sie die Karten verteilt, und andererseits der Überzeugung ist, dass sich gute und schlechte Erfahrungen im Leben letztlich die Waage halten. Ersteres dokumentiert »Der ängstliche Vater« (Babrios, Fabeln 136), die Geschichte eines Vaters, der versucht, seinen Sohn vor dem drohenden Tod zu retten, indem er ihn einsperrt, nur um ihn durch einen Unfall in seinem Gefängnis zu verlieren. »Drum trage dein Schicksal voller Würde«, so die Moral der Geschichte, »und sinne nicht darüber nach: Denn dem, was sein muß, / wirst du nicht entgehn.« Ein Beispiel für Letzteres ist eine Fabel aus der Collectio Augustana:

 

Ein paar Fischer zogen ein Schleppnetz. Da es schwer war, tanzten sie vor Freude, in der Vermutung, sie hätten einen großen Fang gemacht. Aber nachdem sie es an Land gezogen und gesehen hatten, dass es voll war von Steinen und Holz und nur wenige Fische enthielt, wurde ihnen das Herz schwer, und sie ärgerten sich nicht so sehr über das Geschehene als vielmehr, weil sie das Gegenteil erwartet hatten. Aber einer von ihnen, ein älterer Bursche, sagte: »Freunde, machen wir damit ein Ende. Kummer ist ja wohl die Schwester der Freude, und da wir vorher so viel Vergnügen hatten, müssen wir jetzt auch einigen Kummer leiden.«

 

Von einer fatalistischen Stimmung sind auch weite Teile der Sprichwortliteratur geprägt: »Leicht findet man das Glück, schwer lässt sichs halten« (Publilius Syrus, Sentenz 198); »Das Glück, das schmeichelt, will dein Herz umgarnen« (Sentenz 197); »Dem Schicksal reichts nicht, einmal nur zu schaden« (Sentenz 213).

Ein vielleicht unerwartetes Ergebnis dieser Rolle des Schicksals in der Welt der Armen ist die Ermutigung zur Selbständigkeit. Da auf die Götter kein Verlass ist und das Schicksal seine Launen hat, setzt man am besten auf die eigene harte Arbeit und Findigkeit. So lehrt die Fabel »Der Ochsenknecht und sein Wagen«:

 

Ein Ochsenknecht fuhr einmal über Land. / Da rutscht sein Wagen ab in eine tiefe Schlucht. / Statt anzufassen, stand er müßig da / und betete zu Herakles, dem unter allen Göttern / als einzigem er wirklich Ehr und Altardienst erwies. / Da trat der Gott heran und sprach: »So greif doch in die Speichen / und stachle an die Ochsen! zu den Göttern bete erst, / wenn selbst du zugreifst! Sonst ist all dein Flehn vergebens!« (Babrios, Äsopische Fabeln 20)

 

Diese Anschauung stützt die allgemein positive Einstellung zur Arbeit (in Maßen), die ich als die andere Seite der geistigen Welt der Armen dargestellt habe.

Wie erwähnt, ist ein wesentlicher Aspekt der Armut die untergeordnete Stellung und Abhängigkeit von Höhergestellten, die unter anderem auch einen Teil dessen, was die Armen hervorbringen, eigenen Zwecken zuführen. Die Armen sind also immer auch Unterworfene. Der Ursprung dieses Zustands wird häufig mythologisiert, manchmal historisch begründet, doch letztlich bleibt die Tatsache, dass das Leben nun einmal so ist, und die Armen verhalten sich dieser Realität entsprechend. Man könnte annehmen, dass sich mit diesem Zustand ein abgründiger Humor verband, und vielleicht wird ein Beispiel aus dem Philogelos, der einzigen Sammlung antiker Witze, diesem Wesenszug gerecht:

 

Ein Holzkopf wollte seinen Esel lehren, nicht mehr zu essen, und gab ihm keine Nahrung mehr. Als der Esel Hungers starb, sagte der Mann: »Welch ein Verlust! Gerade als er gelernt hatte, nicht zu essen, ist er gestorben.« (Philogelos)

 

