Abb. 2. Die Beherrschung der Frau: Eine mit Nadeln durchbohrte Tonfigur aus Ägypten. Der dazugehörige Zauberspruch ist auf einem Bleitäfelchen eingeritzt und lässt den Wunsch eines Mannes nach sexueller Beherrschung einer Frau erkennen.

Jesus von Nazareth besaß viele Eigenschaften eines Magiers – zum Beispiel die Fähigkeit, Krankheiten zu heilen und die Natur zu beherrschen. Dem Verführungsversuch des Teufels, der ihn verleiten will, diese Kräfte für persönlichen Gewinn und Einfluss zu benutzen, widersetzt er sich. Andere Magier dagegen kannten solche Skrupel nicht. Im bereits erwähnten Roman des Apuleius, Der goldene Esel, verfolgt Pamphile mit der Ausübung des Zaubers persönliche Zwecke; andere Zauberer waren primär kommerziell orientiert. Paulus wurde festgenommen und der Obrigkeit vorgeführt, weil seine »Heilung« einer Sklavin und Wahrsagerin deren Besitzer um Einkünfte gebracht hatte (Apostelgeschichte 16,6 – 19). Ein anderer Magier versuchte in Konkurrenz zu Paulus den Statthalter auf Zypern, Sergius Paulus, für sich zu gewinnen, und unterlag (Apostelgeschichte 13,6 – 12). Simon Magus (»der Magier«) gehörte zu denen, die mit Zauberei ihren Lebensunterhalt verdienten:

 

Es war aber ein Mann mit Namen Simon, der zuvor in der Stadt Zauberei trieb und bezauberte das samaritische Volk und gab vor, er wäre etwas Großes. Und sie sahen alle auf ihn, beide, klein und groß und sprachen: Der ist die Kraft Gottes, der da groß ist. Sie sahen aber darum auf ihn, daß er sie lange Zeit mit seiner Zauberei bezaubert hatte. [Simon ist beeindruckt von der magischen Kraft des Apostels Philippus und wird getauft.] … Da aber Simon sah, daß der heilige Geist gegeben ward, wenn die Apostel die Hände auflegten, bot er ihnen Geld an und sprach. Gebt mir auch die Macht, daß, so ich jemand die Hände auflege, derselbe den heiligen Geist empfange. Petrus aber sprach zu ihm: Daß du verdammt werdest mit deinem Geld, darum daß du meinst, Gottes Gabe werde durch Geld erlangt! … Denn ich sehe, daß du bist voll bittrer Galle und verknüpft mit Ungerechtigkeit. (Apostelgeschichte 8,9 – 24)

 

Simon, ein guter Zauberer, wusste, wann er geschlagen war. Von höchster Angst ergriffen, bat er Petrus, den ihm offenkundig Überlegenen, »dass der keines über mich komme, davon ihr gesagt habt«.

Auch die folgende Episode aus der Apostelgeschichte, diesmal Paulus betreffend, veranschaulicht die Situation. Paulus ging nach Ephesos und machte sogleich von sich reden, als seine Kräfte, Wunder zu bewirken, das heißt, im Besitz magischer Kräfte zu sein, der Bevölkerung bekannt wurden. Mit Gegenständen wie einem Tuch oder Kleidungsstück, die er nur berührt hatte, wurden Krankheiten geheilt und böse Geister ausgetrieben. Andere jüdische Wundertäter, die versuchten, es ihm nachzutun und an seine Erfolge anzuschließen, riefen wie Paulus den Namen Jesu an. Es waren dies sieben Söhne eines jüdischen Hohenpriesters. Aber ein böser Geist, den sie austreiben wollten, sagte zu ihnen: »Jesum kenne ich wohl, und von Paulus weiß ich wohl; wer seid ihr aber?« Und der vom bösen Geist Besessene griff die Söhne an und schlug sie blutig. Dieser augenfällige Beweis für die Kraft des Namens Jesu trieb viele dazu, sich taufen zu lassen (Apostelgeschichte 19,11 – 20), denn die Wirksamkeit eines Zauberers wurde an seiner Erfolgsrate gemessen. Paulus hatte Erfolg, was viele im Volk von seiner übernatürlichen Kraft überzeugte; die »sieben Söhne eines Juden Skevas« blieben erfolglos und waren somit diskreditiert. Auch zahlreiche andere Magier erkannten die Kraft des Paulus an und verbrannten sogar ihre wertvollen magischen Lehrbücher, denn seine Kraft hatte sich als größer erwiesen. An all diesen Begebenheiten in der Apostelgeschichte lässt sich ablesen, wie verbreitet der Glaube an die Kraft des Übernatürlichen und an die vielen Männer und Frauen war, die behaupteten, über diese Kraft zu verfügen.

Einen anderen Weg, Sorgen und Nöten zu begegnen, bot die Religion. Man hatte die Auswahl aus einer breiten Palette religiöser Aktivitäten. Es gab die traditionellen, kaum mehr bewussten täglichen Riten wie das Ausgießen einiger Tropfen der Opfergabe an die Götter des Hauses vor einer Mahlzeit. Es gab die religiösen Feste, an denen in der Mitte des heiligen Tages dieses oder jenes Gottes Bankette oder Vergnügungen oder auch einfach ungehemmtes Verhalten angesagt waren, ein wesentliches Element im Kult der betreffenden Gottheit oder Gottheiten. Diese Art der Religiosität war auf die hohen lokalen oder staatlichen Gottheiten ausgerichtet. An Feiertagen wurden die lokalen Götter wie auch das Volk festlich bewirtet; ausgesuchte Opfer wurden dargebracht und zu Ehren des Gottes oder der Göttin oft Volksbelustigungen ausgerichtet.

Daneben half eine praktische Religiosität, der Einsatz eines Priesters oder Propheten oder Wahrsagers, bei der Lösung dringlicher Probleme. Leute, die von sich behaupteten, die Zukunft voraussagen zu können, waren in jeder Stadt zu finden. Cicero, Sohn der Elite, schreibt: »… er [der Aberglaube] setzt dir zu, bedrängt und verfolgt dich, wie du dich auch drehst und wendest: ob du nun einen Seher oder eine Weissagung hörst, ob du ein Opfer vollziehst oder einen Vogel vor Augen hast, ob du einen Astrologen oder einen Weissager siehst, ob es blitzt oder donnert« (De DivinationeOrakelkunst und Vorhersage 2,149). Der Grund für die große Zahl an Wahrsagern war ein tiefes Bedürfnis, dem Weltgeschehen einen Sinn zu geben und zwischen der Unstimmigkeit der persönlichen Welt und deren Verletzungen durch die Außenwelt einen Ausgleich zu schaffen. Man war sich einig, dass die Zukunft bereits festlag und darum auch vorausgesagt werden konnte, dass Prophezeiung und Vogelschau und andere Mittel, diese Kenntnis zu gewinnen, wahr und wirksam seien. Besonders gern nahm man Zuflucht zur Traumdeutung, wo Fachkundige wie Artemidor bereitstanden, der nicht nur seine Dienste anbot, sondern die Deutungen auch in einem Buch festhielt. Männer wie Dorotheos von Sidon verfassten Bücher über Astrologie. Es gab auch Mittel zur Selbsthilfe wie Ouija-Bretter, die leicht verfügbar und zudem erschwinglich waren.

In der Welt der gewöhnlichen Römer ging man den komplexen religiösen Fragen nur selten nach. Man war sich einig, dass es in der Welt übernatürliche Mächte gab. Da die religiösen Schaltstellen funktionierten, herrschte auch Einigkeit darüber, dass man zu diesen Mächten durch Opfer und Gebet, Anrufung und Magie Zugang finden konnte. Wenn eine Abmachung getroffen war und eingehalten wurde, war eine Gegenleistung zugunsten des Bittgängers zu erwarten. Es zählte, was man tat und was Ergebnisse zeitigte. Den Schlüssel zum göttlichen Beistand besaß, wer die gebotene Handlung auf die gebotene Art und Weise ausführte. Weder ein Glaube noch die Befolgung eines Moralkodex waren nötig, um sich der Gunst des Gottes zu versichern. Aus diesem Grund wurde in den Bars oder Straßen nicht über Dogmen diskutiert; der Beweis für die Macht einer Gottheit lag in ihrer Fähigkeit, Ergebnisse in Echtzeit zu liefern. Das zeigt sich beispielhaft im Neuen Testament, wo es bei den vielen Auseinandersetzungen um Magie nur darum geht, wessen Zauberkunst die wirksamste ist, und nie um die Philosophie oder Theologie des Praktizierenden.

Zu größeren Zusammenstößen kam es nicht aus theologischem Anlass, sondern dann, wenn die Macht einer besonders verehrten Gottheit in Frage gestellt oder geschmäht wurde. Beleg dafür ist ein anderes Erlebnis des Paulus in Ephesos. Der Tempel der Artemis, die bei den Römern Diana hieß, war weithin bekannt und eine beliebte Votivstätte. Ein Silberschmied namens Demetrius und seine Kollegen machten mit Herstellung und Verkauf von silbernen Abbildungen des Tempels große Gewinne. Dieser Handwerker traf Maßnahmen, um sein Gewerbe zu schützen: Er fachte den Zorn seiner Kollegen an, indem er darauf verwies, dass Paulus viele Menschen überzeugte, sich vom Polytheismus abzuwenden. Die Gefahr, so sagte er, bestand nicht nur darin, dass Artemis selbst herabgewürdigt wurde; auch der Handel mit Votivtafeln würde austrocknen. Mit dem Ruf: »Groß ist die Diana der Epheser!« hetzte der wilde Haufen gegen Paulus. Die Menge spürte zwei Gefährten des Paulus auf, trieb sie zum Theater und wollte sie wegen Lästerung der Göttin verurteilen lassen (Apostelgeschichte 19,23 – 34). »Groß ist die Diana der Epheser!« war für sie kein theologisches Argument. Es war die einfache Bekräftigung nicht nur der Existenz, sondern auch der Macht ihrer Göttin. Jeder, der diese Wahrheit bezweifelte, war ein Feind. Die Vorstellung von einem Zusammenhang zwischen moralischem Verhalten und der Gunst der Götter hatte, vermittelt durch stoisches Denken, in der Elite zwar eine gewisse Geltung erlangt, aber es gibt kaum Hinweise darauf, dass dieses Denken bis in die Schichten drang, die weiterhin ihren grundsätzlich einleuchtenden und befriedigenden religiösen Überzeugungen anhingen. Diese beruhten auf der Wirksamkeit übernatürlicher Mächte, die engagiert werden konnten, um die praktischen Probleme des Alltags zu lösen, von Krankheiten über Liebesenttäuschung bis zur Rache an Feinden und Rivalen. Der Angriff auf die Existenz einer Gottheit schwächte ein wesentliches Hilfsmittel der gewöhnlichen Menschen zur Lösung ihrer Alltagsprobleme.

Wenn die Anstrengungen, sich der Kraft des Übernatürlichen als Lebenshilfe zu versichern, einmal vergeblich blieben, waren die Menschen nicht sonderlich enttäuscht. Allgemein herrschte die Überzeugung, dass bei einem Scheitern der Anrufung oder eines Opfers der Fehler im Prozess des Rituals zu suchen war, nicht im grundsätzlichen Funktionieren der magisch-religiösen Welt – entweder war das falsche Zaubergebet gesprochen worden oder es war nachlässig gesprochen worden oder die Kleidung war falsch gewesen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass das Vertrauen in Religion und Magie in dem hier behandelten Zeitabschnitt, ja im Verlauf der gesamten Antike abgenommen hätte.

Alltagssorgen

Da die gewöhnlichen Römer ihr Leben an allgemeinen Moralvorstellungen und übernatürlichen Kräften orientierten, konnten persönliche Probleme ihr Leben jederzeit in Aufruhr bringen. Sie lebten in einer Welt voll möglicher und tatsächlicher Veränderungen. Ihr Schicksal konnte sich zum Besseren oder Schlechteren wenden. Die natürliche Reaktion auf das Leben in einer Welt unbeherrschbarer physischer und sozialer Bedrohung des Überlebens – und des Glücks – war Besorgnis und, so möglich, Aktivität. Angesichts der unterschiedlichen Machtverteilung, der stark hierarchischen Sozialstruktur und der Unberechenbarkeit von Witterung, Gesundheitszustand und Naturkatastrophen vertraute das Volk auf Möglichkeiten jenseits der Ratio, wenn es darum ging, die Zukunft vorauszusagen und sie solchermaßen zu bewältigen. Zwar nutzte auch die Oberschicht Traumdeuter und Astrologen zur Lösung ihrer Probleme, doch spiegelt sich sowohl im Carmen Astrologicum als auch in Artemidors Traumbuch eindeutig das Denken ganz gewöhnlicher Männer und Frauen.

Als nützliches Mittel zum Umgang mit Lebensfragen bieten diese Handbücher wertvolle Einblicke in die alltäglichen Sorgen der Menschen. Das beherrschende Thema beider Werke sind – wenig überraschend – die Launen des Schicksals. Die Ratschläge, Deutungen und Voraussagen enthüllen Entscheidendes für Erfolg oder Scheitern und umfassen Themen wie Tod, Krankheit, Finanzprobleme, Ehe und Familie und Gefahren beim Reisen. Sie betreffen ferner die Gewalt im Alltagsleben, gespannte zwischenmenschliche Beziehungen und Rechtsgeschäfte. Der Schwerpunkt liegt auf den kleinen Problemen des täglichen Einerlei; bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit erhalten Ereignisse, die man »große« Katastrophen nennen könnte. Bei Artemidor findet sich ein einziger Hinweis auf »das Herannahen von Feinden, Unfruchtbarkeit und Hungersnot« (Traumbuch 2,9). Die Vorgänge, die im Zentrum der Geschichtsschreibung standen – Kriege und Gerüchte über Kriege, Katastrophen und politische Manöver der Elite – beschäftigten die Normalbevölkerung wenig oder gar nicht.

