GEWÖHNLICHE MÄNNER

Den überwiegenden Teil der Literatur und herausragenden materiellen Kultur, die wir gemeinhin die »römische« nennen, haben Kaiser, Senatoren und Ritter sowie die lokalen Gruppen der Magistrate, städtischen Räte und Priester des Römischen Reiches – mithin die Elite – geschaffen. Daraus ergibt sich, dass dort, wo »Römisches« zum Thema wird, der Beschreibung der römischen Gesamtbevölkerung in aller Regel die Geisteswelt und Kultur der Oberschicht zugrunde gelegt wird, etwa wenn man von »römischer Zivilisation« oder vom »Verhältnis der Römer zu Frauen« spricht oder schreibt. Von dieser Gepflogenheit weiche ich hier ab und richte meine Aufmerksamkeit stattdessen auf die normale Bevölkerung, auf die gewöhnlichen Menschen, die in der sozialen Pyramide unterhalb der Hochgestellten, und für diese im Allgemeinen unsichtbar, ihren Platz haben. Unter den gewöhnlichen Menschen verstehe ich jeden Freien unterhalb der Oberschicht und über dem mittellosen Tagelöhner oder Bauern. Ihre Anschauung vom Leben, mit ihren Augen betrachtet, gibt ein reiches Mosaik an Denk- und Handlungsweisen zu erkennen, vollzieht sich ihr Leben doch außerhalb des beschränkten Blickwinkels der aristokratischen Zirkel des Reiches. Ist ihre geistige Welt in gewissen elementaren Belangen auch dieselbe wie die der Elite, da beide letztlich Teil derselben Kultur waren, so lassen ihre Anschauungen und Einstellungen doch signifikante Unterschiede erkennen.

An der Spitze der sozioökonomischen Pyramide stand die Elite des Reiches. Das Qualifikationskriterium war das Vermögen: 400 000 Sesterzen für den Ritter, über eine Million Sesterzen für den Senator. Unter den geschätzten 50 bis 60 Millionen Menschen im Römischen Reich gab es vielleicht 5000 erwachsene Männer, die einen so immensen Reichtum besaßen. Unter ihnen, aber meist weit darunter, stand die Elite der Provinzstädte. Nimmt man für jede der 250 oder 300 Kleinstädte, deren Größe über die eines Dorfes hinausging, im Schnitt 100 oder 125 männliche Erwachsene an, kommt man auf weitere 30 000 bis 35 000 sehr wohlhabende Personen. Die steile sozioökonomische Stufung der römischen Welt hatte zur Folge, dass sich wahrscheinlich 80 Prozent oder mehr des Gesamtvermögens in den Händen der Elite befanden. Die Römer selbst drückten diesen scharfen Bruch zwischen Elite und Nicht-Elite im sozioökonomischen Bereich sprachlich aus: Die Schwerreichen nannten sie honestiores (die Ehrenwerteren), den Rest der Freien humiliores (die Geringeren). Dieser »Rest« umfasste 99,5 Prozent der Bevölkerung.

Unterhalb der Schwerreichen gab es auf der sozialen Leiter eine ansehnliche Zahl von Personen, die verglichen mit den sehr Vermögenden über weit weniger Mittel verfügten, Mittel allerdings, die am unteren Ende mit einiger Sicherheit das tägliche Brot garantierten und am oberen Ende zu einem Lebensstil verhalfen, der ausreichend Muße erlaubte, um soziale, politische und kulturelle Interessen zu verfolgen. Dazu gehörten die kleineren Landbesitzer, die Kaufleute und Handwerker, erfolgreiche Soldaten und die von diesen Gruppen und der Oberschicht Finanzierten (Lehrer, Ärzte, Architekten u. a.). Diese Männer und ihre Familien machten vielleicht 25 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Neben relativ gesicherten Ressourcen verbindet diese Normalbürger eine weitere Besonderheit: Sie alle, ob Kaufleute oder Handwerker oder wohlhabende Bauern, schätzen die Arbeit. Das führt zu einer Konvergenz der Anschauungen auch dann, wenn sich das tatsächliche Vermögen und die Beschäftigung der Einzelnen stark unterscheiden. Um diese Menschen geht es mir im Folgenden. Ihre geistige Welt möchte ich erfassen.

