Abb. 15. Familie eines Freigelassenen: Mann und Frau geben sich die Hand – das Symbol der rechtmäßigen Ehe. Im Hintergrund ihre zwei Kinder.

Gaius Julius Atticus, Freigelassener des Eros, errichtete, als er noch lebte, dieses Grabmal. Julia Salviola, Freigelassene des Eros, verstorben, und Gaius Julius Victor, Sohn des Atticus, mit 18 Jahren gestorben, liegen hier begraben. (CIL XIII 275, St-Bertrand-de-Comminges, Frankreich)

 

Wie bereits erwähnt, fanden Freigelassene ihre Identität nicht nur in Freiheit und Familie, sondern auch in ihrer Arbeit. Zwar war die Gruppe der Freigelassenen natürlich hierarchisch strukturiert, entsprechend dem ökonomischen Gewicht der Tätigkeit – eines Ladenbesitzers zum Beispiel im Unterschied zu der eines Betreibers internationaler Handelsgeschäfte –, doch ist bemerkenswert, in welchem Maß die Arbeit und Männer, die ihren Lebensunterhalt durch Arbeit verdienten, Beachtung finden. Etwa die Hälfte aller Inschriften von Freigelassenen erwähnt ein Gewerbe, ein weit höherer Prozentsatz als auf den Epitaphen Freigeborener und ein erheblicher Unterschied zu den Angehörigen der Oberschicht, die ein Leben in Muße erstreben, die Erwähnung von Arbeit möglichst vermeiden und miteinander um öffentliche Ämter und Anerkennung konkurrieren. Den Spitzenrang unter den Freigelassenen nahmen die Augustales ein, ursprünglich Priester des Kaiserkults, deren Amt jedoch den Weg zur aktiven Teilnahme an einigen lokalen Diensten öffnete und damit zu einem gewissen Grad als Ausgleich für die kommunalen Ämter diente, die Freigelassenen nicht zugänglich waren. Als Entsprechung zur freigeborenen lokalen Elite, deren Ambitionen sie teilten, sind diese Männer im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung. Ich erwähne sie nur, um darauf hinzuweisen, dass eine Minderheit der Freigelassenen sich des lokalen Ansehens erfreute, das die Elite im Allgemeinen als Teil ihrer raison dêtre ersehnte. An der Ausübung öffentlicher Ämter zeigten weder Freigelassene noch Freie Interesse, ebenso wenig wie am öffentlichen Leben überhaupt, sofern es über Nachbarschaftsdienste in beruflichen und sozialen Klubs und Vereinen hinausging; ihre Befriedigung fanden sie in Arbeit, Familie und Freundschaft.

In sein neues Leben brachte der Freigelassene meist Erfahrungen als Gewerbetreibender oder aus anderen Beschäftigungen mit, die er im Lauf seiner Existenz als Sklave erlernt oder sich angeeignet hatte. Ein gutes Beispiel dafür sind der Sklavenbäcker und -koch in Apuleius’ Goldenem Esel (10,13 – 16). Ein reicher Herr hatte die Brüder außerhalb des Sklavenhaushalts in einem Geschäftsbetrieb etabliert, wo sie unabhängig tätig waren. Das Ende ihrer Geschichte kennen wir nicht, doch wahrscheinlich kamen auch sie schließlich frei und führten ihr Geschäft als Freigelassene weiter. Ähnlich konnten sich Freigelassene in großer Zahl in diesem oder jenem Geschäftsbereich etablieren. Ihre Arbeit umfasste eine große Bandbreite an Tätigkeiten. Im Mittelpunkt standen Handel und Industrie. Echions Ehrgeiz seine Söhne betreffend richtet sich auf Berufe wie Barbier, Auktionator oder Anwalt; der Vater des Horaz nennt Kaufmann, Auktionator oder Händler. Die Freunde und Gäste Trimalchios gehen folgenden Beschäftigungen nach: Lastträger, Leichenbestatter, Kleinhändler, Kleiderhändler, Straßenhändler (oder wiederum Träger), Anwalt, Gastwirt, Schauspieler, Steinmetz, Parfümhändler, Barbier, Auktionator, Maultiertreiber, Hausierer oder Schauspieler, Schuster, Koch und Bäcker. Andere Quellen nennen Freigelassene in den Berufen Gladiator, Schauspieler, Anwalt, Arzt, Künstler und Architekt. Die von Freigelassenen ausgeübten Berufe deckten also ein weites Spektrum ab. Ich würde annehmen, dass die höhere Sterblichkeitsrate in Groß- und Provinzstädten, den Orten, an denen die Mehrzahl der Freigelassenen lebte, in Verbindung mit den anfangs kleineren Familien, verhinderte, dass das fortwährende Nachrücken neuer Freigelassener durch die manumissio mehr Kaufleute, Künstler und Möchtegern-Experten produzierte, als die Wirtschaft verkraften konnte.