Einblicke erlauben des Weiteren die magischen Papyri. Der Tod, im Traumbuch das durchgehende Thema, wird dort kaum erwähnt. Dem Sensenmann kann Zauber offenbar nichts anhaben, es sei denn indirekt, durch Heilung von Krankheiten. Auch Familienbeziehungen, die bei Artemidor häufig Thema sind, finden in den Anrufungen der Papyri bis auf gelegentliche Verweise kaum Erwähnung. Im Übrigen werden im Carmen und in den Traumdeutungen Artemidors häufig dieselben Probleme aufgegriffen wie in den magischen Papyri: Krankheit und finanzieller Erfolg, Erfolg in Rechtsstreitigkeiten und die Stellung des Einzelnen in den Augen der anderen. Zusammen vermitteln die drei Quellen einen guten Eindruck von den Alltagssorgen des durchschnittlichen Römers.

Obwohl Freud und Leid ungleich verteilt und weit mehr Schlimmes als Gutes zu erleben ist, findet sich hie und da auch die Erwähnung freundlichen Geschicks. Das Carmen nennt als gutes Geschick: »Reichtum und Preis« für Männer, »wohlhabend, reich, mächtig in Geschäften, groß im Wohlergehen, im Besitz von Ansehen und Vermögen und es vermehrend«, »Vermögen, Ansehen, Lob, Preis und ein guter Lebensunterhalt«. Auch wenn es scheinen könnte, als seien damit mehr die Gipfelpunkte eines normalen »guten Geschicks« beschrieben als die Erfahrungen der meisten, so darf man mutatis mutandis doch annehmen, dass auch für den gewöhnlichen Zeitgenossen ein gewisser Wohlstand, geschäftliche Erfolge und gutes Ansehen bei Nachbarn, Freunden und Partnern ein »gutes Geschick« darstellte. An anderer Stelle sind im Carmen als gutes Geschick für Männer auch eine schöne und treue Gattin, gute Freunde und Sieg über die Feinde erwähnt, für Frauen eine gute Gesundheit und ein makelloser Ruf. Auf all das setzt wohl jedermann seine Hoffnungen, aber die Literatur der Zukunftsdeutung verbreitete sich weit mehr über die Möglichkeiten, dass solche Guttaten des Schicksals in dieser oder jener Hinsicht ausbleiben. Was nicht überrascht, denn »Menschen ohne Sorgen bedürfen nicht der Weissagekunst« (Traumbuch 3,20).

Die größte Sorge gilt dem Tod. Das Carmen enthält eine lange Liste von – fast immer qualvollen – Todesarten; der Tod wird auch in anderem Zusammenhang mehrfach erwähnt. Bei Artemidor sind Tod, Kummer und Trauer die Ereignisse, die mit Abstand am häufigsten genannt werden. Es kann sich um den eigenen Tod handeln oder um den eines nahestehenden Menschen, eines Familienangehörigen oder Freundes. Die Allgegenwart des Todes als beherrschende Quelle menschlicher Kümmernisse ist bemerkenswert. Sehr viele Kinder starben im Alter von unter zehn Jahren; die Hälfte der Bevölkerung wurde nicht älter als zwanzig; die Lebenserwartung lag unter fünfzig – doch die »Normalität« des Todes im Licht der Statistik war ganz offenkundig kein Trost, die Menschen beklagten sie unaufhörlich. Es sollte allerdings nicht der Eindruck entstehen, und das gilt auch für die Probleme, die im Folgenden zur Sprache kommen, dass die Römer in ständiger Angst, hier vor dem Todesengel, jammerten und Trübsal bliesen. Aber der Tod war so nah, so unvorhersehbar und für die Lebenden ein so unbarmherziger Schlag, dass es nicht überrascht, wenn er ihre Gedanken beherrschte.

Auch Krankheiten waren ein ständiger Gegenstand der Sorge. Trotz oder wegen der Qualität der damals verfügbaren pflanzlichen und medizinischen Heilmittel waren Krankheiten, die leicht zu empfindlicher Schwäche oder zum Tod führen konnten, eine permanente Bedrohung des Wohlbefindens.

Beispiele für Krankheiten finden sich bei Artemidor ebenso häufig wie Verweise auf den Tod, und natürlich ist beides oft miteinander verknüpft:

 

… vermag man aber nicht hinauszugehen oder findet man nicht den Ausgang in seinem Haus oder in dem, wo man sich aufzuhalten glaubt, so prophezeit das Leuten, die ein Reise planen, Hindernisse, denen, die etwas unternehmen wollen, Schwierigkeiten, einem Leidenden langwierige Krankheit und einem seit langem Bettlägrigen den Tod. (Traumbuch 2,2)

 

Auch im Carmen ist Krankheit als Schicksal präsent. Ein Beispiel:

 

Steht Saturn im Quadrat des Mars, während Saturn im 10. Zeichen steht, wird der wenig medizinische Behandlung haben, sein Körper wird schwach sein und durch Fieber unaufhörlich von Krankheit betroffen, er wird zittern … (Carmen 2,15)

 

Oder:

 

Wenn Saturn und Mars im selben Zeichen sind, und der Mond ist zwischen ihnen, dann wird dieses Landeskind ein Leprakranker sein, und Krätze und Juckreiz werden ihn befallen. (Carmen 4,1)

 

Zwar hatte der normale Römer sein Auskommen, doch beschäftigte ihn die Frage, ob ihm weiterer Besitz zufallen und sein Leben verbessern würde oder ob weniger Ertrag und damit die Gefährdung seiner Existenz in Aussicht stand. Die Bandbreite der Verdienstmöglichkeiten war natürlich beträchtlich. Artemidor führt die verschiedensten auf: vom Arbeiter, Seemann, Handwerker und Gastwirt bis zu Beschäftigungen, die wohl Händler und Großhändler bezeichnen.

An oberster Stelle auf der Wunschliste stand finanzieller Erfolg. Wohl sagt Artemidor: »ein reicher Schatz … prophezeit Kummer und Sorgen« (Traumbuch 2,59) und: »der Reiche muss großen Aufwand treiben und hat mit Anschlägen und Neid zu rechnen« (Traumbuch 4,17), aber darin zeigt sich nur ein Stück Populärphilosophie oder der Mythos vom unglücklichen Reichen, der bei den gewöhnlichen Menschen aller Jahrhunderte beliebt war. Schneller Reichtum war kaum zu erhoffen. Es gab nur wenig Gelegenheit, die eigene wirtschaftliche Lage mit einem Schlag erheblich zu verbessern. Aber wer hart arbeitete, konnte Erfolg haben; wie vielen das gelang, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis. Artemidor erzählt vom Sohn eines Bauern, der es bis zum Schiffsherrn brachte und sogar zu denen gehörte, die sich »einen Namen gemacht haben« (Traumbuch 5,74). Eine ähnliche Geschichte erzählt ein Bauer aus Maktar (Tunesien), der, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, bis zum lokalen Magistraten aufstieg:

 

Ich wurde in eine arme Familie geboren. Mein Vater hatte weder Besitz noch ein eigenes Haus. Seit dem Tag meiner Geburt habe ich immer mein Land bearbeitet; weder ich noch mein Land haben jemals geruht. Wenn die Erntezeit kam und das Korn reif war, war ich der Erste, der seine Halme schnitt. Wenn die Scharen der Erntearbeiter aufs Land kamen, die sich um Cirta herum verdingen, die Hauptstadt der Numidier, oder in der fruchtbaren Ebene des Jupiter, dann war ich der Erste, meine Felder zu ernten. Dann verließ ich mein Land und brachte zwölf Jahre lang unter brennender Sonne für andere Männer die Ernte ein. Elf Jahre führte ich eine Schar von Erntearbeitern an und erntete Getreide auf den Feldern der Numidier. Durch meine Arbeit und weil ich mit wenig auskam, wurde ich endlich Besitzer eines Hauses und Landguts. Heute entbehre ich nichts. Ich bin sogar zu Ehren gekommen: Ich wurde als Magistrat meiner Stadt registriert, und meine Kollegen haben mich gewählt, mich, der sein Leben als armer Bauer begann, Zensor. Ich habe meine Kinder und Enkel zur Welt kommen und aufwachsen sehen. Ich habe ein untadeliges Leben geführt, verdientermaßen von allen geehrt. (CIL VIII 11 824 = ILS 7457)

 

Der Erfolg dieses Mannes ist eindrucksvoll, war aber keineswegs einzigartig. Artemidor deutet das Traummotiv des großen Kopfes:

 

Träumt man, einen großen Kopf zu haben, so bringt das einem Reichen, der noch kein politisches Amt bekleidet hat, ferner einem Armen, einem Athleten, einem Gläubiger, einem Bankier und einem Eranarchen [Eintreiber von Vereinsbeiträgen] Glück. Dem ersten prophezeit es ein hohes Amt, das ihn verpflichtet, einen Ehrenkranz oder eine Priester- oder Stirnbinde zu tragen, … Einem Gläubiger, einem Bankier und einem Eranarchen verspricht es höhere Geldeinnahmen. So verweist die ungewöhnliche Größe des Kopfes auf diese Dinge. (Traumbuch 1,17)

 

Einige hatten Erfolg, doch Sorgen hatten alle. Da waren an erster Stelle die Schulden. Von Schulden ist im Carmen die Rede, auf Schulden und Schuldner wird auch von Artemidor häufig verwiesen. Das deutet auf die verbreitete Aufnahme von Darlehen hin. In den von Artemidor beschriebenen Träumen kommen zum Beispiel Wucherer vor, die eine Hypothek auf ein Schiff halten, ebenso wie ein Handwerker, der seiner Schulden wegen Werkstatt und Stadt verlassen muss. Für Kredite zur Begleichung der Steuern oder zur Kapitalbeschaffung wurde Land als Sicherheit gegeben, und die Schuldner befürchteten, dass es bei Zahlungsunfähigkeit verlorengehen könnte. Das Schreckgespenst gescheiterter Geschäftsunternehmen ist ein ziemlich häufiges Traummotiv. Ein Beispiel betrifft einen Parfümhersteller, der »sein Geschäft verlor«, wie Artemidor es ganz sachlich formuliert. Daneben gab es die Arbeitslosigkeit, auch sie ein verbreitetes ökonomisches Übel, das häufig erwähnt wird. Hier scheinen nicht die Tagelöhner gemeint zu sein, da man annehmen kann, dass sie des Öfteren ohne Beschäftigung waren, sondern vielmehr Händler und Handwerker, deren Arbeit in normalen Zeiten als relativ sicher erscheinen könnte. Wir wissen aus anderen vorindustriellen Gesellschaften, dass Unterbeschäftigung die Regel ist. Dass die Angst vor Arbeitslosigkeit so oft auftaucht, weist darauf hin, dass in der römischen Normalbevölkerung viele Männer ohne Arbeit oder nur unzureichend oder in Teilzeit beschäftigt waren. Auch für einen erstklassigen Handwerker und selbst für einen Schiffsbesitzer war Arbeit keineswegs garantiert. Die Möglichkeit der Arbeitslosigkeit hatte wohl jeder ständig vor Augen.

Im Geschäftsleben konnte es außerdem jederzeit zum Streit mit Teilhabern und Geschäftspartnern kommen. Diese Befürchtungen sind im Carmen angesprochen, ebenso wie der heikle Umgang mit den lokalen Beamten, vor allem den Marktaufsehern, deren Stellung es ihnen erlaubte, einen Geschäftsmann zu schikanieren. Bei Artemidor heißt es:

 

Denn selbst wenn er [der Geschäftsmann] seine Pflichten erfüllt und Ausgaben macht, die ihm nichts einbringen, wird ihm das in jedem Fall Kritik eintragen, denn mit dieser hat der Marktaufseher nun einmal zu leben. (Traumbuch 2,30)

 

Kleinere Schikanen gehörten zum Leben und konnten sich zur offenen Korruption auswachsen wie in der Episode der Satyrica (15), in der lokale Beamte versuchen, gestohlenen Besitz an sich zu bringen, die Eigentümer mit der Androhung einer Strafverfolgung einschüchtern und die Artikel dann zum eigenen Profit verkaufen.

Breiteren Raum als Geschäft und Reisen nehmen im Carmen nur Fragen rund um die Familie ein. Für die Männer war die Ehe, waren Kinder und Verwandte von größter Wichtigkeit. Der Astronom und Astrologe Dorotheos von Sidon legt in aller Ausführlichkeit dar, was die Himmelskarten zu den Aussichten und zur Zukunft von Ehen zu sagen haben. Welche Art Ehemann wird er abgeben? Und sie – welche Art Gattin? Wird der Mann unter seinem Stand heiraten, zum Beispiel eine Sklavin oder Prostituierte, oder findet er eine Frau aus guter Familie? Wird ein Verwandter geheiratet? Wird die Person, deren Schicksal anhand der Himmelskarten erkundet wurde, mehrmals heiraten? Selten erwähnt ist romantische Liebe. Wenn es um Frauen geht, wird vielmehr mit Nachdruck ihre sexuelle Beherrschung betont. In den magischen Papyri handelt eine überwältigende Mehrheit von Zaubersprüchen und Anrufungen von der Durchsetzung der (offenbar widerwilligen) sexuellen Unterwerfung einer Frau. In nur einem Fall geht es dabei ausdrücklich um eine eheliche Beziehung. Bei allen übrigen scheint es sich um eine nicht näher definierte Beziehung oder um Ehebruch zu handeln. Der Sexualtrieb war also für den gewöhnlichen Römer von großer Bedeutung. In Anbetracht der Tatsache, dass die magischen Papyri so viele Zauberformeln und Anrufungen enthalten, um die Zuneigung der Frauen zu erwirken, ist es erstaunlich, dass sexuelle Anziehungskraft nicht auf der Liste der Männer steht, die sich von der Stern- und Traumdeutung Rat erhofften. Im Carmen ist Erfolg in der Liebe (was immer das in wechselndem Kontext bedeuten mag) kein Thema. Bei Artemidor wird zwar in einigen Träumen das Liebesleben einer Frau oder eines Mannes gedeutet – etwa dass »von irgendeinem Bekannten an der Brust verwundet zu werden … jungen Leuten beiderlei Geschlechts Liebesleidenschaft offenbart« (Traumbuch 1,41) –, aber das bleibt sehr selten. Es gibt Bezugnahmen auf die Liebe von Ehefrauen, auf Konkubinen, auf Prostituierte und Ausschweifungen, aber es fehlt jede Beschäftigung mit Empfindungen, die wir als Gefühl der Liebe an sich verstehen würden. Anscheinend ist der Gedanke an »romantische Liebe« ein Luxus, den sich Männer nicht leisten können – ihr Interesse ist sehr viel konkreter. Ist »Liebe« Teil des Lebens eines Mannes, schön und gut – vorrangige Bedeutung hat sie jedoch nicht. Weit mehr interessieren ihn die Realien der »Liebe«, zum Beispiel, ob er zu einer Frau, die er liebt, Zugang findet, oder, persönlicher gefärbt, ob er impotent sein wird (»bei den Handlungen Aphrodites wird ihm keine Freude zuteil«) oder vielleicht sexbesessen: In einem Geburtshoroskop werden beiden – Männern und Frauen – Exzesse beim Geschlechtsverkehr vorausgesagt.