Die fundamentale Tatsache der Unterwerfung bedeutet, dass die Produktion der Armen in gewissem Maß immer den Mächtigen ausgeliefert ist. Die Fabel über den wütenden Löwen hält diese Wahrheit fest:

 

Der Leu war in Erregung. Ferne aus dem Wald / sah ihn der Hirsch und sprach: O weh, wir Armen! / Was wird er nun in seiner Wut uns antun, da wir ihn, / selbst wenn er bei Verstand ist, nicht ertragen können?« (Babrios, Äsopische Fabeln 90)

 

Etwas von der Frustration der Armen gegenüber den Reichen legt Lukian einer der Figuren seiner Saturnalia in den Mund, die den Titanen Kronos bittet, das Goldenen Zeitalter zu erneuern, denn:

 

… die Menschen dieser Zeit seien selbst golden gewesen, und die Armut habe sich vor ihnen gar nicht sehen lassen dürfen. Wir hingegen sind nicht einmal von Blei, sondern etwas noch Schlechteres; die meisten von uns müssen ihr Stückchen Brot sauer verdienen, und im ganzen ist bei uns nichts als Hunger und Kummer, Ach und Weh über unser Schicksal, und ewige Verlegenheit, wo wir das Unentbehrlichste hernehmen sollen. Und gleichwohl kannst du mir glauben, daß wir uns weit weniger beklagen würden, wenn wir nicht sehen müßten, wie glücklich die Reichen sind, sie, die mit so vielem Silber und Gold im Kasten, im Besitz so vieler Kleider, so vieler Sklaven, Equipagen, Landgüter und ganzer Dorfschaften, kurz im allergrößten Überfluß so wenig daran denken, uns etwas davon mitzuteilen, daß sie Leute unseres Schlages nicht einmal ihres Anblicks würdig achten.

Dies, lieber Kronos, ist es eigentlich, was mich am meisten verdrießt. Wir finden es ganz unerträglich, daß der eine nichts zu tun haben soll als, auf Purpurbetten ausgestreckt, die langsame Verdauung einer zu reichlichen Mahlzeit abzuwarten, seinem Leibe gütlich zu tun, sich Komplimente über seine Glückseligkeit machen zu lassen und alle Tage im Jahre Feiertag zu haben: während wir anderen sogar im Traume mit nichts anderem umgehen, als wo vier Obolen herkommen sollen, um uns am nächsten Tage mit einem Magen voll trocken Brot oder Gerstenbrei und einer Handvoll Kresse oder Aschlauch oder einem Paar Zwiebeln zum Beigericht, wieder schlafen zu legen. (Saturnalische Briefe, Bd. 2, S. 346)

 

Als Unterworfene hatten die Armen dennoch ein Selbstwertgefühl und verlangten danach, anständig behandelt zu werden, wie eine Episode aus den Satyrica zeigt. Korax ist als Träger angestellt worden, die typische Arbeit des Handlangers, und betont in markigen Worten seine Würde als Mensch:

 

»Hallo«, rief er, »glaubt ihr vielleicht, ich sei ein Packesel oder ein Frachter für Steine? Als Mensch habe ich Dienst genommen, nicht als Gaul. Und ich bin nicht weniger ein freier Mann als ihr, mag mich mein Vater auch als armen Schlucker hinterlassen haben.« (Satyrica 117)

 

Doch im Rahmen der Möglichkeit absoluter Macht über die Armen hat sich ein modus vivendi herausgebildet, der dafür sorgt, dass die Forderungen der Mächtigen, soweit machbar, erfüllt werden, während den Armen gerade genug zum Überleben bleibt. Ich spreche natürlich von einem Verhältnis des Gleichgewichts: Verlangen die Reichen zu viel, können sie sich, wenn die Armen den Aufstand proben (ein zugegeben seltener Fall), selbst vernichten; oder sie können die Armen vernichten – sie vertreiben oder sie dem Hungertod ausliefern. In diesem Fall würden die Mächtigen gegen ihre eigenen Interessen verstoßen. Daraus ergibt sich, selbst unter der Bedingung der sehr asymmetrischen Kräfteverhältnisse, der Zustand des Gleichgewichts.