Soziale Einstellungen

Zeichen der Hierarchie und sozialen Stellung waren allgegenwärtig. Die Summe von 10 000 Denaren zum Beispiel, eine Stiftung des Manius Megonius Leo, Bürger der italischen Stadt Petelia (heute Strongoli), sollte investiert und der Ertrag abgestuft verteilt werden: 450 Denare des Jahresertrags wurden für die Feier seines Geburtstags ausgegeben. Mit 300 Denaren finanzierte man ein Bankett, allerdings nur für die lokale Elite, die Dekurionen. Was nach Abzug der Bankettkosten blieb, wurde in bar unter die anwesenden Dekurionen verteilt. Weitere 150 Denare waren für ein Bankett zu Ehren der Augustales bestimmt, der zur Elite zählenden Priestergruppe aus vermögenden Freigelassenen, und was übrig blieb, ging an die anwesenden Augustales. Schließlich erhielten noch jeder Bürger und seine Ehefrau einen Denar, eine Summe, die dem gut berechneten Tageslohn eines Arbeiters entsprach; ein Bankett war nicht vorgesehen (ILS 6468). Schenkungen dieser Art machten die soziale Hierarchie besonders sichtbar, ebenso wie die abgestufte Sitzordnung in den Amphitheatern. Das Leben in einer unverrückbar stratifizierten Welt bewirkte bei den Mittelständlern eine der Grundeinstellungen, die ein solches Dasein prägen: Behandle Gleiche als Gleiche; die unter dir Stehenden nutze, wenn möglich, aus; den über dir Stehenden beuge dich immer. Der Sinn des Einzelnen war darauf gerichtet, einer sei es physischen oder psychischen Verletzung zu entgehen, anderen hingegen Verletzungen zuzufügen – in römischen Begriffen: Man verteidigte seine Ehre und Stellung, indem man die Ehre und Stellung anderer beschnitt und zugleich die eigene vor einer Schmälerung durch die, welche als niedrig Gestellte galten, zu schützen suchte. Unterwerfung unter einen Geringeren oder Anpassung an eine Gruppe unter dem eigenen Stand (z. B. Sklaven) war, ob gedacht oder getan, für den Höherrangigen ein Bild des Schreckens. Die Stellung der offensichtlich Höherrangigen (Elite) und der offensichtlich Inferioren (Sklaven) war klarer definiert als die des Normalbürgers, in dessen Gruppe Macht und Status kolossale Unterschiede aufwiesen. Doch fehlten klare Merkmale einer »legitimen« Unterordnung oder Vorrangstellung, so dass gerade diese Welt intensiv von Ehrverletzungen, Feindseligkeiten und Rivalitäten geprägt war.

Hierarchisches Denken drückt der Vorstellungswelt jeder sozialen Gruppe seinen Stempel auf, indem es bestimmte Erwartungen und Stereotypen schafft. Die normalen Bürger waren keine Ausnahme. Wissenschaftler haben fünf der meist verbreiteten Vorurteile ausgemacht: gegen Freigelassene, gegen die Armen, gegen Kaufleute und gegen die Arbeit. Es lohnt sich, jedes davon mit dem geistigen Auge normaler Bürger zu prüfen.

Frei geboren zu sein war der grundsätzlich bevorzugte Status; er brachte keine rechtlichen Verpflichtungen und keine der Einschränkungen mit sich, wie sie Sklaverei und Freilassung auferlegten. Die große Mehrheit der freien Bevölkerung bestand zu allen Zeiten aus Freigeborenen, denn der rechtliche Status der Freigelassenen war mit deren Generation erloschen. Es ist klar, dass die Elite den Freigelassenen, die den Anspruch erhoben, sich ihres sozialen oder ökonomischen Kapitals zu bemächtigen, starke Vorurteile entgegenbrachte. Für die verbreitete Annahme, dass die Voreingenommenheit der Elite gegenüber den Freigelassenen in allen Segmenten der frei geborenen Gesellschaft verbreitet war, gibt es allerdings nur wenig Beweise. Das Thema kommt im Kapitel über die Freigelassenen ausführlich zur Sprache. Doch das Vorurteil gegenüber den Armen war zweifellos real. Das Graffito auf einer Wand in Pompeji fasst es zusammen:

 