Eine glückliche Ehe ist zwar möglich, doch wird sie überschattet von zahlreichen Gegenbeispielen. Den häufigen Klagen über eine von Streitsucht geplagte Ehe verleihen die vielen Grabinschriften Nachdruck, auf denen glücklich verheiratete Paare kundtun, »ohne Streit« gelebt zu haben, ein manchmal vielleicht allzu beflissenes Bekenntnis, das zumindest bestätigt, dass in der Ehe ein friedliches Miteinander gesucht wurde. Dem guten oder schlechten Verlauf der Ehe ist in Artemidors Werk ein ganzer Teil gewidmet. Notwendige Voraussetzung für ein gutes eheliches Zusammenleben sind »Einmütigkeit und Liebe«, doch ist es auch ohne weiteres möglich, dass ein Partner den anderen beherrscht wie ein Herr seine Sklaven. Nur gelegentlich ist ein uneingeschränkt positives Ehedasein vermerkt, etwa wenn Artemidor Attraktivität, Treue, die Kunst des Haushaltens und Gehorsam gegenüber dem Gatten als weibliche Stärken angibt (Traumbuch 2,32).

Zwei Punkte stehen bei der Ehe im Vordergrund: vornehmlich die Frage, ob die Ehe Bestand haben wird. Befürchtet wurden offenbar sowohl weibliche wie männliche Zügellosigkeit und sexuelles Fehlverhalten, ein Thema besonders im Carmen, aber auch bei Artemidor, wo freizügige Ehefrauen wiederholt erwähnt sind. Zentral sind außereheliche Beziehungen beider Partner in vielen Horoskopen. Vielfach werden Bedenken geäußert, dass der Ehemann ein Schürzenjäger sein könnte (was eindeutig nicht als gegeben hingenommen wurde). Von einer guten Ehefrau erwartet man Treue, aber die Furcht vor der losen, ausschweifenden Frau herrscht vor. Laut Artemidor »hat der Ehemann die Aufsicht und Autorität über den Körper« seiner Frau; er »überwacht und regiert« sie. Wenn sie auf Abwege gerät, ist das also auch katastrophal für Reputation und Stellung des Mannes. Auch Horoskope und Traumdeutungen zeichnen das Bild treuloser, sexuell enthemmter Frauen, wie sie detailliert in Apuleius’ Roman geschildert sind. Was auch immer davon der Realität entsprach, der normale Römer war um die Treue der Gattin (und sie um die seine) offensichtlich sehr besorgt.

Grund zur Sorge waren auch die sexuellen Beziehungen in der Ehe oder vielmehr das Verhalten der Frauen als Sexualpartnerinnen. Ist die Frau »begierig auf Verkehr«, weist dieses Verhalten laut dem Carmen auf »Zügellosigkeit und Laster« hin. Eine tugendhafte Frau »vollzieht den Akt der Aphrodite nicht auf unnatürliche Weise«. Oralsex mit der Ehefrau ist ebenso wenig geduldet wie Fellatio. Vermutlich geht es hier darum, dass Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau nicht zu verwechseln sei mit der beiläufigen sexuellen Befriedigung durch eine Sklavin oder Prostituierte. Besorgnis weckt auch die Vorstellung, die Ehefrau könnte Lesbierin sein. Artemidor denkt großzügiger als der Autor des Carmen. Die Ehefrau sollte sich zwar unterwerfen – »Wie nun der Mann beim Verkehr nach Aphrodites Gesetz ganz und gar Herr über den Körper der Beischläferin ist« (Traumbuch 1,79) –, aber auch sie hat das Recht, den Liebesakt zu genießen: »Seiner eigenen Frau beizuwohnen, wenn sie einwilligt, dazu Lust hat und sich gegen den Verkehr nicht sträubt, ist für alle ohne Ausnahme gut.« Es ist aber durchaus möglich, dass die Ehefrau nur »mit gewissem Widerstand« nachgibt – und das gilt nicht als gut (1,78). Im Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau wird die Stellung »Leib an Leib« als »der natürlichen Ordnung« entsprechend bezeichnet (1,79); als weitere Positionen werden genannt: a tergo und im Stehen (»nur Leute, die weder Bett noch Matratze besitzen, sind auf diese Stellung angewiesen«), die Variante, bei der die Frau kniet oder liegt, und die Reitstellung. Alle Positionen außer der »natürlichen« wurden »aus Übermut, Zügellosigkeit und Unbeherrschtheit ersonnen« (1,79). Die Sicht der Frau gilt dabei als nebensächlich. Erwünscht ist also eine Ehe, in der beide Partner treu sind und die Frau in der sexuellen Beziehung passiv und verhalten bleibt – nicht »die Hure spielt«.

Des Weiteren wurde befürchtet, die Ehe könne böse enden, sogar mit einem Mord, etwa wenn eine Frau ihren Mann vergiftet. Vielfach werden profanere Möglichkeiten des Scheiterns, die Scheidung oder das Verlassen des Partners, erwähnt. Dass eine Frau das Haus ihres Ehemanns verlässt, ist ein häufiges astrologisches Szenario, kann also wohl als allgemeine Befürchtung gelten. Dasselbe gilt für die Scheidung. Vermutlich verband sich mit dieser Sorge der Gedanke an den Verlust der Mitgift, die im Besitz der Frau blieb. Eine Mitgift war üblich.

Die Summe einer erfolgreichen Ehe scheinen Kinder zu sein. Grund zur Sorge sind Horoskopen zufolge Unfruchtbarkeit, die Zahl der Kinder und die Frage, ob es »gute Kinder« werden. Männliche Nachkommen werden bevorzugt; in Träumen »sind Knaben von guter, Mädchen von übler Vorbedeutung« (Traumbuch 4,10), aber es gibt keinen Hinweis auf Kindsmord, Abtreibung oder Verhütung. In der Tat ist es ein großes Leid und Missgeschick, keine oder nur wenige Kinder zu haben.

Die Kinder unterstehen der uneingeschränkten Kontrolle des Vaters. Die Beziehung kann gut oder schlecht sein, erwartet wird, dass sie gut ist und dass die Eltern für eine angemessene Erziehung und für das spätere Erbe der Kinder sorgen. Die Beziehungen zwischen den Generationen sind oft angespannt – die Eltern befürchten, dass die Kinder elterliches Eigentum und Kapital verschwenden und dass nichts aus ihnen wird. Man ist besorgt um die Kinder und um ihre Entwicklung, besonders um die der Knaben. Auch hier zeigt die Streitsucht ihr hässliches Gesicht – Kinder geraten leicht in Streit, mit misslichen Folgen für die Familie. Über die Kernfamilie hinaus, auf die sich die Zeugnisse offenbar sämtlich beziehen, und bis hinein in die Großfamilie ist Zank ein Thema. So entsteht der Eindruck, dass die Familie des gewöhnlichen Römers ein Ort der Auseinandersetzung war.

Oben war von der Rolle der Sexualität in der Ehe die Rede, aber die sexuelle Aktivität des gewöhnlichen Mannes muss noch unter einem allgemeineren Gesichtspunkt betrachtet werden. Zum männlichen Sexualleben gehörte der Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau zum Zweck der Reproduktion. Andere Aspekte sind dagegen schwieriger zu fassen. Die Quellen aus dem Kreis der Elite, vor allem Ovid, Martial und Juvenal, aber auch Schriften von Historikern, Rednern und Literaten fast jeglicher Art enthalten Material zum männlichen Sexualleben. Im Detail komplizierter, war das dominierende Männlichkeitsethos der Elite, in dem Herrschaft als Wert und Unterwerfung als Schande galt, grundsätzlich dadurch bestimmt, dass jeder Geschlechtsverkehr, ob homo- oder heterosexuell, als spezifische Spielart von Macht und Unterwerfung betrachtet wurde. Ob ein bestimmter Sexualakt akzeptabel war oder nicht, hing also weniger vom physiologischen Vorgang des Aktes selbst ab als von den Beteiligten und von der Rolle, die der Einzelne darin spielte. Man berücksichtigte die Akteure (männlich? weiblich?), ihren Status (Sklaven? Freie?), ihren Familienstand (unverheiratet? verheiratet?), die ökonomischen Gegebenheiten (bezahlt? gratis?), die biologische Absicht (zur Fortpflanzung?) und allem voran den Aspekt dominant/unterwürfig. Jeder sexuelle Akt wurde danach beurteilt, wie er sich ins System dieser »Spielregeln« einordnen ließ.

Innerhalb des Basismodells von Sexualität und Ehe stand Interessierten eine ganze Palette anderer sexueller Aktivitäten offen, vorausgesetzt, die Spielregeln wurden eingehalten. Hier ist vor allem die Besonderheit zu nennen, dass sich kein Personentyp oder eine »Identität« ausmachen lässt, die man als homo- oder heterosexuell bezeichnen könnte. Es gibt im Lateinischen nicht einmal ein Wort für »homosexuell« – ebenso wenig übrigens für »heterosexuell«. Wesentlich ist vielmehr, in den Begriffen bestimmter Handlungen und Situationen innerhalb einer Elitekultur zu denken, die die zentrale Bedeutung männlicher Vorherrschaft als Verhaltens- und Identitätsmuster für den Mann nie in Frage stellt.

Fragen lässt sich, ob dieses fluide Ethos auf den gewöhnlichen Mann anzuwenden ist. Auch er verstand den Sexualakt als Vorgang der Herrschaft oder Unterwerfung. Ein sehr lebendiger Beweis für diese Gleichsetzung von Männlichkeit und sexueller Gewalt sind die Schleudergeschosse. Soldaten, die diese eichelförmigen Bleiobjekte anfertigten, versahen sie mit eingeritzten Botschaften an den Feind. Einige dachten dabei nur an ein »Da hast du’s!« Viele andere aber benutzen eine sexuell gefärbte Sprache, um die Botschaft der Macht deutlich zu machen. Das bezeugt dieser glans (lateinisch für »Penis« wie auch für »Schleudergeschoss«), der aus dem Krieg gegen Octavian, den späteren Augustus, stammt: »Ich suche Octavians Arsch« (CIL XI 6721.7), eine der blumigeren Wendungen, die alle auf die Penetration als Symbol der Herrschaft abzielen. Die Sicht der männlichen Dominanz als Sexualmetapher ist hier die des einfachen Soldaten.

Die magischen Papyri bestätigen das Bild einer aggressiven männlichen Sexualität. Viele Zauberformeln und Anrufungen verfolgen den Zweck, Frauen zu unterwerfen, manchmal in der rabiatesten Form:

 

Herbeizwingender (Liebes-)Zauber mit einem Räucherwerk von Myrrhe. Räuchere über Kohlen und sag das Gebet her. … ›Du bist die Myrrha, die bittere, die schwere, … Alle nennen dich Myrrha, ich aber nenne dich Fleischfresserin und Versengerin des Herzens. … ich sende dich zur NN, der NN Tochter, damit du mir gegen sie dienest, damit du sie mir zuführest. Sitzt sie, so soll sie nicht sitzen, spricht sie mit einem, soll sie nicht sprechen, … geht sie zu einem, soll sie nicht gehn, … ißt sie, soll sie nicht essen, küßt sie einen, soll sie nicht küssen, … doch mich allein, den NN, soll sie im Sinne haben, mich allein soll sie begehren, mich allein soll sie lieben, meine Wünsche alle soll sie erfüllen. Geh nicht in sie ein durch ihre Augen, … und nicht durch ihre Glieder, sondern durch die Scham und verbleibe in ihrem Herzen und brenne ihre Eingeweide, ihre Brust, ihre Leber, ihren Atem, ihre Knochen, ihr Mark, bis sie kommt zu mir, dem NN, mich liebend, und erfüllt alle meine Wünsche, weil ich dich beschwöre, … auf daß du mir meine Aufträge ausführest, Myrrhe: so wie ich dich verbrenne und du wirksam bist, so verbrenne das Hirn der NN, die ich liebe, brenn es aus und reiß aus ihre Eingeweide, träufle ihr Blut aus, bis sie kommt zu mir …‹ (PGM IV 1497 – 1548)

 

Die brutalen Bilder entsprechen der Vorstellung vom aggressiven, dominanten Mann. Auch in den Theaterstücken des Plautus, in Apuleius’ Roman und in Petrons Satyrica sind die Männer auf Herrschaft aus. In diesen Werken ist überdies eine Welt dargestellt, in der homosexueller neben heterosexuellem Geschlechtsverkehr vorkommt und in der das elitäre System akzeptierten Verhaltens zu gelten scheint.