Angesichts dieser vertikalen Asymmetrie ist das Schlüsselinstrument der Armen zur Selbstbehauptung wie in den horizontalen Beziehungen die Wechselseitigkeit. Dieser Beziehung, die im Allgemeinen als Schirmherr-Schützling-Verhältnis ausgedrückt wird, liegt die Vorstellung zugrunde, dass jede Seite etwas besitzt, dessen die andere bedarf, so dass sie einander symbiotisch unterstützen. Die Armen haben den Mächtigen Achtung und Einkommen zu bieten, die Mächtigen besitzen die Mittel, den Armen in Zeiten der Not beizustehen, und sind verpflichtet, diese Mittel einzusetzen. Dass auch die Machtlosen Helfer der Mächtigen sein können, thematisiert die Fabel vom »Löwen und der Maus« aus der Perspektive der Armen:

 

Der Löwe hatte eine Maus erjagt und wollte sie verspeisen; / jedoch die Diebin, im Hause unbeliebt, / da sie ihr letztes Stündlein nahen fühlt, legt sich aufs Flehn. / Sie sagt: »Wohl Hirsche und gehörnte Stiere stehn dir an / als Beute auf der Jagd und Füllung für den Bauch; / jedoch das Mäusefleisch, das sollten deine Lippen nie / berühren. Darum bitt ich, schone mich, / vielleicht daß ich dir einst, obschon ich klein, von Nutzen bin!« / Da lacht der Löwe auf und läßt die Maus am Leben. / Und nicht viel später fiel er jungen Jägern in die Hand, / geriet ins Netz und ließ sich übertölpeln / und fing an seiner Rettung an zu zweifeln. / Da kam die Maus aus ihrem heimlichen Versteck gesprungen / und nagt’ mit ihrem kleinen Zähnchen an dem festen Strick, / bis daß der Löwe frei war. Also gab sie Dank dafür, / daß vorher er das Lebenslicht ihr schonte. (Babrios, Äsopische Fabeln 107)

 

Realität war, dass die Mächtigen wie gewöhnlich die besten Karten hatten. Die Schützlinge konnten ihr Anliegen vielleicht in moralische Begriffe fassen – in bester Verhandlungsposition waren sie nicht –, aber die zu erwartende Patronage war wenig verlässlich. Als erfolgreiche Strategie bewährten sich nicht selten unauffälliges Verhalten und Konfliktvermeidung – wie in der Fabel vom Fischer und den großen und kleinen Fischen:

 

Ein Fischer zog das Netz herauf, das jüngst / er ausgeworfen hatte; es war, man sah’s, ein reicher Fang. / Die kleinen von den Fischen schlüpften durch des Netzes Maschen / und tauchten unter in der Meeresflut, / die großen blieben hilflos auf des Nachens Boden. (Babrios, Äsopische Fabeln 4)

 

Natürlich bestand immer die Möglichkeit, dass es zwischen den Armen und denen, die Macht über sie hatten, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Bei Aelian findet sich ein Beispiel aus hellenistischer Zeit, als die Armen am Ende ihrer Möglichkeiten waren und keinen anderen Rat mehr wussten als sich zu erheben:

 

Theokles und Thrasonides aus Korinth und Praxis aus Mitylene verachteten das Geld und zeigten sich großzügig, weil sie sahen, wie die Bürger Mangel litten, sie selber aber reich waren. So empfahlen sie auch anderen, den Mittellosen die Not der Armut zu erleichtern. Als sie mit ihren Überredungskünsten nichts erreichten, erließen sie wenigstens selber den Armen ihre Schulden. Dies war zwar ihren Finanzen nicht zuträglich, wohl aber ihrem Leben. Denn die, welchen die Schulden nicht erlassen worden waren, fielen mit den Waffen, die der Zorn ihnen lieh und – der zwingendste Grund – ihre aus der drückenden Lage geborene Not, über ihre Gläubiger her und töteten sie. (Älian, Poikile historiaBunte Geschichten 14,24)

 

Den Fall eines weniger radikalen, doch immer noch ärgerlichen Widerstands zeigt die Fabel vom Kampf zwischen dem Stier und der Maus:

 