In ihrer sozialen und ökonomischen Welt unterhalb der Sphäre der Eliten führten die Freigelassenen ein reiches religiöses Leben. Herkömmlicherweise stehen im Mittelpunkt einschlägiger Untersuchungen die Seviri Augustales, das Sechs-Männer-Gremium, dem, wie oben kurz erwähnt, der Kult des Kaisers oblag. Aber auch alle übrigen schlossen einfache religiöse Aktivitäten in ihr tägliches Leben ein. Viele von ihnen, Männer wie auch Frauen, gehörten zusammen mit Sklaven und Freien religiösen Vereinen an, vor allem in Familienverbänden, wie das folgende Beispiel zeigt:

 

Geweiht Scribonia Helice, Freigelassene, von denen, die die Hausgötter und die Glücksgöttin des Lucius Caedius Cordus ehren. (AE 1992, 334, Castelvecchio Subequo, Italien)

 

Die aus einem Querschnitt der Unter- und Mittelschicht gebildeten frühchristlichen Gemeinden wurden als ein in der römisch-griechischen Welt wenn nicht einzigartiges, so doch außergewöhnliches Phänomen betrachtet. Doch hatten sich in dieser Welt zahlreiche ähnliche Vereine etabliert, die soziale Bedürfnisse in verschiedenen Kontexten befriedigten – in ethnischen, berufsbezogenen, orts- und haushaltsbezogenen und namentlich in religiösen. Freigelassene waren Vollmitglieder. Sie erschienen sogar in den Priesterschaften traditioneller römischer Gottheiten. Entgegen der üblichen Annahme, dass nur eine, die der Bona Dea, Freigelassenen offenstand, zeigt die Epigraphik diese sogar in führenden Funktionen, die auch zahlreiche andere kultische Aktivitäten umfassten. Priester der Bona Dea werden in der Tat genannt:

 

Maenalus, Beamter, weiht dies dem Philematio, Freigelassener des Kaisers, Priester der Bona Dea. (CIL VI 2240, Rom)

 

Gaius Avillius December, Lieferant von Marmor, erfüllte richtig sein Gelübde an die Bona Dea zusammen mit seiner Frau Vellia Cinnamis. Errichtet, als Claudius Philadespotus, kaiserlicher Freigelassener, Priester war und Quintus Julius Marullus Konsul war, am sechsten Tag vor den Kalenden des November. (CIL X 1549, Pozzuoli, Italien)

 

Daneben dienten Freigelassene aber auch als Priester anderer Gottheiten. Aus Chieti stammt zum Beispiel die Weihung eines Freigelassenen und Priesters der Venus:

 

 

 

Gaius Decius Bitus, der Freigelassene des Gaius, Priester der Venus, weihte dies der Freigelassenen Peticia Polumnia. (AE 1980, 374)

 

Andernorts wiederum findet man Freigelassene im kultischen Dienst der Vestalinnen:

 

Decimus Licinius Astragalus, Freigelassener des Decimus, Priester der Vestalinnen [weihte dies]. (CIL VI 2150, Rom)

 

Und der Ceres:

 

Publius Valerius Alexa, Freigelassener des Publius, lebte fromm 70 Jahre, ein Priester der Ceres. Er liegt hier. (ILTun 1063, Karthago)

 

Helvia Quarta, Freigelassene, Priesterin der Ceres und Venus, errichtete dieses Grabmal für sich zu ihren Lebzeiten. (CIL IX 3089, Sulmona, Italien)

 

