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Zweiter Monat des Sommers – 17. Tag

 

Renisenb saß im Eingang zur Felsenkammer und blickte traumverloren über den Nil.

Sie dachte an Horis Worte über die Verderbnis, die von innen kam, und sie erkannte jetzt, dass er sie damals schon hatte vorbereiten wollen. Sie war so sicher, so blind gewesen…

Nofret hatte kommen müssen, damit ihr die Augen aufgingen über ihre Familie.

Ja, mit Nofrets Ankunft hing alles zusammen.

Mit Nofret war der Tod gekommen…

Und das Böse war noch immer mitten unter ihnen.

Renisenb erschauerte und stand auf.

Sie konnte nicht länger auf Hori warten. Die Sonne war im Begriff unterzugehen. Warum mochte er wohl nicht gekommen sein?

Sie sah um sich und begann den Pfad ins Tal hinabzugehen.

Ringsum herrschte Stille zu dieser Abendstunde. Was hatte Hori aufgehalten? Wenn er gekommen wäre, dann hätten sie wenigstens diese Stunde gemeinsam erleben können.

Es blieben ihr nicht mehr viele solcher Stunden. Wenn sie erst Kamenis Frau war… Oh, aber sie liebte Kameni doch, den schönen jungen Mann mit dem lachenden Antlitz, und sie wollte ihn heiraten, weil sie selber es so wünschte, nicht weil ihre Familie es verfügt hatte.

Hatte sie nicht einmal zu Hori gesagt, dass sie diesen Pfad in Nofrets Todesstunde allein hinuntergehen müsse? Einerlei, ob sie sich fürchtete oder nicht…

Nun, sie tat es jetzt. Gerade zu dieser Stunde hatten sie und Satipy sich über Nofrets Leiche gebeugt. Und ungefähr zu dieser Stunde war Satipy ihrerseits den Pfad hinuntergegangen und hatte plötzlich zurückgeblickt – um ihrem Verhängnis ins Auge zu sehen.

Gerade an dieser Stelle auch. Was hatte Satipy gehört, das sie veranlasst hatte, sich plötzlich umzublicken?

Schritte?

Schritte… aber Renisenb hörte ja jetzt Schritte hinter sich… Schritte, die ihr folgten.

Ihr Herz klopfte angstvoll. Es stimmte also! Nofret befand sich hinter ihr, folgte ihr…

Furcht ergriff sie, aber sie ging nicht langsamer. Sie eilte auch nicht weiter. Sie musste die Furcht überwinden, denn ihres Wissens hatte sie nichts zu bereuen…

Sie beruhigte sich, nahm all den Mut zusammen, und dann wandte sie, weitergehend, den Kopf.

Da empfand sie große Erleichterung. Yahmose folgte ihr. Kein Geist aus dem Totenreich, sondern ihr Bruder. Offenbar hatte er in der Opferkammer zu tun gehabt und sie verlassen, kurz nachdem Renisenb daran vorbeigekommen war.

Mit einem kleinen frohen Aufschrei blieb sie stehen.

»Oh, Yahmose, ich freue mich, dass du es bist.«

Er kam schnell näher. Sie wollte gerade weitersprechen, wollte ihm von ihrer törichten Angst berichten, als die Worte auf ihren Lippen gefroren.

Das war nicht der Yahmose, den sie kannte – der sanfte, freundliche Bruder. Seine Augen glänzten, und er fuhr sich mit der Zunge über den trockenen Mund. Die Hände, die er vor sich hielt, waren leicht gekrümmt, so dass seine Finger wie Krallen aussahen.

Er blickte sie an, und der Ausdruck in seinen Augen war unmissverständlich. Es war der Ausdruck eines Menschen, der getötet hatte und abermals töten wollte. Sein Gesicht trug eine wollüstige Unbarmherzigkeit zur Schau, eine böse Befriedigung.

Der unerbittliche Feind war Yahmose! Hinter der Maske des sanften, freundlichen Antlitzes – dies!

Renisenb schrie auf – es war ein schwacher, hoffnungsloser Schrei.

Der Tod nahte ihr. Mit Yahmoses Kraft konnte sie sich nicht messen. Hier, wo Nofret abgestürzt war, wo der Pfad sich verengte, hier musste auch sie zu Tode stürzen…

»Yahmose!«

Es war eine letzte flehentliche Bitte – in diesem Ausruf seines Namens lag die ganze Liebe, die sie immer für ihren ältesten Bruder gehegt hatte.

Sie flehte umsonst. Yahmose stieß ein leises, unmenschliches, glückliches Lachen aus.