Einst biß die Maus den Stier. Dem tat das weh, drum stürzte er ihr nach. / Doch die kam ihm zuvor und schlüpfte in ein Loch. / Der Stier, der stand davor und stieß mit seinen Hörnern an die Wand, / bis er ermüdet in die Knie sank und einschlief / am Mauseloch. Die Maus jedoch guckt raus, / sie schleicht heran, sie beißt aufs neu und macht sich fort. / Der Stier stand auf. Was sollte er noch tun? / Er wußt es nicht. Doch höhnte ihn die Maus: / »Nicht immer ist der Große stark. Denn Fälle gibt’s, / da ist es besser, klein und unscheinbar zu sein.« (Babrios, Äsopische Fabeln 112)

 

Ein Aufstand, der den Spieß umkehren und die Mächtigen in Verdruss bringen konnte, war eine attraktive Vorstellung, wie dieser Orakelspruch aus Oxyrhynchos in Ägypten bezeugt:

 

… Aufruhr und Krieg … und die Reichen werden bitter leiden. Ihr Hochmut wird zunichte gemacht werden und ihr Besitz ihnen genommen und anderen gegeben … (P. Oxy. XXXI 2554)

 

Aufstände der Armen erregen die Aufmerksamkeit sowohl der Mächtigen als auch der Fürsprecher der Armen. Aber die meist uneingeschränkte Fähigkeit der Führungsschicht, sich wirksam gegen die aufsässigen Armen zur Wehr zu setzen, erklärt weitgehend, warum solche Revolten selten bleiben und warum es ihnen nie gelingt, die Herrschaft der Mächtigen durch die Vormacht der Armen zu ersetzen. Ein Aufstand wird in der Regel mit notwendiger, wahrscheinlich aber unnötiger Gewalt unterdrückt; oder die Rebellenführer entfremden sich den Armen. In jedem Fall aber kehrt man zum Status quo ante, der Unterwerfung, zurück. Das gilt für die römisch-griechische Welt so gut wie für jede andere. Wahrscheinlich lebte die Erinnerung an gescheiterte Revolten in der Kultur der Armen fort und schreckte von weiteren Rebellionen ab, so lange zumindest, bis die Verhältnisse hinsichtlich Auskommen und Überleben erneut völlig unerträglich wurden.

Doch daneben besteht die andere Möglichkeit, dass die Armen an den Status quo als an die »große Kette des Daseins« glaubten, ihre Stellung in der Gesellschaft als richtig und gerecht verinnerlichten und ihre Rolle der Unterworfenen bereitwillig übernahmen. Zu anderer Zeit hat Charles Dickens dieser Mentalität in seiner Romanze The Chimes (Silvesterglocken) Ausdruck gegeben:

 

»O lasst uns lieben unsern Herrn

Und unser Tagwerk haben gern,

Und lasst uns sein zufrieden

Mit dem, was uns beschieden.«

 

Oh let us love our occupations,

Bless the squire and his relations,

Live upon our daily rations,

And always know our proper stations.

 

Ich würde hier von bewusster Akzeptanz sprechen, von der Ausrichtung des Wertebewusstseins der Armen an dem der Elite. »Die Stimme des Geiers« belehrt über das Risiko, alles zu verlieren, wenn man sich über seinen Stand erhebt:

 

Der Geier hatte eine fremde, scharfe Stimme. / Als er das Pferd vernahm, das freundlich wieherte, / da ahmte er es nach … / … so hatte weder er / die beßre Stimme, welche er begehrte, noch die frühre mehr. (Babrios, Äsopische Fabeln 73)

 

Jede mir bekannte soziale Erhebung in der Antike hatte ein doppeltes Ziel: den Schuldenerlass und die Neuverteilung von Land. Es sind dies im Grunde konservative Ziele – der Versuch einer Renaissance der gerechten Welt alter Zeit, in der jeder Land besaß und frei war von Abhängigkeit durch Verschuldung. Vermutlich bliebe in dieser neuen Welt die geltende hierarchische und hegemoniale Machtverteilung erhalten, mit dem einzigen Unterschied, dass jeder einen fairen Anteil an Ressourcen besäße. Mit anderen Worten, nicht die Machtstruktur als solche wird beklagt, sondern ihre ungerechten Erscheinungsformen. Diese Einstellung impliziert, dass die Armen ein System der Ausbeutung hinnahmen.

