Abb. 1. Eine glückliche Ehe: Liebevolles Miteinander im Bett, den treuen Hund zu Füßen.

Gewinnsucht ist eine Tugend, exzessive Gewinnsucht, also Geiz, und die unrechtmäßige Aneignung fremden Eigentums sind dagegen vom Übel. Für philosophische Gemüter wiederum ist Selbstgenügsamkeit ein moralischer Gemeinplatz.

Selbstvertrauen ist eine Tugend, während Arroganz und Prahlerei, das heißt ein Selbstvertrauen, dessen Ausdruck dem sozioökonomischen Status widerspricht, als übel gelten. Demut – als Gegenteil unmäßigen Stolzes – versteht sich von selbst. Ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl ist gut. Jeder hat die Pflicht, seinen Rang bzw. seine Ehre zu schützen, was fast jede Handlung rechtfertigt. Gleichzeitig aber hat man Sinn für Selbstbeherrschung, in der Populärphilosophie ein zentraler Begriff. Trunksucht zum Beispiel ist verpönt. Mord ist verwerflich. Dass man sich nicht in fremde Angelegenheiten mischen soll, ist eine weitere Binsenweisheit; Klatsch und Wichtigtuerei sind verwerflich. Gut ist, wer sich um notleidende Verwandte, zum Beispiel Witwen, kümmert, nicht aber der, der für Personen außerhalb des Familienkreises sorgt. Neben der Familie sind Freunde hoch geschätzt – ein weiterer Topos der populären Philosophie und Kultur.

Orientierung in einer Welt der Ungewissheit

Die oben skizzierte Palette moralischer Vorstellungen scheint nicht ungewöhnlich, und sie genügte als Leitfaden zur Bewältigung des normalen Alltags. Wenn allerdings eine Ungewissheit den ruhigen Fluss dieses Lebens störte – und das muss fast ununterbrochen passiert sein –, dann wandten sich die Menschen dem Übernatürlichen zu: dem Aberglauben, der Magie und der Religion. Die gewöhnlichen Römer fanden für ihre Sorgen willige Ratgeber in großer Zahl: die Priester in den Tempeln, die Verkäufer von Talismanen und Zaubertränken auf den Straßen und in kleinen Kiosken, professionelle Magier, die Zauberformeln für jede Not lieferten, Traumdeuter, die nur auf die Gelegenheit warteten, gestützt auf die jüngsten nächtlichen Phantasiebilder alles zu enthüllen, Bücherverkäufer mit dicken Bänden voll nützlicher Informationen: Sie alle standen selbst in den kleinsten Städten bereit.

Der Aberglaube war Lebenshilfe. Amulette wurden in großer Zahl gefunden; Armbänder, Halsketten und Ringe galten als wirksamer Zauber gegen das Unbekannte. Gegen Krankheiten aller Art wurden Talismane benutzt. Beim älteren Plinius lesen wir:

 

Es gibt auch Zaubersprüche gegen Hagelschauer, gegen gewisse Arten von Krankheiten und gegen Verbrennungen, von denen sich einige bewährt haben … daß auch aus dem Körper gezogene Pfeile, wenn sie die Erde nicht berührt haben, Schlafenden untergelegt, als Liebesmittel dienen … (Naturalis historiaNaturkunde 28,5,29; 28,6,34)

 

Marcellus Empiricus nennt ein Beispiel für einen Zauber gegen Krankheiten:

 

Mit nüchternem Magen bespricht man den Patienten mit nüchternem Magen, während man die Stelle, die von Krankheit befallen ist, mit drei Fingern, d. h. mit Daumen, Mittel- und Ringfinger, festhält, wobei die übrigen beiden hochstehen. Man sagt: »Verschwinde, bist du heute geboren, bist du früher geboren, bist du heute entstanden, bist du früher entstanden; diese Pest und Verpestung, dieser Schmerz, diese Schwellung, diese Rötung, diese Schwellung der Mandeln, diese Schwellung der Mändelchen, diese Geschwulst, dieses Geschwülstchen, diese Drüsengeschwulst am Hals, dieses Drüsengeschwülstchen am Hals rufe ich mit diesem Zauberspruch hinaus aus diesen Gliedern, aus diesem Mark.« (De medicamentis empiricis, physicis ac rationalibusÜber Heilmittel 15,11)

 

Zaubersprüche waren auch gut zu gebrauchen, wenn man eine Wette auf ein Wagenrennen abgeschlossen hatte und den Sieg sicherstellen wollte. Das zeigt diese Bleitafel aus Afrika:

 

Ich beschwöre dich, Dämon, wer immer du sein magst: Quäle und töte von dieser Stunde, diesem Tag, diesem Augenblick an die Pferde der Mannschaften der Grünen und der Weißen; töte und zerschmettere die Wagenlenker Clarus, Felix, Primulus, Romanus; lass keinen Atemzug in ihnen. Ich beschwöre dich bei dem, der dich damals gebracht hat, der Gott des Meeres und der Luft: Io, Iasdao … aeia. (Luck, Nr. 15)

 

Oder wenn man auf Rache sann:

 

Herrin Demeter, ich rufe dich an als eine, die Unrecht gelitten hat. Höre mich, Göttin, und bringe Gerechtigkeit, so dass du das Schrecklichste und Schmerzlichste über jene kommen lässt, die so etwas über uns denken und sich zusammen gegen uns erfreuen und Leiden über mich und meine Ehefrau, Epiktesis, bringen und uns verachten. O Göttin, leih dein Ohr denen von uns, die leiden, und bestrafe, die glücklich auf solche blicken wie uns. (Amorgos, Griechenland [Gager, Nr. 75])

 

Oder auf Bestrafung eines erlittenen Unrechts:

 

Wer immer die Habe des Varenus gestohlen hat, ob Frau oder Mann, soll persönlich zahlen, und vom Gelde, das er gezahlt hat, wird Mercur und Virtus die Hälfte gespendet. (Kelvedon, Essex [Gager, Nr. 97] / Egger, S. 17)

 

Oder gar auf die Verführung der Frau eines anderen:

 

Lass brennende Hitze die Geschlechtsteile von Allous verzehren, ihre Scham, ihre Glieder, bis sie den Haushalt des Apollonios verlässt. Lass Allous sich niederlegen mit Fieber, mit nicht enden wollender Krankheit, mit unstillbarem Hunger – Allous – und Wahnsinn! Entferne Allous von Apollonios ihrem Gatten; gib Allous Frechheit, Hass, Widerwärtigkeit, bis sie vom Haushalt des Apollonios scheidet. Jetzt. Schnell. (Oxyrhynchos, Ägypten [Gager, Nr. 35])

 

Eine ständige Motivation für die Anwendung magischer Formeln war natürlich die Liebe:

 

… den Theodor, den Sohn der Techosis. … Überhöre mich nicht, [sondern mach dich auf und erwache für mich] und geh zu Matrona, damit sie sich mir ganz hingebe, [und erfülle mir diese] Bindung. … Jetzt, jetzt, schnell, … Wie die Isis den Osiris liebte, [so soll Matrona lieben den] Theodor auf alle Zeit ihres Lebens [jetzt, jetzt,] schnell, schnell, heute. Ich beschwöre dich [bei dem Namen] des [Abras]ax. (Oxyrhynchos, Ägypten [Gager, Nr. 29]/ Wortmann, S. 84)

 

Die Beschwörungsformeln von Amateuren genügten für alltägliche Vorfälle. Einige Amulette tragen die Inschrift des magischen Wortes Abraxus, das in unserem Wort »abacadabra« nachklingt. Auch in christlicher Zeit konnten rituelle Formeln für magische Zwecke verwendet werden, so die Intonation des hoc est corpus, worauf unser modernes Wort »Hokuspokus« zurückgeht. Für ernsthafte Fälle standen Experten, männliche wie weibliche, zur Verfügung, die Hilfe anboten. Einen weit zurückreichenden literarischen Stammbaum hatten natürlich die Hexen, Circe in der Odyssee und Medea bei Euripides, aber Genossinnen in der Lebenswelt waren zahlreich wie Sand am Meer. Ägypten war das Land und die Quelle der Zauberer schlechthin. Magische Papyri dienten bei der Schulung als Lehrbücher, in denen allerdings das entscheidende Stück Information fehlte, so dass die Fachkundigen nicht vollständig durch Autodidakten ersetzt werden konnten. Verschiedenes Instrumentarium für magische Zeremonien aus der Antike hat sich erhalten, darunter eine Art Roulette-Schüssel, die zur Prophezeiung der Zukunft benutzt wurde. Ein Experte konnte außerdem mit chemischen Präparaten, etwa Räucherwerk, ausgerüstet sein, um eine besondere Atmosphäre zu schaffen, oder auch mit Geräten wie Zauberstäben, um die beschworenen magischen Kräfte zu »steuern«.