Neben diesem klaren Herrschaftskonzept als Lackmustest der Männlichkeit steht ein ebenso klares Konzept, dass die Praktiken, die man als Abweichung vom strikten Mann-auf-Frau-Verkehr bezeichnen könnte, in ihrer Gesamtheit inakzeptabel, um nicht zu sagen pervers oder gar krankhaft seien. Artemidor gibt unzweideutig zu verstehen, welche Vorstellung von Sexualität seinen Traumdeutungen zugrunde liegt, und vermutlich wäre das nicht der Fall, hätten die gewöhnlichen Römer diese Vorstellung nicht mehrheitlich geteilt. Wie erwähnt, gibt es seiner Auffassung nach beim Geschlechtsakt nur eine einzige »natürliche« Stellung:

 

Dass die Menschen alle übrigen Stellungen aus Übermut, Zügellosigkeit und Unbeherrschtheit ersonnen haben, die Natur sie aber nur eine einzige, nämlich Leib an Leib lehrte, kann man an dem Beispiel der anderen Lebewesen erkennen; alle Arten begnügen sich mit der ihnen zukommenden …, weil sie der natürlichen Ordnung entspricht. … So liegt es in der Natur der Sache, daß die dem Menschen artgemäße Stellung die von Leib zu Leib ist, während sie alle anderen aus Übermut und Zügellosigkeit hinzuerfunden haben. (Traumbuch 1,79)

 

An anderer Stelle erklärt er: »Verfinstert sich Helios, bringt er jedermann Unheil, außer denen, die verborgen bleiben wollen und im geheimen Verbotenes tun« (Traumbuch 2,36). Was aber hat man sich darunter vorzustellen? In der langen Reihe von Deutungen, die auf Träumen beruhen, bleibt kaum eine mögliche sexuelle Begegnung und Aktivität unerwähnt. Drei allgemeine Arten werden genannt: Erstens Geschlechtsverkehr, der natürlich, legal und üblich ist. Dazu gehört Sex mit der eigenen Frau, mit Prostituierten, mit »unbekannten Frauen«, mit den eigenen Sklaven oder Sklavinnen oder mit einer Frau, mit der man »intim bekannt« ist; zweitens illegaler Geschlechtsverkehr: das heißt mit jungen (fünf- bis zehnjährigen) Knaben oder Mädchen, mit dem eigenen Sohn, der eigenen Tochter oder eigenen Geschwistern, mit der eigenen Mutter, mit einem »Freund« (vermutlich ein freier Erwachsener) und drittens »unnatürlicher« Geschlechtsverkehr. Hierzu zählt er reichlich Seltsames wie den »Geschlechtsverkehr mit sich selbst«, »das Küssen des eigenen Penis«, Nekrophilie und Sodomie – aber, nota bene, keine homosexuellen Praktiken.

Ein klares Konzept dominant/unterwürfig lässt sich bei Artemidor nicht ausmachen. Einerseits gilt es als verwerflich, sich in einem Sexualakt beherrschen zu lassen; als Ausnahme nennt er den Traum von der Beherrschung durch einen reichen Mann, denn »von solchen Personen bekommt man gewöhnlich etwas« (Traumbuch 1,78). Andererseits sind selbst in der »beherrschenden« Stellung einige Praktiken wie die Fellatio, ausgeführt durch eine Ehefrau oder Geliebte, einen Freund, einen Verwandten oder ein Kind, zu tadeln. Artemidor verurteilt zwar auch den passiven Partner, der den Akt vollzieht, doch verheißt ein Traum in jeder der beiden Stellungen nichts Gutes.

Von Artemidor wird die Klassifizierung der Sexualakte durch die Elite also differenziert, zudem gilt für ihn die Norm: Sexualität zwischen Mann und Frau nur »Leib an Leib«. Die Fellatio. scheint zumindest für Ehefrauen und Freie verwerflich zu sein, und die »nicht-normalen« Positionen werden implizit kritisiert. Man gewinnt den Eindruck, dass Artemidor über die sexuellen Gewohnheiten seiner Zeitgenossen völlig im

Bild ist, aber genaue Vorstellungen davon hat, was daran »gut« und was »schlecht« ist. Sexualität in der Ehe wird in seinem Werk gutgeheißen, doch anders als die Oberschicht scheint er gleichgeschlechtlichen Verkehr, ob zwischen Männern oder Frauen, abzulehnen.

Weitere Informationen darüber, wie der gewöhnliche Mann Homosexualität beurteilte, finden sich im Carmen. In seinem Kapitel »Über Analverkehr«, das den größeren Teil über die Ehe ergänzt, geht es Dorotheos zweifellos nicht nur um die einzelnen Sexualakte, sondern um alle Personen, die gleichgeschlechtlichen Verkehr dem heterosexuellen gewohnheitsmäßig vorziehen. In einem Horoskop wird der Betreffende »nicht Frauen lieben, sondern an Knaben sein Vergnügen haben«; in einem anderen »wird sein Begehren nach Männern gehen«. Analog heißt es in einem weiteren Horoskop: »es zeigt an, dass sie Frauen begehren wird«, und für einen Mann: »er wird Männer begehren«. Und in einem dritten Fall: »ist es eine Frau, wird sie Lesbierin sein … ist es ein Mann, wird er Frauen nicht tun, wie er es sollte« (Carmen 2,7). Das Carmen ergänzt unser Verständnis also durch den Hinweis darauf, dass einige Männer (und auch einige Frauen) nicht nur vereinzelt homosexuelle Kontakte pflegten, sondern damit einer beständigen Vorliebe nachgingen.

Als letzter Einblick in das Thema Sexualität ist die Haltung des Apostels Paulus zu erwähnen. In einer Polytheistenschelte schreibt er:

 

… dieweil sie wußten, daß ein Gott ist, und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott noch ihm gedankt, sondern sind in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden und haben verwandelt die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein Bild gleich dem vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere. Darum hat sie auch Gott gegeben in ihrer Herzen Gelüste, in Unreinigkeit, zu schänden ihre eigenen Leiber an sich selbst, sie die Gottes Wahrheit haben verwandelt in die Lüge und haben geehrt und gedient dem Geschöpfe mehr als dem Schöpfer, der da gelobt ist in Ewigkeit. Amen. Darum hat sie Gott auch dahingegeben in schändliche Lüste; denn ihre Weiber haben verwandelt den natürlichen Brauch in den unnatürlichen; desgleichen auch die Männer haben verlassen den natürlichen Brauch des Weibes und sind aneinander erhitzt in ihren Lüsten und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihres Irrtums (wie es denn sein sollte) an sich selbst empfangen. (Römer 1,21 – 27)

 

Er fährt fort, ihre übrigen abscheulichen Fehler und Mängel aufzuzählen, doch wichtig ist die Feststellung, dass er den Polytheisten, milde gesagt, Aufgeschlossenheit für homosexuelle Akte attestiert. Damit ist weder gesagt, dass alle Römer der Homosexualität zuneigten, noch dass alle von ihnen bösartig, falsch, arrogant, herzlos u. s. f. waren – weitere Attribute, die er ihnen in diesem Abschnitt zuschreibt. Sicher aber ist gemeint, dass diese Praktiken ein fester Teil polytheistischer Kultur waren. Die Tatsache, dass Paulus sich dezidiert gegen Homosexualität ausspricht, lässt vermuten, dass seine Hörer seine Meinung teilten, zumindest aber von ihrer Notwendigkeit überzeugt werden konnten. Eine solche Auseinandersetzung kommt nicht von ungefähr. Paulus’ Briefadressaten und Hörer standen der Homosexualität entweder ablehnend gegenüber oder konnten leicht zu dieser Einstellung bekehrt werden. In Anbetracht der Zeugnisse Artemidors und des Carmen möchte ich annehmen, dass einem großen Teil der gewöhnlichen Menschen diese Haltung entgegenkam, weil derartige sexuelle Gewohnheiten und folglich auch diejenigen, die ihnen anhingen, als verächtlich galten.

Die Einstellung der Normalbevölkerung zur Sexualität ergibt also kein homogenes Bild. Offensichtlich gab es Männer, die dem sexuellen Verhalten ihrer Mitmenschen gleichmütig gegenüberstanden und es nicht mit dem größeren gesellschaftlichen Kontext, sondern, ganz im Sinn der Elite, nur mit individuellen Situationen verknüpften. Die Graffiti in Pompeji, Kritzeleien einer »exklusiven« Gruppe aggressiver Männer, passen in dieses Bild. Daneben gab es diejenigen, die eine maßvoll gelebte eheliche Sexualität zum Zweck der Fortpflanzung für das angemessene Modell hielten, die zwar Abweichungen unterschiedlichen Grades zugestanden, so vielleicht Sexualverkehr mit Sklaven entschuldigten, im Kern jedoch an ihren Wertvorstellungen festhielten. Dieser Aspekt kommt in dem soeben aufgeführten Material weit stärker zum Ausdruck. Das Bild ist komplex und sollte als solches akzeptiert werden, doch allgemein lässt sich sagen, dass gewöhnliche Bürger sich dem Modell der Ehe stärker verpflichtet fühlten und eher geneigt waren, homosexuellen Verkehr zu kritisieren, als der elitäre Zirkel ihrer Führungsschicht.

Dass Ehe und Sexualität die Normalbevölkerung beschäftigen, war zu erwarten. Einen eher unerwarteten Schwerpunkt in der Literatur der Astrologie und der Träume bildet das Reisen. Reisen waren nichts Außergewöhnliches. Man denkt sogleich an Vergnügungsfahrten, vielleicht zu Festspielen in kleinerer oder größerer Entfernung, an Geschäftsreisen oder Reisen unter Zwang. In Apuleius’ Roman finden sich alle drei Arten der Bewegung, und in astrologischen Texten sind die beiden Letzteren besonders breit belegt. Auch im Neuen Testament liest man von Menschen, die entweder aus geschäftlichen oder aus religiösen Gründen quer durchs Kaiserreich unterwegs sind. Doch Reisen war gefährlich. Schlechtes Wetter, Banditen und Piraten, Unfälle und unehrliche Beamte sind nur wenige von unzähligen Gründen. So liegt es auf der Hand, dass Reisen vor oder auch während des Unternehmens Grund zur Beunruhigung gaben. Ebenso eine längerfristige Emigration. Aus den vielen Inschriften, in denen eine Person als alienus (Nichtansässiger) bezeichnet ist, wissen wir, dass solche Wanderungsbewegungen sehr üblich waren. Außerdem machte man sich Sorgen um Verwandte im Ausland, einen Sohn zum Beispiel, und bangte um deren glückliche Rückkehr. Eine andere Dimension kam bei Reisen unter Zwang ins Spiel, denn man konnte verbannt werden – für den Normalbürger zwar kaum Gegenstand der Sorge – oder musste auf der Flucht vor Schulden notgedrungen sein Haus verlassen, oder man konnte als Verbrecher abtransportiert werden oder infolge einer Naturkatastrophe zum Ortswechsel gezwungen sein. Das beste Resultat des Reisens war wirtschaftlicher Gewinn, doch die Risiken der Schifffahrt, der Haupteinnahmequelle des Fernverkehrs, waren immens, ebenso die erforderlichen Investitionen (und oft auch Schulden). Reisen waren darum ein zentraler Grund zur Besorgnis.

Zu alldem galt es auch noch die Behörden im Auge zu behalten, um, wenn überhaupt möglich, einen Arrest zu vermeiden. Ein langer Abschnitt im Carmen berichtet über die Fesselung mit Ketten, und bei Artemidor sind zahlreiche Träume erwähnt, die sich auf das Schicksal von Kriminellen und Gefangenen beziehen: Verurteilung, Fesselung oder Kerker, die Aussicht auf Misshandlungen und Schläge oder Hinrichtung (Kreuzigung oder Enthauptung). Die Vertreter der Obrigkeit neigten ganz allgemein dazu, ihren Einfluss geltend zu machen, so dass man ihnen am besten aus dem Weg ging. Und da sie das Rechtssystem kontrollierten, war es von Vorteil, Verwicklungen zu vermeiden.

Recht, Verbrechen und Gewalt im Alltag

Der Literatur der Elite zufolge war das römische Recht die Grundlage der römischen Kultur. Wissenschaftler aller Jahrhunderte haben diesen Glaubenssatz wiederholt, obwohl sie die unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Bevölkerungssegmente in der Rechtsprechung zur Kenntnis nahmen. Der einfache Römer allerdings hatte andere, ablehnende Gedanken, wenn es um das Rechtssystem ging. Die folgende einfache Erklärung des Paulus sagt viel:

 

Wie darf jemand unter euch, so er einen Handel hat mit einem andern, hadern vor den Ungerechten und nicht vor den Heiligen? Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? So nun die Welt soll von euch gerichtet werden, seid ihr denn nicht gut genug, geringe Sachen zu richten? Wisset ihr nicht, daß wir über die Engel richten werden? Wie viel mehr über die zeitlichen Güter. (1. Korinther 6,1 – 3)

 

Paulus dringt darauf, Streitigkeiten innerhalb der Gemeinde beizulegen und nicht vor Gericht zu bringen. Darin zeigt sich das prinzipielle Misstrauen des Apostels gegenüber dem öffentlichen Gerichtshof, von dem er für seine Anhänger offenbar kein faires Verfahren erwartet. Obwohl Paulus’ Situation aufgrund des religiösen Elements als Sonderfall gelten könnte, gibt es doch zahlreiche andere Hinweise darauf, dass der gewöhnliche Römer das Rechtssystem fast systematisch mied. Überraschend ist das kaum: Das System des römischen Rechts war von der Elite geschaffen worden, und die Gesetze wurden zu ihren Gunsten ausgelegt. Zwar wurden gewisse Fälle des einfachen Volkes zweifellos angehört und behandelt; die Digesten enthalten Erlasse mit Bezug auf einfache Römer, etwa einen Bauarbeiter (4,65,2) oder einen Wohnungsmieter (4,65,3). Doch aus der Rechtsstruktur ergaben sich gravierende Hemmnisse.