Doch für die Armen war ebenso eine Welt vorstellbar, in der Zeichen und Wunder geschahen. Es gibt zwar keinen Beleg dafür, dass auch nur annähernd Vergleichbares zur Verfügung stand wie die Ideen der Menschenwürde des 18. Jahrhunderts, ihre explosive Rekonstruktion durch Marx und seine aggressive Darlegung der rechtmäßigen Erwartungen und Möglichkeiten der armen Arbeiterschaft; doch eine verkehrte Welt war der Vorstellung nicht fremd. In einer Satire Lukians beschreibt der arme Schuster Mikyllos, den die Parzen in den Hades riefen, seine Umgebung:

 

Ich hingegen, der ich weder Äcker noch Haus und Hof, noch bares Geld, noch Geräte, noch Ehrenstellen noch Ahnenbilder auf der Welt zurückließ, ich war gleich reisefertig. Auf den ersten Wink der Atropos warf ich fröhlich meinen Schusterkneif und den unvollendeten Halbstiefel, den ich eben in Händen hatte, weg, sprang auf, barfuß wie ich war, ohne mir nur das Pech von den Händen zu waschen, und folgte, oder lief vielmehr voraus und sah nur immer vorwärts, weil ich nichts hinterließ, das mich zurückgerufen oder nur den Kopf zu drehen gereizt hätte. Auch finde ich wahrlich bei euch alles recht schön, und besonders ist die hier eingeführte Gleichheit sehr nach meinem Geschmack. Vermutlich wird hier kein Schuldner mehr von seinen Gläubigern angefochten; hoffentlich hat man bei euch keine Steuern und Abgaben mehr zu bezahlen, und, was die Hauptsache ist, ich bin, denke ich, hier sicher, weder im Winter mehr zu frieren, noch krank zu werden, noch von den Mächtigen Stockschläge zu bekommen. Hier ist eitel Friede und eine völlig umgekehrte Welt; wir armen Leute lachen hier, die Reichen jammern und heulen. (Die Überfahrt, Bd. 2, S. 226 f.)

 

Mehr als Rache aber suchten die Armen Gerechtigkeit. Wenn nur jeder, allen voran die Reichen, vorschriftsgemäß leben würde, so ihre Überzeugung, dann gäbe es eine tragfeste, überlebensgerechte Umgebung, in der sie ihre Zeremonien feiern und zahlen könnten, was sie schuldig sind. Die Fabel vom »Konzil« des Löwen, der ein gerechter und milder König ist und Starke wie Schwache gleichermaßen anhört, schildert den Erwartungshorizont der Armen – eine glückliche Welt, in der die Mächtigen gezwungen sind, ihre Macht in angemessener Form auszuüben. Der Friede im Reich des Löwen bleibt erhalten und der »scheue Hase« sagt: »Oh, ich sehnte diesen Tag / schon längst herbei, der auch die Rücksichtslosen / vor Schwachen Furcht läßt fühlen!« (Babrios, Äsopische Fabeln 102).

Daneben gibt es einige Fabeln, die den Reichen nahelegen, die Armen zu scheren, doch nicht zu schinden. So – neben der unten zitierten über die Witwe und ihr Schaf – auch die folgende:

 

Den Futtervorrat für sein Pferd verkaufte / ein Pferdepfleger einem Wirt und zechte drauf den ganzen Abend, / dann striegelte und kämmte er das Pferd den ganzen Tag. / Das aber sprach: »Wenn es dir ernst ist, daß ich gut ausseh, / dann darfst du, was mich nährt, auch nicht verkaufen.« (Babrios, Äsopische Fabeln 83)

 

Das Fehlen praktischer Alternativen zum Status quo aber hatte zur Folge, dass die Hinnahme des herrschenden Weltbilds weit leichter fiel, als wir es uns heute vorstellen können. So kam es selten zu lokalem Aufruhr, und Revolten, die das Gesamtreich umfasst hätten, fehlen ganz, denn die Armen verlangten nicht den Umsturz der geltenden Ordnung, sondern – wenn überhaupt – deren Reform. Doch diese Reform blieb aus, wie es die Armen schon immer vermutet hatten.