Ich verabscheue die Armen! Wer auch immer etwas umsonst erbittet, ist ein Holzkopf. Erst zahlen, dann kriegt er die Ware. (CIL IV 9839 b/Hunink, Nr. 113)

 

Auch der neutestamentliche Jakobusbrief weist unzweideutig auf das Bestehen dieses Vorurteils hin, und sein Autor stellt es im Kontext der christlichen Gemeinschaft als verwerflich dar:

 

Liebe Brüder, haltet nicht dafür, daß der Glaube an Jesum Christum, unsern Herrn der Herrlichkeit, Ansehung der Person leide. Denn so in eure Versammlung käme ein Mann mit einem goldenen Ringe und mit einem herrlichen Kleide, es käme aber auch ein Armer in einem unsaubern Kleide, und ihr sähet auf den, der das herrliche Kleid trägt, und sagtet zu ihm: Setze du dich her aufs beste! und sprächet zu dem Armen: Stehe du dort! oder: Setze dich her zu meinen Füßen! ist’s recht, daß ihr solchen Unterschied bei euch selbst macht und richtet nach argen Gedanken? (Jakobus 2,1 – 4)

 

Starke Ressentiments vonseiten der gewöhnlichen Bevölkerung bestanden auch gegenüber den Sklaven. Das zeigen die Botschaften des Apostels Paulus an die verschiedenen Gruppen der Christen: Immer wieder betont er seine ablehnende Haltung gegenüber dem fundamentalen Unterschied, der in der Gesellschaft zwischen Freien und Sklaven besteht. Die wiederholten Erwähnungen sind ein Hinweis darauf, dass alte Vorurteile zäh haften – seine Adressaten taten sich offenbar schwer damit, ihre Sklaven weniger voreingenommen zu behandeln, und die Ermahnung blieb oft folgenlos. Ein weiteres Beispiel für die Kluft zwischen Freien und Sklaven bietet der Roman Asinus aureus (Der goldene Esel) des Apuleius: Lucius’ Verwandlung in einen Esel und schließlich seine Rückverwandlung in einen Menschen liest sich leicht als allegorische Reise aus der Freiheit in die Sklaverei und zurück. Alle seine Abenteuer zeigen, wie hart es ist, versklavt zu sein, und wie menschenunwürdig das Dasein der Sklaven ist.

Ein anderes Vorurteil dagegen ist zu streichen: Aversionen gegenüber dem Händlertum. In der Oberschicht war man allgemein der Ansicht, Kaufleute seien Lügner und Diebe. Wurde dieses Urteil aber von der breiten Bevölkerung geteilt? In seinem Brief an die Philipper bedient sich Paulus auf weite Strecken einer kaufmännisch gefärbten Sprache – verbreitet finden sich Verben des Wechselns und Verrechnens, die gebraucht werden, um Paulus’ Gedanken über die Christengemeinde zu vermitteln. Damit ist nicht nur auf die Herkunft des Apostels aus dem Händlermilieu verwiesen, sondern auch auf die Tätigkeit seines Publikums in diesem Bereich und dessen durchaus positive Einschätzung. Die Purpurkrämerin Lydia (Apostelgeschichte 16,14 f.) gehörte in diesen Kreis, und auch hier fehlen negative Konnotationen. Die Kaufleute selbst waren stolz auf ihre Fähigkeiten, wie auch dieser im Fernhandel Tätige:

 

Wenn es dir keine Mühe ist, der du vorübergehst, verweile und lies dieses. Ich jagte oft über die große See auf Schiffen mit schnellen Segeln und erreichte viele Länder. Dies ist das Ende, das mir die Parzen einst bei der Geburt gesponnen. Hier habe ich alle Sorgen und Mühen niedergelegt. Hier fürchte ich weder die Sterne noch die Wolken noch die wilde See, noch fürchte ich, dass meine Ausgaben meinen Verdienst übersteigen. (CIL IX 60, Brindisi)

 

Neben den Fernhändlern gab es die Kaufleute vor Ort, die im Nahbereich entweder mit lokal produzierten Gütern handelten oder Ware en gros einkauften und zum Ortspreis verkauften. Wie Inschriften bezeugen, sahen sich diese Kaufleute als Gegenbild der Vorstellung vom trügerischen, unehrlichen Händler, die im Überlieferungsgut der Elite umgeht. Lucius Nerusius Mithres, Händler in einer Kleinstadt, hielt fest:

 

Ich verkaufte Waren, die die Leute brauchen konnten, meine Ehrlichkeit wurde immer und überall gepriesen, das Leben war gut … ich bezahlte immer meine Steuern, ich war freimütig in allem, so gerecht wie ich konnte zu jedermann, mit dem ich zu tun hatte. Ich half so gut ich konnte denen, die meine Hilfe suchten. Unter meinen Freunden war ich hochangesehen … (CIL IX 4796, Vescovio, Italien)

 

Praecilius, ein Geldwechsler (argentarius) in Cirta, Mitglied also der hochsuspekten Klasse der Bankiers, schreibt, dass er immer das Vertrauen seiner Kunden besessen habe und stets aufrichtig und gut gewesen sei:

 

Hier schweige ich und beschreibe mein Leben in Versen. Ich erfreute mich eines leuchtenden Rufs und der Höhe des Wohlstands. Praecilius mit Namen, gebürtig aus Cirta, war ich ein geschickter Bankier. Meine Ehrlichkeit war wunderbar, und ich hielt es immer mit der Wahrheit; ich war höflich zu allen, und wem stand ich nicht in seinem Kummer bei? Ich war immer fröhlich, und gastlich gegenüber meinen lieben Freunden; eine große Veränderung kam in mein Leben nach dem Tod der tugendhaften Valeria. Solange ich konnte, erfreute ich mich der Freuden des heiligen Ehelebens; ich feierte hundert glückliche Geburtstage in Tugend und Glück; aber der letzte Tag ist gekommen, an dem nun der Geist meine erschöpften Glieder verlässt. Im Leben verdiente ich die Titel, die ihr lest, da Fortuna es wollte. Sie hat mich nie verlassen. Folgt mir auf gleiche Weise; hier erwarte ich euch! Kommt! (CIL VIII 7156, Constantine, Algerien)

 

Gegen Gewinne hatten die Kaufleute natürlich nichts einzuwenden und dankten den Götter dafür:

 

Geweiht drei Tage vor dem dritten Tag des Juni während des Konsulats von Dexter (zum zweiten Mal) und Fuscus. Geweiht dem Merkur, dem mächtigen Geber von Gewinn und Erhalter von Gewinn. Gaius Gemellius Valerianus, Sohn des Gaius, aus dem Bezirk Oufentina, Mitglied des Vier-Männer-Komitees mit polizeilicher Gewalt, Gerichtspräfekt, mit Cilonia Secunda, seiner Ehefrau und Valeria und Valeriana Secunda, seinen Kindern. Er errichtete dies in Erfüllung eines Gelübdes und weihte es an einem Ort, den die Gemeindebehörden genehmigt haben. (CIL V 6596 = ILS 3199, Fontanetto da Po, Italien)

 

Den Kaufleuten fehlte es mithin nicht an Selbstsicherheit. Natürlich legt sich die Vermutung nahe, dass die Beziehungen in bestimmten Fällen auch angespannt sein konnten, doch die Zeugnisse von Artemidor und anderen stehen in Einklang mit dem positiven Bild, das die Erfahrungen des Paulus den normalen Bürgern vermitteln, die mit solchen Leuten zu tun haben. Auch die Geschäftsleute im Roman des Apuleius und in Petrons Satyrica werden als normale Menschen geschildert; sie sind nicht stigmatisiert.

Ebenso wenig lassen sich in der normalen Bevölkerung Zeichen für die Verachtung der Handwerker ausmachen, die in der Oberschicht geläufig war. Cicero etwa erklärt: »Auch alle Handwerker treiben ein niedriges Gewerbe« (De officiisVom rechten Handeln 1,42,15). Der Vater des Schriftstellers Lukian dagegen kann als exemplarisches Beispiel für die Ansicht der Mittelschicht vom Handwerk gelten. Nach dem Willen seines Vaters sollte Lukian zwar eine gewisse Bildung genießen, doch auf längere Sicht bei einem der Brüder seiner Frau in die Lehre gehen und ein Handwerk erlernen. Die Reaktion Lukians, der gegen diesen Plan aufbegehrte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Vater den Handwerksberuf für vorteilhaft hielt. Lukians Familie sah im Leben eines Handwerkers nichts Beschämendes. Tatsächlich spielte sogar Lukian selbst mit dem Gedanken, bis ihm im Traum die »Gelehrsamkeit« erschien und ihn davon überzeugte, dass die Ansicht der Oberschicht vom vulgären Handwerk richtig sei und dass er eine Ausbildung zum Rhetor und Gelehrten durchlaufen solle.