Die amtlichen Hürden aber waren nur die Spitze des Eisbergs. In einer Welt, in der persönliche Beziehungen und Wohlstand den Zugang zu allem Begehrten verschafften, nahmen die Nachteile mit abnehmender Ranghöhe zu. Die Situation war zum Verzweifeln: Klagen kosteten Geld, und alles, was Klagen befördern konnte – der Beistand der Mächtigen, Unterstützung durch Gleichrangige, die Erwartung einer Gegenleistung –, konnte ebenso gut gegen den Betroffenen wie zu seinen Gunsten wirken. Der Jakobusbrief (2,6) nennt diese Realität beim Namen: »Sind nicht die Reichen die, die Gewalt an euch üben und ziehen euch vor Gericht?« Die innere Einstellung, die die amtlichen Hindernisse herbeiführte, wirkte zweifellos weit über diese Beeinträchtigungen hinaus. So kam es dazu, dass es für Personen von niedrigerem Status schwierig war, Höherrangige auf die Anklagebank zu bringen, und praktisch aussichtslos, einen solchen Prozess zu gewinnen, es sei denn, der Fall war dank Patronage durch einen mächtigen Schirmherrn zu einem Rechtskonflikt zwischen Gleichrangigen geworden. Aus Apuleius’ Hohn auf die »Gerechtigkeit« spricht ein vernichtendes Urteil über das ganze Rechtssystem:

 

Was wundert ihr euch also, ihr Hohlköpfe, vielmehr ihr Schafe vor Gericht, nein, ihr Geier in der Robe, wenn heutzutage alle Richter ihr Urteil für Geld verschachern? (Der goldene Esel 10,33)

 

Auch Petron bringt in einer Episode die offenkundige Ungerechtigkeit des Rechtssystems zur Sprache. Enkolpius und Askyltos, die Hauptfiguren, haben einen Mantel verloren, in dessen Saum Goldmünzen eingenäht sind. Sie entdecken diesen Mantel auf den Schultern eines armen Marktverkäufers und besprechen, wie sie ihn zurückbekommen können. Enkolpius ist dafür, den jetzigen Besitzer vor Gericht zu ziehen, um ihr Eigentum einzufordern. Askyltos »dagegen scheute … das Gesetzbuch« und widerspricht:

 

»Wer kennt uns hier, und wer wird überhaupt unseren Aussagen Glauben schenken? Ich bin entschieden dafür, daß wir kaufen, obwohl uns gehört, was wir als unser Eigentum erkennen, und daß wir lieber für ein paar Groschen unseren Schatz wieder an uns bringen als uns auf einen unsicheren Prozeß einlassen:

 

Wozu nützen die Gesetze,

wenn der Mammon nur regiert.

Wenn der kleine Mann der Straße

immer den Prozeß verliert?

Also ist ein Trödelladen

und nichts weiter das Gericht:

wer den Vorsitz hat, den zahle,

sonst kriegst du die Ware nicht!« (Satyrica 13 f.)

 

Ähnlich klingt es bei Artemidor: Träume von Gerichtshöfen, Richtern, Anwälten und Rechtsgelehrten »prophezeien jedermann Aufregungen, Ärger und ungelegene Ausgaben; sie bringen Verborgenes zutage« (Traumbuch 2,29). Und weiter: Ein Richter ist ein Mensch, der tut, was er will, ohne dafür irgend jemandem Rechenschaft zu schulden (4,66). Ebenso harsche Kritik wird im Carmen geübt. Zu den negativen Faktoren, die zu einem fragwürdigen Urteil führen konnten, gehörten die Ungerechtigkeit des Richters, Bestechung, Druck und Günstlingswirtschaft (Carmen 5,33). In einer so korrupten Umgebung fehlten dem gewöhnlichen Römer natürlich Geld und Einfluss, Mittel, um sich gegen Personen von Stand zur Wehr zu setzen. Den Rechtsweg zu beschreiten war also immer riskant. Im Carmen finden sich ausführliche Überlegungen zur Streitschlichtung und im Besonderen zum Ausgang von Rechtsverfahren. In solchen Situationen suchte man Konflikte auf anderem Weg zu lösen. Am beliebtesten war die Vermittlung durch die Familie oder durch eine Gruppe Gleichgestellter, Geschäftspartner etwa, wie es auch Paulus seinen Glaubensgenossen in Korinth empfahl. Grundsätzlich aber galt: Der gewöhnliche Römer suchte Rechtsverfahren zu vermeiden. Die meisten nutzten das Rechtssystem nur in Fällen wirklich wichtiger Fragen, die über Lokales hinausgingen, oder wenn Rang, Beziehungen und Mittel einen Erfolg versprachen. Juris consultus abesto (Anwalt, bleib fern!) – wie wahr!

In einer Gesellschaft mit so weit verbreiteter Arbeitslosigkeit, um nicht zu sagen ausgesprochener Armut, war Diebstahl ein ständiges Problem. Eine reguläre Polizei, die durch die Straßen patrouillierte, gab es nicht. Ein Nachtwächter, der in Provinzstädten oft nach einbrechender Dunkelheit unterwegs war und Verhaftungen vornehmen konnte, wirkte wenig abschreckend. Im Carmen wird eine Reihe von Diebstählen erwähnt, und eine Kapitelüberschrift lautet: »Wenn du etwas über einen Diebstahl wissen willst, der begangen wurde, oder etwas, das verlorenging, ob man es wieder besitzen wird oder nicht«:

 

Dieses Gut wird schnell und ohne Mühe gefunden … dieses sein Gut, das abhanden kam, wird nach langer Zeit und mit Mühe gefunden … daß die Diebe das Gut vom ersten Platz, an den sie es brachten, als sie es stahlen, an einen anderen Ort brachten … dass es nach Zeit und Mühe gefunden wird … dass es richtiger ist, dass es gefunden wird … dass dieses Gut, das gestohlen wurde oder abhanden kam, gefunden wird … dass es nicht gefunden wird … dass die Sache, die gestohlen wurde oder abhanden kam, verschwinden wird, so dass er sie nicht besitzen wird … dass er die Sache, die gestohlen wurde oder abhanden kam, bald besitzen wird … dass er die Sache, die gestohlen wurde oder abhanden kam, nicht besitzen wird, und dass es für den Besitzer nicht nötig sein wird, danach zu suchen, denn er würde sich plagen, ohne etwas zu erreichen … dass er die Sache, die gestohlen wurde oder abhanden kam, nicht besitzen wird außer langsam und mit Mühe oder mit Streit und Kränkung und Kampf. (Carmen 5,35)

 

Bei Artemidor richtet sich eine Traumdeutung sogar direkt an den Verbrecher. Wenn ein Mann seines Schlages von Sternen träumt, die vom Himmel fallen, wäre das »einzig Leuten, die ein schändliches Verbrechen ausführen wollen, … von guter Vorbedeutung« (Traumbuch 2,36). Andere Träume zeigen an, dass jemand betrogen wird, dass Tempel ausgeraubt werden und Diebe einen Reisenden angreifen. Ein Habicht oder Wolf im Traum bedeutet einen Banditen oder Räuber.

Gestohlenes war nur schwer wiederzuerlangen. Formelle polizeiliche Ermittlungen gab es nicht, allerdings hatten Beamte die Möglichkeit einzugreifen, falls sie das wünschten. Als Lucius im Goldenen Esel angeklagt wird, seinen Gastgeber beraubt zu haben und geflohen zu sein, gehen Beamte der Sache nach, foltern Lucius’ Sklaven und schicken Mitarbeiter nach Korinth, um den Gesuchten zu finden. In der Regel aber blieb es den Opfern selbst überlassen, das Geraubte sowie den Dieb aufzuspüren. Dabei konnte man sich der Hilfe eines Gottes versichern. Ein anderer Weg war die Befragung der Sterne. Das Carmen enthält zahlreiche Horoskope, die angeben, wo man nach gestohlenem oder verlorenem Eigentum suchen soll:

 

… im Mist der Schafe oder in den Schlupfwinkeln der Tiere … in den Essen der Schmiede … in oder nahe einem Meer oder in einer Quelle oder einem Strom oder einem Tal oder einem Fluss oder einem Kanal oder einem Ort, in dem Wasser ist … (Carmen 5,35)

 

Gestohlen wurden Güter aller Art: kostbares Tuch, Kleidungsstücke, Schmuck und Parfüm, Werkzeug für Bau und Landwirtschaft, Metall, Keramik, religiöse Figuren, Bücher und Geschäftsbücher, ebenso aber auch ganz gewöhnlicher, alltäglicher »derber und grober« Besitz. Mit Diebesgut ließ sich leicht handeln; niemand stellte Fragen nach der Herkunft. Dem Carmen zufolge wurden häufig Sklaven und Sklavinnen als Hehler benutzt. Als Hehler betätigten sich aber auch wohlhabende Männer mit guten Beziehungen.

Wie die gestohlenen Objekte waren auch die Diebe zahlreich und unterschiedlichster Art. Es konnten Bekannte sein, völlig Fremde oder auch Nahestehende; ein Dieb, »ist zum Gespräch eingetreten und zwischen ihm und den Leuten des Hauses besteht Freundschaft und sie setzen Vertrauen in diesen Mann, aber dann stiehlt er« (Carmen 5,35). Sie konnten jung sein, mittleren Alters oder alt. Auch unter ihnen waren gewöhnlich Sklaven. Ansatzpunkte und Methoden differierten: Da waren die Gelegenheitsdiebe, die sich zum Beispiel aus anderem Grund im Haus aufhielten, etwas Verlockendes sahen und es einsteckten. Oder List und Tücke kamen ins Spiel. Oder man grub sich durch eine Wand, brach ein Schloss auf, besorgte sich Kopien von Schlüsseln oder schlich durch ein Dachfenster ins Innere.

Bei der Suche nach dem Täter ist es von Vorteil, wenn man weiß, wie er aussieht. Zum Glück konnten andernfalls die Sterne eine Beschreibung liefern, abhängig vom dominierenden Planeten in den Horoskopen:

 

Jupiter: weiß, fett, groß in den Augen, das Weiß seiner Augen wird kleiner sein, als es sein muss wegen der Größe dieses Auges; und ihre Bärte werden rund und lockig sein, ihre Persönlichkeit freundlich und gut; Saturn: abstoßend von Gesicht, von schwarzer Farbe, den Blick auf den Boden gerichtet, geschwächte und kleine Augen, schlank, ein krummer Blick, von fahler Farbe, viel Körperhaar und buschige Brauen, ein Lügner und kränklich; Mars: von roter Farbe, rötliches Haar, scharfer Blick, fette Wangen, ein fröhlicher Bursche, ein Meister der Spaßes; Venus: hübsch, ein Kopf mit vollem Haar, fett, schwarzäugig, bleiche Haut, freundlich und höflich; Merkur: schlank, ausgemergelt, bleich, unklar im Denken. (Carmen 5,35)

 

Allen Informationen lässt sich entnehmen, dass Diebstahl den Menschen ernstlich zu schaffen machte. Rechnet man zum Diebstahl auch Sklavenbesitz, der sich davonstiehlt – das vielleicht wertbeständigste und zweifellos beweglichste Gut –, wird dieses Problem im Carmen ebenso ausführlich behandelt wie das Thema Ehe und Familie. In der Literatur sind Diebe und Diebstahl allgegenwärtig. Anspielungen darauf sind über das Neue Testament verstreut: Der Tod kommt »wie ein Dieb in der Nacht« (Thessalonicher 5,12); »Sammelt euch aber Schätze im Himmel, da sie weder Motten noch Rost fressen und da die Diebe nicht nachgraben noch stehlen« (Matthäus 6,20); »Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausherr wüßte, zu welcher Stunde der Dieb käme, so wachte er und ließe nicht in sein Haus brechen« (Lukas 12,39); »Ein Dieb kommt nur, daß er stehle, würge und umbringe« (Johannes 10,10); »Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb in der Nacht« (2. Petrus 3,10). Gewalttätige Angriffe auf Personen und Eigentum finden sich häufig bei Apuleius. Die Ängste waren umso größer, als die Behörden sich bestenfalls mangelhaft einsetzten. Sie waren darauf bedacht, »den Frieden zu wahren«, und konnten, wie im Goldenen Esel, eine Volksmenge losschicken, um Banditen anzugreifen. Doch wenn nicht ein abscheuliches Verbrechen gegen Angehörige der Elite vorlag oder wenn niemand die Initiative ergriff, war Untätigkeit an der Tagesordnung. Die Menschen blieben im Kampf gegen den Diebstahl sich selbst überlassen, wie das Carmen deutlich macht, das wiederholt Fragen nach dem Aussehen der Diebe, dem Versteck des Diebesguts oder der Identität der Diebe nachgeht. Diese Situation wiederum hatte zur Folge, dass die Menschen Maßnahmen trafen, um ihr Eigentum zu schützen.