Mit einer Definition der Gerechtigkeit, nach der »jedem das Seine« gebührt, nähert man sich dem Standpunkt der Armen. Die Mächtigen können mächtig bleiben, müssen aber auch den Armen »das Ihre« zugestehen, nämlich die elementare Möglichkeit, ihr Leben ohne ein Maß an Ausbeutung zuzubringen, das ihre soziale Existenz und dieses Leben selbst gefährdet. Philostrat legt Apollonios von Tyana einen solchen Rat in den Mund, gerichtet an Kaiser Vespasian: »Vom Reichtum aber mache den besten Gebrauch, indem du den Bedürftigen beistehst und den Begüterten Sicherheit für ihren Besitz verschaffst!« (Das Leben des Apollonios von Tyana 5,36).

Die Fabeln sind voll von Lektionen über Gerechtigkeit. So auch »Das gepeinigte Schaf«:

 

In ihrem Haus hielt eine Witwe einst ein Schaf, / und weil von ihm sie immer mehr an Wolle haben wollte, / schor sie drauflos und stutzte ihm das Fell bis hin / zum Fleisch, so daß es Schmerz empfand. / Und weil’s ihm wehtat, schrie das Schaf: »So mach mich nicht zuschanden! / Was kannst an meinem Blut du schon gewinnen? / Wenn aber, Herrin, dir an meinem Fleisch gelegen ist, / dann gibt’s den Metzger, der mit einem Hieb mich schlachtet! / Doch legst du Wert auf Wolle und auf Schur und nicht aufs Fleisch, / so ist’s der Scherer, der mich scheren und doch leben lassen wird.« (Babrios, Äsopische Fabeln 51)

 

Andere Fabeln behandeln ähnliche Themen: »Nahe dem Gesetz, aber fern der Gerechtigkeit« (menschliche Gerechtigkeit erreicht die Armen oft nicht); »Der Ritter und sein Pferd« (ein Aufruf gegen willkürliche Ausbeutung); »Zweierlei Maß der Gerechtigkeit« und »Die Mühlen der Götter mahlen langsam« (sei fair zu deinen Mitmenschen, wenn du willst, dass die Götter fair zu dir sind). Auch die Sprichwörter verraten viel Skepsis gegenüber den Rechtssystemen, obwohl sie die Gerechtigkeit betonen. Die Armen sind wie die Schwalben – nahe den Gerichtshöfen, doch fern von ihrem Schutz:

 

Die braune Schwalbe, die gerne bei den Menschen wohnt, / erbaut’ im Frühling einst ihr Nest an einer Wand / des Hauses, wo die alten Männer sitzen zu Gericht. / Von sieben Jungen wird sie Mutter dort; / noch fehlen ihnen purpurrote Schwingen. / Die fraß die Schlange alle reihum auf, als sie / aus ihrem Loch kam angekrochen. Die unglücksel’ge Mutter / beklagt den frühen Tod der Jungen. / »O weh«, spricht sie, »o weh mir Armen! / Dort, wo Gesetz und Recht der Menschen herrschen, / muß ich, die Schwalbe, der man Unrecht tat, entfliehn.« (Babrios, Äsopische Fabeln 118)

 

Gerechtigkeit zu erreichen liegt also nicht im Belieben der Menschen. Ihre Durchsetzung bleibt den Göttern überlassen, wie es in Redensarten zum Ausdruck kommt: »Das Göttliche bringt das Böse vor den Richter.« Die Menschen haben im Grunde nur beschränkten Zugang zu ihr, und gesichert ist der Zugang keinesfalls. Das Gesetz wird meist nur erwähnt, um seine Unvereinbarkeit mit der Gerechtigkeit zu betonen. Zur Volksmoral gehört der Glaube an die Gerechtigkeit, nicht aber an das Gesetz als den Weg, sie zu erlangen. Dies nicht ohne Grund. In den Gesetzestexten fehlt praktisch jeder Bezug auf die Armen. In einer Entscheidung mögen die Rechte der Fischer festgehalten sein, und es finden sich allgemeine Aussagen daüber, dass die Mächtigen keine Sonderbehandlung erfahren, aber die Armen sind ganz offenkundig nur sehr selten in Rechtsfälle verwickelt – zum Beispiel gibt es keine Erläuterungen zur Lohnarbeit. Im Gesetz finden die sehr Armen schlichtweg kaum Beachtung. Wenn sie einmal in einen Rechtshandel involviert waren, konnten sie damit rechnen, den Kürzeren zu ziehen, wie es der Rat Jesu in aller Deutlichkeit zu verstehen gibt:

 

So du aber mit deinem Widersacher vor den Fürsten gehst, so tu Fleiß auf dem Wege, daß du ihn los werdest, auf daß er nicht etwa dich vor den Richter ziehe, und der Richter überantworte dich dem Stockmeister, und der Stockmeister werfe dich ins Gefängnis. Ich sage dir: Du wirst von dannen nicht herauskommen, bis du den allerletzten Heller bezahlest. (Lukas 12,58 f.)

 

Angesichts der Tatsache, dass weder das Rechtssystem noch die Rechtspflege der Mächtigen zu ihrem Schutz taugen, müssen die Armen zu informellen Mitteln der Konfliktlösung greifen oder klein beigeben.

Für den Alltagsgebrauch jedoch halten Sprichwörter und Fabeln Strategien für den Umgang mit den Mächtigeren bereit. Sie unterstreichen die Vergeblichkeit aller Versuche, die Reichen schachmatt zu setzen. Tu, was du willst, gefressen wirst du doch, wie »Der Wolf und das Lamm« zu bedenken gibt:

 

Der Wolf, der’s Lamm, das von der Herde sich verirrt, / erblickte, wollte diesmal ohn Gewalt es packen / und suchte drum für seine Klage einen guten Vorwand: / »Du hast beschimpft mich vor’ges Jahr, als du noch klein warst!« / »Wie sollt ich das im vor’gen Jahr, da dieses Jahr ich erst zur Welt kam?« / »Und hast du nicht den Acker abgeweidet, der doch mir gehört?« / »Kein Stenglein Gras hab ich gegessen, und zur Weide kam ich nicht.« / »Und hast du aus der Quelle nicht getrunken, wo ich trinke?« / »Allein der Mutter Euter ist’s, das mich berauscht.« / Da packt der Wolf das Lamm und frißt es auf. / »Von dir läßt sich der Wolf die Mahlzeit nicht verderben, / auch wenn du jede Klage mir geschickt bestrittest.« (Babrios, Äsopische Fabeln 89)

 

Als gute Verteidigung gegen die Mächtigen bot sich an, Konfrontationen wo immer möglich zu vermeiden wie in »Die Eiche und das Schilfrohr«. Die Eiche, vom Sturm entwurzelt, fällt in den schäumenden Fluss und sieht mit Staunen, wie das schmächtige, zerbrechliche Schilfrohr Sturm und Wogen standhält:

 

Da sagte klug das Rohr: »Du brauchst dich nicht zu wundern! / Weil du dem Sturme trotztest, wurdest du besiegt; / wir aber beugen uns in kluger Einsicht, / sobald ein Windstoß unsre Spitzen zart bewegt.« (Babrios, Äsopische Fabeln 36)

 

Auch Schläue allerdings hilft. Zahlreiche Fabeln betonen, dass eine kluge Analyse und angemessene Reaktion auf Gegebenheiten sich bezahlt macht, so auch »Der Fuchs vor der Höhle des Löwen«. Der hochbetagte Löwe ist zu schwach, um noch auf die Jagd zu gehen. Er legt sich, scheinbar krank, zu Bett. Die Tiere nehmen Anteil, besuchen ihn einzeln und treten an sein Bett, so dass er sie mühelos packen und fressen kann:

 

Da kam dem schlauen Fuchs Verdacht, / und draußen bleibend, fragte er: »Wie geht dir’s, König?« / Erwidert jener: »Sei gegrüßt, mein liebster Freund! / Was trittst du nicht herein, besiehst mich nur von fern? / Komm näher nur, nimm Platz und tröste mich / durch bunte Fabeln jetzt in meinem Unglück!« / Der Fuchs darauf: »Leb wohl, und daß ich geh, verzeih! / Es schrecken mich die Spuren allzu vieler Tiere, / von denen keine du mir zeigen kannst, die aus der Höhle führt hinaus.« (Babrios, Äsopische Fabeln 103)