Freigelassene waren also in vielen Kulten tätig. Die von mir untersuchten annähernd 250 lateinischen Inschriften, die Gelübde an Götter enthalten, richten sich, lässt man die unzweifelhaft lokalen Gottheiten außer Acht, zur guten Hälfte an Götter der römischen Religion: an Jupiter in seinen vielen Gestalten, an Herkules, Merkur, Silvanus, Juno, Diana, Apollo und Fortuna. In Isis ist die einzige »ausländische« Religion vertreten. Allerdings geht aus weiteren Belegen hervor, dass Freigelassene sich auch einem weiteren »ausländischen« Kultus anschlossen, dem der phrygischen »Großen Mutter« (Magna Mater), als deren Priester einige von ihnen bezeugt sind. Diese Spannbreite von traditionellen bis zu neueren Göttern ist typisch für die aufgezeichneten Weihungen der Bevölkerung überhaupt. Festzuhalten ist: Die Freigelassenen sind hinsichtlich des religiösen Moments ihres sozialen und kulturellen Lebens nicht von anderen freien Römern zu unterscheiden.

Und auch nicht im Tod. Auf der Isola Sacra zwischen Rom und Ostia liegt ein Friedhof mit den Gräbern gewöhnlicher Römer. Auf diesem Friedhof sind die Grabstätten von Freigelassenen und freigeborenen Römern weder voneinander getrennt noch zu unterscheiden. Es gibt weder eine »Freigelassenen-Kunst« noch »Freigelassenen-Bestattungsbräuche« noch einen »Freigelassenen-Bezirk«. Wie andere religiöse Aspekte war die Ehrung der Toten an die allgemeinen Normen und Gewohnheiten der Bevölkerung gebunden. Freigelassene heben in ihren Grabmonumenten den besonderen Stolz auf ihre Familie und ihre Freiheit hervor; im Übrigen weichen sie in keiner Weise vom Vorgehen derjenigen ab, mit denen sie im Leben engeren Umgang gepflegt hatten.

Fazit

Der Freigelassene lebte mit der fortdauernden Last seiner früheren geknechteten Existenz, die ihn alptraumartig bedrückte. Das jedenfalls wird uns suggeriert. Dieser vorherrschenden Auffassung nach lebten die Freigelassenen wegen des früheren Status als Unterworfene unter dem Schatten eines Stigmas und blieben mit diesem Stigma lebenslang behaftet, mochten sie auch noch so erfolgreich sein. Die Elite, der nur ein »freies« Leben als lebenswert galt – das heißt ein Leben, das ideell, wenn auch nicht realiter von der Unterwerfung unter einen anderen frei war – betrachtete die bloße Tatsache einer unfreien Herkunft als unauslöschliches Kainsmal, das seinen Träger zu einem Leben in Angst und Unsicherheit, wenn nicht gar zum Selbsthass verdammte. Die Quellen bestätigen das allerdings nicht. Freigelassene bezeichnen sich anscheinend ohne Scham und häufig mit offenkundigem Stolz auf ihren Grabsteinen als »Ex-Sklaven«. Wo die Elite das ehemalige Sklavendasein betont, bekundet der Freigelassene Stolz auf seinen Erfolg als guter Sklave, dem er seine Freiheit verdankt. Denn er war allermeist »befördert«, das heißt freigelassen worden, weil er die ihm übertragenen Aufgaben zufriedenstellend ausgeführt hatte. An seiner früheren Versklavung traf ihn keine Schuld, und sein Aufstieg in eine neue Existenz war ein sicheres Zeichen seiner Fähigkeiten, denn er hatte die Situation aufs Beste genutzt. Sein Sklavenleben war sein Zuhause gewesen; in der Regel blickte er nach seiner »Beförderung« mit Sympathie auf seine frühere Sklavengemeinschaft zurück und bewegte sich nach seiner Freilassung frei zwischen beiden Welten – eine Schwellenexistenz, doch ohne inneren Widerspruch. Geschickt taktierte er, der seine Freiheit zum Teil, wenn nicht ganz einer guten Beziehung zu seinem Herrn verdankte, auch in der Geschäftswelt, wusste, wann Willfährigkeit am Platz war und wann Beratung, wann er sich zurücknehmen, wann er sich durchsetzen musste und wie, ob nun in den Beziehungen zur Elite oder zur Subelite oder nur zu mächtigen freigeborenen Vorgesetzten oder anderen Freigelassenen. Zum Erfolg und zum Überleben begabt, war der typische Freigelassene vielseitig, sozial gewitzt und ökonomisch gerüstet – ein dynamischer Player in der Welt gewöhnlicher Römer.