War ein Dieb gefasst, konnte er den Gerichten übergeben werden, doch es bestand durchaus die Möglichkeit, dass er einem gewalttätigen Mob zum Opfer fiel und gelyncht wurde. Das geschieht im Goldenen Esel, als ein Aufgebot aus Hypata Räuber aufgreift und sie an Ort und Stelle mit dem Schwert tötet oder sie über die Klippen wirft. Wurden Sklaven gefasst, versuchte man sie durch Folter zu Geständnissen zu bringen. Die Strafen, die ein Verurteilter erlitt, sind für unser modernes Empfinden äußerst grausam. Aber darum ging es – mögliche Täter durch die Furcht vor bestialischen Strafen abzuschrecken: Abhacken der Hände, Auspeitschungen, Verurteilung zur Arbeit in den Minen oder als Gladiator, Enthauptung, Erhängen, Tod durch Klauen und Zähne wilder Tiere und Kreuzigung. Solche Strafen waren die zwangsläufige Folge des durchgehend gewalttätigen Charakters der Welt des einfachen Mannes. In jüngster Zeit zeigt man sich betont entsetzt von den Kämpfen der Gladiatoren und den öffentlichen Spielen mit Aufführungen von Mythen, bei denen der Tod eines der Beteiligten von vornherein einkalkuliert war. Wichtiger aber ist es, sich klarzumachen, dass für den einfachen Mann jeder Aspekt des Lebens Gewalt einschloss, dass Gewalt normal war. Er konnte seine Sklaven (und manchmal auch die eines anderen) durch Schläge, Vergewaltigung oder Beschimpfungen misshandeln; seine Kinder unterstanden uneingeschränkt der väterlichen Gewalt und konnten nach seinem Belieben körperlich bestraft werden. Auch die Ehefrau hatte der Gewalt vonseiten des Mannes nur wenig entgegenzusetzen. Außerhalb der Familie waren Kämpfe ein gebräuchliches Mittel, persönliche Differenzen beizulegen, denn die prägende Kultur der Scham und der Ehre ließ im Fall wirklicher oder eingebildeter Kränkungen gewaltsame Formen der Selbstbestätigung zu. In der Regel war der einfache Mann zwar insofern »unbewaffnet«, als er, vor allem wenn er zu den Ärmeren gehörte, kein Kampfgerät wie ein Schwert zur Hand hatte; doch standen ihm andere Objekte wie Steine, Stöcke, Jagdspeere, Werkzeug, Pflastersteine und dergleichen zur Verfügung, und er benutzte sie, wie sie auch ihm gegenüber unter Umständen benutzt wurden. Die von Artemidor geschilderten Träume machen deutlich, dass persönliche Feinde auf Angriffe aller Art aus sein konnten und dass man sich jederzeit vor Verrat hüten musste:

 

Fremde Hunde, die einen anwedeln, bedeuten Anschläge und Hinterhältigkeiten von nichtswürdigen Kerlen oder Weibern. (Traumbuch 2,11)

 

Dass Streit in Kämpfen endete, kam sogar, oder vielleicht besonders, in engagierten Gemeinschaften wie den Gruppen der ersten Christen vor:

 

Woher kommt Streit und Krieg unter euch? Kommt’s nicht daher: aus euren Wollüsten, die da streiten in euren Gliedern? Ihr seid begierig, und erlangt’s damit nicht; ihr hasset und neidet, und gewinnt damit nichts; ihr streitet und krieget. (Jakobus 4,1 f.)

 

Die Anfeindungen waren unterschiedlicher Art, aber auch körperliche Attacken gehörten dazu, die zu Verletzungen und sogar zum Tod führten. Zumal auf Reisen bestand außerdem immer die Gefahr von Angriffen durch Banditen:

 

Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Mörder; die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen. (Lukas 10,30)

 

Wachsame Selbsthilfe war die Regel. Als die Räuber im Goldenen Esel das Haus eines Bürgers angreifen, werden sie von den Besitzern und ihren Nachbarn zweimal zurückgeschlagen. Bei anderer Gelegenheit ergreifen Bürger die Initiative, packen einen Verdächtigen und übergeben ihn den Behörden. Wenn ein Streitfall vor Gericht kam, konnte amtliche Gewalt wie die Prügelstrafe verlangt werden, aber in zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen war Selbsthilfe für die meisten das nächstliegende Mittel, ob mit oder ohne anschließenden Eingriff der Behörden. Bei Unfrieden in größerem Rahmen, so wenn das Volk mit den Ämtern im Streit lag oder den Verdacht hatte, dass zum Beispiel die Reichen während einer Hungersnot Getreide zurückhielten, war die natürliche Reaktion der Aufruhr, entweder um die angeblichen Übeltäter einzuschüchtern oder gar zu töten oder um ihren Besitz zu zerstören. In einer Episode im Goldenen Esel schleppt eine Horde Städter Lucius vor den Magistrat, und er entkommt erst, als sich zeigt, dass er das Opfer in einem »Fest des Lachens« ist. Paulus hatte bei ähnlichen Gelegenheiten ein paarmal weniger Glück. Sein Fall ist vielmehr ein Beispiel dafür, wie die Menschen auf soziale Ärgernisse reagierten. In Ephesos predigte und lehrte Paulus in den Synagogen, doch die Silberschmiede der Stadt glaubten, wie wir sahen, ihre Einkünfte bedroht und wurden aktiv – ergriffen zwei Gefährten des Paulus und schleppten sie zum Theater, wo das Volk und der Magistrat versammelt waren. Hier versuchten die Beamten die Menge zu beruhigen und zum Abzug zu bewegen, doch diese erreichte am Ende ihr Ziel: Paulus verließ alsbald die Stadt (Apostelgeschichte 19, 35 – 20,1). Und das mit Grund, denn Ähnliches hatte er, mit schlimmeren Folgen, schon in Philippi erlebt. Dort hatte er eine Sklavin von ihrem »Wahrsagergeist« geheilt, sehr zum Ärger ihrer Besitzer, die sich ihrer Gewinne beraubt sahen. Sie ergriffen Paulus und seinen Begleiter Silas und brachten beide auf den Markt vor die Obrigkeit, die den Wünschen der Menge entsprach:

 

Und das Volk ward erregt wider sie; und die Hauptleute ließen ihnen die Kleider abreißen und hießen sie stäupen. Und da sie sie wohl gestäupt hatten, warfen sie sie ins Gefängnis und geboten dem Kerkermeister, daß er sie wohl verwahrte. Der, da er solches Gebot empfangen hatte, warf sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Stock. (Apostelgeschichte 16,22 – 24)

 

Jeden, den man als Störenfried empfand, durfte man attackieren, und eine kleine Zahl Einheimischer konnte die Menge aufwiegeln, wie die Silberschmiede in Ephesos oder das wohlhabende Brüderpaar in Philippi. Der einfache Mann hatte in seiner Heimat weniger zu fürchten, obwohl auch er betroffen sein konnte, so wenn der Vater zweier Söhne den älteren Sohn des Mordes beschuldigte und den Versuch machte, die Volksmenge anzustacheln, auf einen Prozess zu verzichten und den Beschuldigten zu steinigen (Der goldene Esel 10,6 – 12). Gewöhnlich aber war der einfache Mann Teil des Mobs, denn die Angegriffenen waren meist entweder Außenseiter oder Angehörige der Elite. Ein Beispiel dafür ist die Bürgerwehr in Apuleius’ Erzählung von den Priestern der syrischen Göttin. Diese waren durch die Städte gereist, hatten ihre Riten vollzogen und gegen Geld Prophezeiungen angeboten. In einer Stadt stahlen die Männer einen goldenen Pokal aus dem Tempel der Großen Mutter. Die Einwohner entdeckten den Diebstahl und machten sich auf, das gestohlene Gut zurückzuholen:

 

Schau, da überrennt uns plötzlich von hinten ein Haufen bewaffneter Reiter, die kaum die Galoppierwut ihrer Pferde zügeln und hitzig über Philebus und seinen Gefährten herfallen; sie werfen ihnen Stricke um den Hals, schimpfen sie Tempelschänder und Saukerle und schlagen dabei mit Fäusten auf sie ein. Auch legen sie noch allen feste Handschellen an und treiben sie wieder und wieder mit drohenden Worten in die Enge: Heraus lieber mit dem goldenen Humpen, heraus mit diesem ihrem Sündenlohn! … Einer war sogar dabei, der mir die Hand auf den Rücken legte, mitten im Schoß der mir aufgeladenen Göttin herumsuchte, den goldenen Humpen fand und vor aller Augen ans Licht zog. … Während sie … zwecklos herumschwatzen, führen die Bauern sie nach hinten ab und stoßen sie sofort gefesselt ins Verlies. (Der goldene Esel 9,9,3 – 10,4)

 

Das Volk war außerdem beteiligt an Aufständen, zu denen der häufige Nahrungsmangel führte, an Demonstrationen gegen lokale Magistrate während der Spiele, Wagenrennen und Gladiatorenkämpfe, an lokalem Parteienstreit über alles und jedes sowie an Konkurrenzkämpfen zwischen Städten. Das berühmteste Beispiel dafür ist der Aufstand im Jahr 59 n. Chr. nach einem Wettkampf zwischen Gladiatoren aus den benachbarten Städten Pompeji und Nuceria, den ich später (Kap. 8) ausführlicher behandle. Wenn ein Aufruhr wirklich außer Kontrolle geriet, besonders in Großstädten wie Rom, Alexandria oder Antiochia, wurden die Truppen alarmiert. Von Bedeutung ist, dass die breite Bevölkerung jederzeit und unter den verschiedensten Umständen bereit war, ihren Ärger auf gewalttätige Weise auszuleben. Es wäre zwar irreführend, wollte man sich Gewalt und Aufruhr der Menge als tägliches Geschehen vorstellen, aber die Möglichkeit bestand immer, und die Menschen zögerten nicht, sich an den Aktionen zu beteiligen.

Dass Sorgen, wie ich sie in großen Zügen dargestellt habe, das Leben der gewöhnlichen Menschen bestimmten, wird durch die magischen Papyri im Großen und Ganzen bestätigt. So lässt sich den Traumdeutungen, Horoskopen, Gebeten und Anrufungen zusammenfassend entnehmen, worauf sich die Wünsche der gewöhnlichen Leute richteten: ein gutes Leben, gesundheitliches Wohlergehen und genügend Mittel, um auskömmlich zu leben, Freunde, ein gutes Renommee und eine Stütze im Familienleben mit Kindern. In Beziehungen außerhalb der Familie suchte man eine Position von Rang, Schutz vor Feinden, Sieg über Konkurrenten, sei es in Geschäften, vor Gericht oder in der Liebe, sowie Ruhm oder gutes Ansehen im sozialen Umfeld. Die größten Ängste galten lebensverändernden Umständen, in erster Linie einer schwachen Gesundheit, Raub, Tod, Armut und sogar einer möglichen Versklavung.

Das Leben in der Gemeinschaft

In seiner Welt führte der Normalbürger ein aktives Sozialleben. Eine wichtige Rolle spielten religiöse Zeremonien und Feste. Zum Fest der Isis, dessen ersichtlich sozialer Kontext bei Apuleius geschildert ist, versammeln sich die Städter in großer Zahl, um an den Festspielen teilzunehmen. Bei Apuleius stehen die sakralen Teilnehmer im Mittelpunkt: die in den heiligen Dienst Eingeweihten, die Oberpriester und »Götter, die mit Menschenfüßen zu schreiten geruhten«. Doch die intensive Beteiligung der breiten Bevölkerung schon in der Morgendämmerung, noch vor Beginn der eigentlichen Prozession, das Beladen des Schiffs der Isis mit Körben voller Opfergaben durch die der Göttin geweihten Jungfrauen und die profanen Zuschauer, lassen ebenso wie die Begeisterung für die Tempelrituale den gesamtgesellschaftlichen Charakter solcher Feiern erkennen. Nach einem solchen Tag kehren die Menschen voller Hochgefühl in ihre Häuser zurück (11,8 – 18).

Höhepunkte der Geselligkeit waren auch die Tage der öffentlichen Spiele. Die Menge strömte schon vor einer Darbietung zusammen. Dieser konnte Unterhaltsames vorausgehen, etwa Pantomimen, und allenthalben tummelten sich Straßenverkäufer und Künstler. Die Hauptveranstaltung stärkte das Gemeinschaftsgefühl und wirkte als soziales Band – manchmal war es ein blutiges Schauspiel wie der Wettkampf von Gladiatoren, oft eine Theateraufführung oder eine zirkusähnliche Darbietung. Waffentanz, Pantomime und volkstümliches Drama, wie sie Apuleius als Einleitungen zur nachfolgenden Hinrichtung schildert, sind typische Beispiele solcher Volksbelustigungen (Der goldene Esel 10,29 – 34).

Hinrichtungen boten eine weitere Gelegenheit, sich in der Öffentlichkeit zusammenzufinden. Bei Apuleius ist die Paarung eines Esels mit einer verurteilten Frau die halb komische, halb ernste »Spielart« der normalen Strafe, den Schuldigen wilden Tieren auszuliefern. Doch jedes öffentliche Schauspiel diente dem Zweck sozialer Integration. In der Regel fand am Vorabend der Hinrichtung ein öffentliches Fest statt – eine großartige Gelegenheit, sich in unterschiedlichsten Gruppierungen zu versammeln und Gratiskost zu genießen.

Große Bedeutung im alltäglichen Sozialleben außerhalb der Familie hatten die Vereine. Typisch für einen Verein waren ein gemeinsamer Berührungspunkt (Haushalt, Beruf, Hauptinteressen), ein regelmäßiger Treffpunkt, ein religiöser Zweck (zumindest dem Namen nach), die Verpflichtung zum Begräbnis der Mitglieder und der Aspekt der Geselligkeit. Die Mitgliedschaft war kostspielig. Häufig schlossen sich Gruppen von Haushalten zusammen, denen nicht nur Freie angehören konnten, sondern auch Sklaven und Freigelassene – und auch Frauen. Auch religiös orientierte Vereine konnten allen offenstehen – Männern, Frauen, Freien, Freigelassenen und Sklaven. Daneben gab es die Berufsvereine, die auf eine Produktionssparte ausgerichtet waren, zum Beispiel die der Bauarbeiter. Schließlich gab es Vereine auf lediglich geographischer oder ethnischer Basis. Diese standen Freien und Freigelassenen und zuweilen auch Frauen offen.