 

So feindselig die Armen den Wohlhabenden und ihrer Macht auch gegenüberstanden, Reichtum an sich, jenseits seiner Rolle im Konfliktfeld der Hierarchie, war für die Armen doch wichtig. Sie wussten, dass Geld und Besitz Macht bedeutet, kannten aber auch die Risiken. Armut war nicht angenehm. Aber die realen Reichtümer und ihre Anziehungskraft hatten etwas Fragwürdiges. Gier konnte ins Unglück führen. Das zeigt die Fabel von der Maus in der Brühe:

 

In einen deckellosen Topf voll Brühe fiel die Maus, / und von der Fettigkeit erstickt, bemerkte sie, / schon in den letzten Zügen: »Gegessen hab ich und getrunken / und alles recht genossen; somit ist es Zeit für mich zu sterben.« (Babrios, Äsopische Fabeln 60)

 

Auch in Sprichwörtern erscheint der Reichtum als zwielichtiger Trumpf. Einerseits bietet er Chancen, ist also willkommen. Andererseits aber weckt er Argwohn, zum Beispiel bei einem Kreditnehmer. Außerdem wird häufig vorausgesetzt, der Erwerb von Reichtum sei mit Verrat, Diebstahl und ähnlich asozialem Verhalten verbunden. Das Hauptziel ist also zu bewahren, was man hat; weniger wichtig ist, es stark zu vermehren – eine Strategie, die entschieden defensiv, konservativ und in erster Linie auf Selbsterhaltung gerichtet ist. Das Sprichwort »Besser an Land arm zu sein als reich auf See« (Diogenian 2,62) hält diesen Hang zur Vorsicht fest. Bist du arm, mach das Beste daraus.

Diese Einschätzung von Reichtum und Armut führt nicht zum Zweifel an der bestehenden Ordnung der Dinge. Die Sprichwörter lassen einen stark ausgeprägten Sinn für hierarchische Strukturen erkennen, wie auch die Fabel von der Krähe und dem Adler:

 

»Mit seinen Krallen riß ein prächt’ges Lamm / der Adler aus der Herde, zum Mahl bestimmt für seine Jungen. / Ihn nachzuahmen, schickte sich die Krähe an: / zu Boden fliegend, stieß sie auf des Widders Rücken. / … / »Ich büße«, sagte sie, »mit Recht für meine Dummheit; / was mußte ich’s, die Kräh, den Adlern gleichtun wollen?« (Babrios, Äsopische Fabeln 137)

 

Gleichzeitig kann man feststellen, dass die häufigste Einstellung der Armen zu den mehr als sie selbst vom Glück Begünstigten der entspricht, die Tyndarus in Plautus’ Komödie Captivi (Die Gefangenen 583) äußert: » est miserorum, ut malevolentes sint atque invideant bonis« (»Neid und Missgunst für die Braven, das ist Art der Elenden«). Wenn den Armen Zeit und Lust zum Träumen blieb, war ihr Traum und Begehren nicht, die Reichen zu stürzen, sondern das zu haben, was diese hatten.

Fazit

Die prekäre ökonomische Lage der Armen bestimmte ihr Leben. Ihre Position in der sozialen Hierarchie war schwach und Besserung kaum zu erwarten. Doch ihre Überlebensstrategien leisteten ihnen gute Dienste. Eine Verbindung von Kooperation und Wettbewerb sicherte ihnen so viel Erfolg, wie angesichts ihrer bedrängten Umstände eben möglich war, und die Idee des Schicksals sorgte für den Rahmen, innerhalb dessen sich ihr Universum verstehen ließ. Der Unterwerfung unter die Mächtigeren begegneten sie mit Anpassung und Widerstand. Auf eine gerechte Welt und eine Besserung ihrer Situation konnten sie zwar hoffen, aber die Unwahrscheinlichkeit eines solchen Wandels hielt sie nicht davon ab, hart zu arbeiten und – das versteht sich von selbst – diejenigen zu beneiden, die mehr hatten als sie.