Ein Ton des Stolzes, gemischt mit Trauer, spricht auch aus der Grabinschrift des Vireius Vitalis Maximus. Er hatte Vireius Vitalis adoptiert, »einen Burschen mit vielversprechender Begabung für den Beruf des Handwerkers«, hatte ihn in diesem Metier ausgebildet und gehofft, der Junge würde sein Geschäft weiterführen und ihn im Alter unterstützen. In Artemidors Traumbuch (oneirokritika) wie auch im Carmen Astrologicum des Dorotheos von Sidon sind verschiedene handwerkliche Tätigkeiten und geschäftliche Situationen erwähnt, und nichts deutet auf eine Geringschätzung der so Beschäftigten hin.

In der Welt der gewöhnlichen Römer hatten Handwerker und Händler ihren Platz, ohne dass man ihnen Vorurteile entgegenbrachte. Zahlreiche Grabinschriften vermerken Beruf oder Arbeit der Verstorbenen. Die Arbeit ist Teil der Identität des Widmungsträgers, denn fast alle Epitaphe (98 %) stammen entweder von den Verstorbenen selbst oder von ihrer Familie – fast keine von Berufs- oder Arbeitskollegen oder von einem Schutzherrn (patronus). In der Oberschicht findet die Arbeit natürlich keine Erwähnung, denn für sie ist Arbeit kein Anlass zum Stolz. Alle anderen jedoch – Freie, Freigelassene und Sklaven – räumen ihr in den Inschriften einen wichtigen Platz ein. Damit ist klar belegt, dass eines der Kennzeichen des geistigen Habitus der gewöhnlichen Menschen die Wertschätzung der Arbeit war. Hier liegt einer der auffälligsten Unterschiede zwischen der Sichtweise der Elite und der des einfachen Mannes. Die Voreingenommenheit einer Elite, die auf Arbeit und Handel herabsieht, hilft das Schattendasein des einfachen Mannes zu erklären. Die Vorstellung, dass Arbeit in der Welt der Römer keinen Wert darstellte, muss also revidiert werden.

Obwohl der hierarchische Charakter der Gesellschaft Vorurteile quasi voraussetzte, ging die moralische Welt des normalen Römers nicht in einer Ansammlung von Stereotypen auf. Es lohnt sich, ein Bild dieser Welt zu entwerfen, obwohl natürlich nicht notwendig jede moralische Anschauung im Alltagsleben des Einzelnen ihren Ausdruck fand. Ich fasse die Hauptpunkte dieser moralischen Welt gewöhnlicher Menschen kurz zusammen: Die Ehe wird geschätzt; Monogamie ist die Norm. Eheliche Treue ist wichtig. Ehefrauen müssen treu, verfügbar und verführerisch, Ehegatten tugendhaft sein. Die philosophische Auffassung, dass Sexualität nicht mehr als eine beiläufige Beschäftigung sei, der man ohne besonderes Vergnügen allein zum Zweck der Fortpflanzung obliege, teilen die Männer nicht. Keuschheit weiß man zu würdigen, ohne damit homosexuelle Beziehungen und gelegentliche männliche Untreue als inakzeptabel auszuschließen. Der Gang zur Prostituierten ruft keine moralische Empörung hervor, wie unten (Kap. 7) ausführlicher dargestellt wird. Scheidung ist möglich und wird akzeptiert. Lügen, Betrug und Diebstahl sind grundsätzlich verwerflich. Bei Geschäften innerhalb der Verwandtschaft sowie mit Gleich- oder Höherrangigen wird Ehrlichkeit erwartet; bei Geschäften mit anderen Partnern hingegen sind die Umstände vieldeutig und »Raffinesse« und Betrug zur persönlichen Bereicherung erlaubt. Jedermann soll fair und gerecht behandelt werden, wobei »Fairness« auf einem Konzept ausgleichender Gerechtigkeit beruht.