Getragen wurden die Vereine von gewöhnlichen Römern oder auch von Sklaven und Freigelassenen. Die Elite hatte an solchen Zusammenschlüssen kein oder nur geringes Interesse, ausgenommen vielleicht die Mitgliedschaft in einigen religiösen Gemeinschaften. Allerdings hatten die Vereine oft wohlhabende Patrone aus den Reihen der lokalen Oberschicht. Ergänzend zu einer »horizontalen« Sozialfunktion dienten die Vereine innerhalb der strikt hierarchischen Gesellschaftsstruktur damit auch als »vertikales« Instrument des Ausgleichs: Sie brachten die kleinen Gruppen in Verbindung mit der Macht und dem Einfluss, den nur die Oberschicht besaß.

Der soziale Charakter der Vereine konnte aus Sicht der Elite zu Scherereien führen. Klubs waren den Mächtigen immer verdächtig. In Pompeji waren Klubs offenbar in den Fankult der Gladiatorenspiele verwickelt und mussten nach Krawallen am Rande der Spiele verbannt werden (Tacitus, Annalen 14,17). Kaiser Trajan unterstrich die Position der Regierung und erklärte, dass Vereine immer ins »Politische« umschlügen: »Welchen Namen wir auch und welche Bestimmung wir auch solchen Zusammenschlüssen geben, es werden in kurzer Zeit politische Vereine daraus« (Plinius d. J., EpistulaeBriefe 10,34). Heute wird viel über die einzelnen Kategorien der Vereine diskutiert, über »legitime« und »illegitime«, über das, was »genehmigt« und was vom Staat »missbilligt« wurde. Hier ist wichtig zu betonen, dass die Vereine trotz des Argwohns der Obrigkeit und Schlimmerem eindeutig an Zahl zunahmen und einen bedeutenden Teil des Soziallebens der breiten Bevölkerung ausmachten.

Ein vielgeschätzter Treffpunkt waren auch die Bäder. Gemeinschaftliches Baden – nicht das Schwimmen in einem Pool, sondern echtes Bemühen um Reinlichkeit – gehört im Leben des modernen Menschen nicht zu den üblichen Gepflogenheiten. Für die römische Bevölkerung in den Klein- und Großstädten war es ein wesentlicher Teil des täglichen Lebens. Die berühmten und luxuriösen Thermen Roms, aber auch größerer Provinzstädte sind allgemein bekannt; daneben aber wuchs sowohl dort wie in kleineren Städten des Reiches die Zahl sehr viel schlichterer Einrichtungen. Auch die Angehörigen der Oberschicht konnten diese öffentlichen Orte benutzen, und das taten sie, doch standen ihnen im eigenen Haus oder bei Freunden auch private Bademöglichkeiten zur Verfügung. Anders die einfachen Leute. Sie fanden in den öffentlichen Bädern eine Kombination von Fitnesscenter, Massagesalon, Badeortatmosphäre und sozialem Treffpunkt. Im Goldenen Esel sucht Lucius, nachdem er bei seinem Gastgeber in Hypata eingekehrt ist und sein Pferd versorgt weiß, als Erstes die lokalen Bäder auf. Für mehrere Episoden in den Satyrica benutzt Petron die Bäder als Kulisse. Soldaten verfügten in befestigten Lagern immer auch über eine Badeeinrichtung. Wohlhabende Bürger übten sich in Großzügigkeit und machten Mitbürgern Badehäuser zum Geschenk. War das Forum Mittelpunkt und Symbol des Wirtschafts- und Rechtslebens, so waren die Bäder der Mittelpunkt des Soziallebens. Hier fand man Essen und Trinken, Freunde und Feinde, politische Intrigen, Nachbarschaftsklatsch, geschäftliche Tipps, sexuelles Vergnügen und vieles, vieles andere.

 

Tiberius Claudius Secundus lebte 52 Jahre … Wein, Sexualität und die Bäder zerstören unseren Körper, aber Wein, Sexualität und die Bäder machen unser Leben gut! Merope, Freigelassene des Caesar, errichtete dieses für ihren lieben Gefährten, für sich und die gemeinsamen Nachkommen. (CIL VI 15 258, Rom)

 

Aber auch die guten Zeiten waren nicht sorgenfrei. Ein Rendezvous konnte misslingen. Ein Ehebruch konnte auf eigene Kosten gehen. Nach einem Bad konnte man schäumend vor Wut und fluchend entdecken, dass sich ein Dieb mit den Kleidern davongemacht hatte. In Rom hatte sich dieses Problem so zugespitzt, dass der Präfekt der Stadtwache den Auftrag erhielt, dagegen einzuschreiten. Er war »auch gegenüber den Kleiderverwahrern, die in Bädern gegen Lohn die Kleider zur Bewachung übernehmen, … zum Richter bestellt, damit er, wenn jene bei der Verwahrung der Kleider betrügerisch handelten, selbst darüber entscheiden kann« (Digesten 1,15,3,5).

Anlass zur Besorgnis bot sich auch, wenn die eigene Ehefrau die Bäder besuchte, wie die folgende formelle Klage aus Ägypten dokumentiert:

 

Von Hippalos, Sohn des Archis, staatlicher Bauer aus dem Dorf Euphemeria im Bezirk Themistos. Am 6. des Monats Tybi, während meine Frau Aplounous und ihre Mutter Thermis badeten, wurden sie von Eudaimonis, Tochter des Protarchos, und von Etthytais, Tochter des Pees, und Deios, Sohn des Ammonios, und Heraklous angegriffen, und meine Frau Aplounous und ihre Mutter erhielten im Badehaus des Dorfes viele Schläge am ganzen Körper, so dass sie das Bett hüten muss, und in dem Streit verlor sie einen goldenen Ohrring, drei Quarter schwer, ein Armband aus ungestempeltem Gold, 16 Drachmen schwer, eine Bronzeschale im Wert von 12 Drachmen; und ihre Mutter Thermis verlor einen goldenen Ohrring, zweieinhalb Quarter schwer, und … (Rowlandson, Nr. 254)

 

Wenn wir das Bild dieses sozialen Treffpunkts vor Augen haben, überfüllt von Männern (für die Frauen waren gesonderte Stunden reserviert), sehen wir unwillkürlich den glänzenden Marmor der Caracalla-Thermen in Rom vor uns oder die Pracht der römischen Bäder im Pariser Hôtel de Cluny und wollen darin ein Zeichen der überragenden römischen Zivilisation und Kultur erkennen. Ein Element davon enthielten sie natürlich – wer wäre von den grandiosesten dieser Einrichtungen unbeeindruckt geblieben? Aber darüber sollten wir nicht die Realität aus dem Blick verlieren: die Tatsache, dass der Besuch der Bäder den Normalbürgern ebenso wie der Elite nicht nur eine Gelegenheit zum sozialen Austausch bot, sondern die Badenden auch einem gefährlichen Mangel an Hygiene aussetzte, dessen bloße Vorstellung schockiert. Wir wissen nicht, wie oft das Wasser gewechselt wurde, doch weist nichts darauf hin, dass dies häufig der Fall war. Es gab keinen »Vorwaschgang«; das Einschäumen mit Öl und das nachfolgende Abschaben desselben als Reinigungsprozess vor dem Bad bedeutete nur, dass das vom Körper geriebene Material von einem der Badewärter in das Becken gefegt wurde. Es standen zwar hier und da Latrinen zur Verfügung, anscheinend aber benutzen einige einfach den Pool:

 

Am schlimmsten und gefährlichsten ist es wohl, im Tempel einer Gottheit, auf dem Marktplatz, auf der Straße oder in einem Bad seine Notdurft zu verrichten; dies prophezeit den Zorn der Götter, eine große Taktlosigkeit und eine empfindliche Geldstrafe, ferner bringt es Verborgenes zutage und erweckt häufig Haß gegen den Träumenden. (Traumbuch 2,26)

 

Kurz: alles, was die Menschen an Unrat, Dreck, Körperflüssigkeiten und Keimen mit ins Bad brachten, hatte das Wasser alsbald auf die übrigen Badenden übertragen. Vor allem im Warmbad dürfte die Bakterienzahl astronomische Höhen erreicht haben. Obwohl das Zusammenwirken dieser Faktoren sicherlich zur Verbreitung ansteckender Krankheiten führte, gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich irgendjemand dieser Gefahr auch nur im entferntesten bewusst war. Der Rat, »die Bäder zu nehmen«, war sogar eine der Standardempfehlungen der Ärzte, so dass infizierte Personen (wie wir heute wissen) geradezu aufgefordert wurden, ihr Leiden an andere weiterzugeben, während die fortgesetzte Erkrankung durch das Wasser der Bäder unverändert als Heilung galt. Gelegentlich teilten zwar auch Kaiser die öffentlichen Badehäuser mit der gewöhnlichen Bevölkerung, doch zumindest einer blieb diesem Ort wahrscheinlich fern. Mark Aurel brachte das Abstoßende des Badeprozesses zum Ausdruck, als er schrieb:

 

Wie dir das Baden, das Öl, der Schweiß, der Schmutz, das fettige Wasser und alles sonst als ekelhaft erscheint … (ta eis heautonSellbstbetrachtungen 8,24)

 

In den Thermen ging es auch laut und chaotisch zu. Artemidor hält fest, dass Träume von Gesang in Bädern Unglück bedeuten. Auch Träume von den Bädern selbst, meinten einige, bedeuteten Unglück, denn der ständige Lärm zeige Wirrnis im Leben an. Über den Geräuschpegel beklagt sich wortreich der Elitenspross Seneca, wenn er sich vorstellt, in einer Wohnung über einem öffentlichen Bad arbeiten zu müssen:

 

Zum Henker mit mir, wenn wirklich für den in Studien Vertieften die Stille der Umgebung so unentbehrlich ist, wie man gemeinhin meint. Umrauscht mich doch hier der mannigfachste Lärm von allen Seiten. Meine Wohnung ist gerade über dem Bade. Nun stelle dir das bunte Stimmengewirr vor, das einen dazu bringen könnte, die eigenen Ohren zu verfluchen. Wenn Leute kräftigeren Schlages ihre Übungen anstellen und ihre mit Blei beschwerten Hände nach allen Richtungen hin in Bewegung setzen, wenn sie sich anstrengen, sei es wirklich oder bloß dem Anschein nach, dann vernehme ich allerhand Stöhnen, und wenn sie den angehaltenen Atem wieder von sich geben, mancherlei Zischen unter schwerem Aufatmen. Gerate ich in die Nähe eines energielosen Menschen von der Sorte derjenigen, die sich auf die übliche Einsalberei beschränken, dann vernehme ich ein Klatschen der auf die Schultern aufprallenden Hände, das seine Tonart wechselt, je nachdem die Hand entweder flach oder hohl auffällt. Kommt nun noch ein Ballspieler hinzu, der seine Bälle zählt, dann gute Nacht! Dazu noch all das Gezänk, der Lärm bei Ergreifung eines Diebes und die Stimmproben der gesangessüchtigen Badenden. Dazu das tosende Aufspritzen des Wassers beim Sprunge der sich mit gewaltigem Schwung in das Bassin stürzenden Badenden. Neben allen diesen, die doch wenigstens mit unverstellter Stimme sich bemerklich machen, denke dir einen dienstbeflissenen Haarzupfer, der, um sich nach Möglichkeit bemerkbar zu machen, immer wieder seine dünne und schrille Stimme vernehmen läßt und seinen Mund nur dann hält, wenn er Haare ausrupft und einen anderen für sich schreien läßt. Dazu nimm nun noch das Stimmengewirr der Kuchenbäcker, der Wursthändler, der Süßigkeitskrämer und aller der im Dienste der Garküchen stehenden Krämer, die ihre Ware, ein jeder in seiner besonderen Tonart, feilbieten. [Außerhalb des Hauses höre ich noch] einen vorüberfahrenden Wagen, einen … in der Nachbarschaft arbeitenden Handwerker oder einen mit Sägen Beschäftigten oder den Mann, der an der Brunnensäule … seine Trompeten und Flöten probiert und es nicht auf Musik, sondern nur auf Reklame abgesehen hat. (Epistulae moralesBriefe an Lucilius 56,1,2)

 

Dennoch: Die Bäder waren Ort sozialer Begegnungen für den gewöhnlichen Römer und auch für seine Familie. Kinder konnten die Eltern in die Bäder begleiten und besuchten zumindest einige. Ein römisches Epitaph erzählt eine traurige Geschichte:

 

Daphnus und Chryseis, Freigelassene des Laco, errichteten diesen Grabstein für ihren lieben Fortunatus. Er lebte 8 Jahre. Er verlor sein Leben im Becken der Bäder des Mars. (CIL VI 16740)

 

Ein Echo darauf ist vermutlich eine zweite Inschrift, die, eine traurige Fügung, vom Bildhauer selbst stammt:

 

Ich, ein höchst unglücklicher Vater, habe dieses für meinen Jungen gemeißelt, der, arme Seele, im Becken ertrank. Er lebte 3 Jahre und 6 Monate. (CIL IX 6318)

 

Es war zwar keineswegs die Regel, aber auch Frauen badeten gelegentlich zusammen mit den Männern. Eine berührende Grabinschrift ist von Pompeius Catussa überliefert:

 

Den Göttern der Unterwelt und zum immerwährenden Gedächtnis von Blandinia Martiola, dem reinsten Mädchen, das 18 Jahre, 9 Monate und 5 Tage lebte. Pompeius Catussa, sequanischer [gallischer] Bürger, ein Stuckateur, errichtete dieses Monument für eine unvergleichliche Ehefrau, die sehr liebreich zu mir war, die 5 Jahre, 6 Monate und 18 Tage ohne jeden niedrigen Vorwurf mit mir lebte, und zu meinen Lebzeiten für sich selbst. Du, der du dieses liest, gehe zu den Bädern des Apollo, um zu baden, wie ich es mit meiner Frau getan habe. Wie sehr wünsche ich, dass ich es immer noch könnte! (CIL XIII 1983 = ILS 8158)

 

Wenn der gewöhnliche Römer sein Haus oder ein Vereinstreffen oder die Thermen verließ und die Straße betrat, erwartete ihn eine geschäftige, laute Welt. Wie jeder andere in der Gesellschaft verbrachte er einen guten Teil seines Lebens außer Haus. Was er brauchte, vor allem Proviant, fand er in den Ständen oder auf Matten ausgebreitet, die nicht nur an den wenigen freien Plätzen, sondern entlang jeder Straße zu finden waren und die relativ wenigen Geschäfte ergänzten, in denen Waren verkauft wurden. Auf seinem Schlängelkurs durch die Menge machten sich Bettler an ihn heran, spielten oder sangen für ein paar Münzen Straßenmusiker, suchten Lehrer im lauten Stimmengewirr die Aufmerksamkeit ihrer Schüler festzuhalten, gingen Straßenphilosophen, Wahrsager, Zauberer und Passanten aller Art ihrem Handwerk nach:

 

Die beste und nützlichste Art der Zurückgezogenheit ist daher wohl, sich auf sich selbst zurückzuziehen und auf seine eigenen Angelegenheiten zu achten, … Man kann es auch an den Menschen sehen, die sich im lautesten Lärm und im dichtesten Gedränge von ihrer Beschäftigung nicht abbringen lassen. Der Flötenspieler oder -lehrer, der oft unmittelbar an der Straße unterrichtet, geht seiner Beschäftigung nach, und nichts bringt ihn draus, weder das Getümmel um ihn her noch der Lärm der Vorübergehenden. Auch der Tänzer oder Tanzlehrer ist ganz bei der Sache, ohne auf die streitende, feilschende und dies und jenes treibende Menge zu achten, genauso auch der Zitherspieler und der Maler. Und das Erstaunlichste: Selbst die Lehrer sitzen mit ihren Kindern am Rand der Straße, und nichts kann sie hindern, inmitten der großen Menschenmenge zu lehren und zu lernen. Ich selbst habe schon gesehen, wenn ich durch die Rennbahn ging, wie an ein und demselben Ort viele Menschen ihren verschiedenen Beschäftigungen nachgingen: der eine spielte Flöte, der andere tanzte, der dritte zeigte Zauberstücke, der vierte las eine Dichtung vor, während ein anderer sang und wieder ein anderer eine Geschichte oder ein Märchen erzählte. Und keiner von ihnen störte den andern oder hielt ihn von seinem Vorhaben ab. (Dion Chrysostomos, OrationesSämtliche Reden 20,8 – 10)

 

Die Geselligkeit in Straßen und Gassen war von vitaler Bedeutung. Zum öffentlichen Leben gehörte ferner das Gasthaus. Auch wer Geschäften nachging oder wer nur selten Arbeit und dafür Zeit in Hülle und Fülle hatte, was viele betraf, war täglich in der örtlichen Schenke zu Gast. Eine Skizze mag genügen: Wandmalereien in der »Taverne der Sieben Weisen« in Ostia illustrieren den Humor der Männer, die solche Orte aufsuchten. Die Taverne war eine ganz gewöhnliche Kneipe, die keinerlei Anspruch auf architektonischen oder sonstigen Glanz erhob. Die Sieben Weisen Griechenlands waren die Lieblinge der Elite und ihre Darstellung in Form von Büsten, Zitaten und anderem gehörten zur Ausstattung ihrer Villen. Die Ratschläge der Sieben Weisen in den Malereien der Taverne aber sind obszöner Art: Die Männer verrichten ihr Bedürfnis, eine Szene in derber Bildsprache. Neben Geburt und Vermögen war Bildung eines der Merkmale der Elite. Bildung stand zwar auch dem einfachen Mann offen – und die Sprüche der Sieben Weisen hatten den Weg bis hinunter in die Populärphilosophie gefunden –, dennoch kam Spott auf »hochgestochenes« Gelehrtentum dem Augenschein nach gut an. Im Gewölbe der Taverne sind teure Weine dargestellt. Hier ist offenbar demonstrativer Reichtum die Zielscheibe des Humors. Hohe Geburt wird nicht zum Gegenstand des Gespötts, stand aber mit den beiden anderen Kennzeichen der Elite in engster Verbindung. Man erinnert sich der Fabel vom Kampf der Mäuse und der Wiesel. Illustrationen dieser Fabel waren, wie Phaedrus berichtet, eine beliebte Dekoration in Wirtshäusern. Erzählt wird darin, dass Mäuse und Wiesel beständig miteinander im Kampf lagen, woraus immer die Wiesel als Sieger hervorgingen. Die Mäuse kamen überein, dass nur eine Führung durch die Elite die Lösung sein könne, und sie bestimmten die Stärksten, Klügsten und Tapfersten und diejenigen aus edlem Blut dazu, die Macht zu übernehmen und die Mäusearmee zu trainieren. Sobald die neue Elite ihre Armee nach bestem Wissen und Können reorganisiert und ausgebildet hatte, erklärten die Mäuse den Wieseln den Krieg. Die Generäle der Mäuse banden Stroh an ihre Köpfe, um sich vom gemeinen Haufen abzuheben. Schon unmittelbar nach Beginn der Kämpfe wandte sich das Kriegsglück gegen die Mäuse, die aus dem Glied brachen und en masse in den Schutz ihrer unterirdischen Behausungen flohen. Unglücklicherweise erwiesen sich die hohen »Strohfedern« als Hindernis für die Anführer, die darum nicht in ihren Löchern verschwinden konnten und bis auf die letzte Maus von den Wieseln gefangen und aufgefressen wurden (Babrios, Mythiambi AesopeiÄsopische Fabeln 31; Phaedrus, Fabulae AesopiaeÄsopische Fabeln 4,6). Der Inhalt dieser Fabel, der den Betrachtern sicherlich bekannt war, lieferte den Dünkel, um nicht zu sagen die Dummheit und Nutzlosigkeit der Hochgeborenen dem Spott aus.

In den Wirtshäusern und Bars ging es lebhaft zu. Es gab nicht nur Speise und Trank, häufig standen auch Frauen zur Verfügung. Im Inneren oder vor dem Haus rollten die Würfel; Unterhaltungen mit Nachbarn und Fremden über lokale Ereignisse und Politik sowie Klatsch ergänzten das allgemeine Stimmengewirr. Dank diesen persönlichen Kontakten blieb der Einzelne mit der Gemeinschaft in Verbindung und war auf dem Laufenden über Situationen und Ereignisse, die ihn betreffen konnten.

Auch die Straße war ein Ort des Lernens und der Nutzung des Gelernten. Da Bücher meist ein Gegenstand des Luxus für die Reichen waren, wurde Literatur jeglichen Niveaus mündlich vermittelt. Dichter standen in Parks und an Straßenecken und rezitierten für jeden, der zuhören wollte. All das bot den Menschen Gelegenheit zur Unterhaltung, die vom Kauz im Winkel bis zur Diskussion seriöser politischer Themen reichte – dies zumindest in den ersten Jahrhunderten des Römischen Reiches, in denen viele Provinzstädte ihre Beamten selbst wählten. Während die Ämter und der aus ehemaligen Amtsträgern bestehende lokale Senat unter dem Einfluss der Elite standen, war der normale Römer von amtlichen Maßnahmen unmittelbar betroffen. Neben dem politischen Tagesgeschäft erstreckte sich die Zuständigkeit dieser Männer und namentlich der Ädilen auf öffentliche Wohltaten wie Brotverteilung und die Organisation öffentlicher Unterhaltung, der Gladiatorenspiele und Theateraufführungen. Also war das Volk sowohl aus ökonomischen als auch aus sozialen Gründen engagiert. Doch so wie in Rom selbst die gesetzgebenden Volksversammlungen im Lauf der Kaiserzeit an wirklicher Macht verloren, wurden auch die lokalen Versammlungen durch eine zunehmend mächtige, fest etablierte herrschende Klasse an die Wand gespielt.

Trotz dieses langfristigen Trends nahmen zu jener Zeit noch viele gewöhnliche Menschen aktiv an politischen Kampagnen und Wahlen teil. Die zahlreichen Wahlgraffiti in Pompeji sind ein lebendiger Ausdruck des politischen Lebens, sowohl in ihrer Ernsthaftigkeit als auch in ihrer humorvollen Sicht:

 

Ich bitte euch, macht den C. Iulius Polybius zum Aedilen! Er sorgt für gutes Brot! (CIL IV 429 = ILS 6412 e/Arend, Nr. 640a [S. 670])

 

Wählt den M. Casellius Marcellus! Er ist ein guter Aedil, der herrliche Spiele geben wird. (CIL IV 999/Arend, Nr. 640a [S. 670])

 

Proculus, mach den Sabinus zum Ädilen und er wird dich dazu machen. (CIL IV 635 = ILS 6436/Krenkel, S. 19)

 

Andere Botschaften verraten eine Spur Humor:

 

Den Vatia schlagen zum Aedilen vor die Spitzbuben. (CIL IV 576 = ILS 6418 f/Arend, Nr. 640a [S. 670])

 

Den M. Cerrinius Vatia erbitten als Aedilen alle Spättrinker. (CIL IV 581 = ILS 6418d / Arend, Nr. 640a [S. 670])

 

Den Cn. Helvius Sabinus erbitten als Aedilen die Knoblauchhändler. (CIL IV 3485/Arend, Nr. 640a [S. 670])

 

Unterstützung der Kandidaten kam auch von Wirtschaftsgruppen:

 

Den Marcus Holconius Priscus fordern als Bürgermeister mit Jurisdiktion die Obsthändler in ihrer Gesamtheit (zusammen) mit Helvius Vestalis. (CIL IV 202 = ILS 6411 a/Schumacher, Nr. 267)

 

Die Müller bitten darum, für Gnaeus Helvius Sabinus als Ädil zu stimmen; auch die Nachbarn wünschen das! (CIL IV 7273)

 

Oder von religiösen Gruppen:

 

Den Cn. Helvius Sabinus erbitten als Aedilen sämtliche Isisverehrer. (CIL IV 787 = ILS 6420 b/Arend, Nr. 640a [S. 670])

 

Auch geographisch Vernetzte schlossen sich zusammen:

 

Seine Nachbarn bitten euch, für Marcus Lucretius Fronto als Ädilen zu stimmen. (CIL IV 6625)

 

Ich bitte euch dringend, o Nachbarn, Lucius Statius Receptus zum Obersten Magistrat mit gerichtlicher Macht zu wählen, einen Mann, der eure Stimmen verdient. Dies schrieb Aemilius Celer, euer Nachbar. Wer immer dies voll Hass zerstört, die Krätze soll dich treffen! (CIL IV 3775 = ILS 6409)

 

Die Leute, die rund um das Forum wohnen, bitten euch, stimmt für … (CIL IV 783)

 

Selbst die vom Wahlrecht ausgeschlossenen Frauen redeten ein Wörtchen mit:

 

Wählt Gnaeus Helvius Sabinus zum Ädilen. Das bittet Junia. (CIL IV 1168)

 

Es ist schwer abzuschätzen, welche Graffiti tatsächlich die Meinung des Volkes ausdrücken, denn viele sind sichtlich professionell ausgeführt. Da jährlich Wahlen stattfanden, mussten die Graffiti regelmäßig erscheinen, und für jeden neuen Urnengang wurden zweifellos Trupps von Wahlhelfern angeheuert und für diese Arbeit eingesetzt. Fairerweise muss man dennoch sagen, dass die Leute Wahlen zumindest wahrnahmen und in Bars und Bädern darüber sprachen. Viele beteiligten sich wahrscheinlich sowohl am Wahlkampf als auch an den Wahlen selbst, einem festlichen Anlass im Übrigen, bei dem Speisen und Getränke gereicht wurden. Mit der Zeit ging diese politische Aktivität vermutlich verloren, doch obwohl sie je nach Ort differierte, lieferte sie den Menschen Stoff zum Nachdenken, was umso bedeutsamer war, als die gewählten Beamten ihr tägliches Leben beeinflussen konnten. Solange die politische Aktivität anhielt, war die Straße ein wichtiger Austragungsort von Diskussionen und Wahlwerbung.

Fazit

Der normale Alltag gewöhnlicher Männer in Rom und im Römischen Reich war bestimmt von der Familie, von Geschäften und gesellschaftlichen Kontakten sowie von Ängsten und Sorgen, nicht anders als bei einem großen Teil der Menschheit überhaupt. Der Dichter Horaz, Sohn eines Freigelassenen, sagt es so:

 

[Der … erzählt:] Volteius Mena sei sein Name; er sei Auktionator mit geringem Vermögen, aber unbescholten und dafür bekannt, daß er zur rechten Zeit rührig sei, dann auch wieder ausruhe, und zu erwerben aber auch zu genießen verstehe. Er finde sein Vergnügen im Verkehr mit seinen bescheidenen Vereinsbrüdern, an seinem eigenen Herd, an den Festspielen und nach seinen Geschäften am Sport auf dem Marsfeld. (EpistulaeBriefe 1,7,55 – 59)

 

Der normale Römer führte ein Leben, das sich von dem der Elite mehr oder weniger stark unterschied. Kontakte zwischen beiden Schichten ergaben sich zwangsläufig – im Geschäftsleben, in rechtlichen Fragen und in der Verfolgung ihrer Interessen, wenn nötig mit Gewalt. Aber in seiner Welt und in seinen Anschauungen spiegelte sich die Realität der eigenen Existenz in ihrem engen Bezug zu Freigelassenen, Sklaven und gewöhnlichen Frauen. Er suchte seinen Weg getreu dem eigenen moralischen Kompass, lebte in Furcht und in Hoffnung und setzte auf Aberglauben, Magie und Religion, um sich die Nöte seiner Welt zu erklären und ihrer Herr zu werden.