Dann stürzte er vorwärts, und seine grausamen Hände krümmten sich, als ob es sie danach verlangte, sich um ihren Hals zu legen…

Renisenb lehnte sich an die Felswand und streckte abwehrend die Arme aus in einem vergeblichen Versuch, ihn von sich abzuhalten. Letztes Entsetzen… der Tod…

Und da hörte sie einen Laut, ein leises, melodiöses Schwirren… Etwas kam singend durch die Luft geflogen. Yahmose blieb jählings stehen, schwankte und fiel dann mit einem lauten Schrei bäuchlings zu ihren Füßen nieder. Benommen starrte sie auf den Federschaft eines Pfeils. Dann blickte sie hinab – dort unten stand Hori; er hielt den Bogen immer noch schussbereit.

»Yahmose… Yahmose…«

Immer wieder murmelte Renisenb, vor Schreck wie gelähmt, den Namen. Sie konnte es nicht glauben…

Sie stand vor der kleinen Felsenkammer, Hori hatte den Arm um sie gelegt. Sie vermochte sich kaum zu erinnern, wie er sie wieder hinaufgeführt hatte. Sie war nur fähig gewesen, voller Staunen und Entsetzen den Namen zu wiederholen.

Hori sagte milde: »Ja, Yahmose. Die ganze Zeit.«

»Aber wie? Und warum? Und wie konnte er es sein – er wurde ja selber vergiftet. Er starb beinahe.«

»O nein. Er trank sehr vorsichtig von dem Wein, nur gerade so viel, dass er krank wurde, und er übertrieb sein schlechtes Befinden. Lediglich auf diese Weise konnte er den Verdacht von sich ablenken, das wusste er.«

»Aber er kann doch Ipy nicht getötet haben! Er war ja so schwach, dass er kaum zu stehen vermochte!«

»Auch das täuschte er vor. Entsinnst du dich nicht, dass Mersu sagte, er würde schnell wieder zu Kräften kommen, sobald das Gift seinen Körper verlassen hätte? So war es in Wirklichkeit.«

»Aber warum, Hori? Das begreife ich nicht – warum?«

Hori seufzte.

»Weißt du noch, Renisenb, wie ich einmal mit dir über die Verderbnis sprach, die von innen kommt?«

»O ja. Ich dachte erst heute Abend daran.«

»Du meintest, Nofret hätte das Böse mitgebracht. Das stimmt nicht. Das Böse war schon hier im Herzen des Hauses verborgen. Nofret zerrte es bloß ans Licht. Ihre Anwesenheit ließ kein Verstecken mehr zu. Kaits sanfte Mütterlichkeit wurde zu unbarmherziger Selbstsucht, die nur auf das eigene Wohl und das ihrer Kinder bedacht war. Sobek verwandelte sich von einem fröhlichen, bezaubernden jungen Mann in einen prahlerischen, ausschweifenden Schwächling. Ipy war kein verwöhntes, reizvolles Kind mehr, sondern ein eigensüchtiger Jüngling, der Pläne schmiedete. Obwohl Henet ergebene Liebe heuchelte, begann das Gift sich deutlich zu zeigen. Die einst so herrschsüchtige Satipy wurde feige. Sogar Imhotep verlor seine Würde.«

»Ja, ja, das habe ich auch festgestellt.« Renisenb wischte sich die Augen. »Aber warum musste diese Verderbnis von innen kommen?«

Hori zuckte die Schultern.

»Vielleicht muss es immer ein Wachstum geben, und wenn man nicht gütiger, weiser und größer werden kann, dann richtet sich das Wachstum nach der andern Seite und treibt die bösen Dinge weiter. Vielleicht ist die Verderbnis aber auch wie eine ansteckende Krankheit.«

»Doch Yahmose… gerade er schien stets der gleiche zu sein.«

»Ja, und das ist der eine Grund, warum ich ihn verdächtigte. Die andern schufen sich durch ihr Temperament eine gewisse Erleichterung. Yahmose aber ist immer schüchtern gewesen, leicht lenkbar und zu zaghaft, um sich aufzulehnen. Er liebte Imhotep und arbeitete hart, um ihm gefällig zu sein, und Imhotep fand ihn gutwillig, aber dumm und langsam. Er verachtete ihn. Auch Satipy behandelte ihn mit der ganzen Überlegenheit ihrer herrschsüchtigen Natur. Allmählich wurde sein Groll immer stärker, fraß sich immer tiefer in ihn ein. Je schwächer er wirkte, desto mehr tobte innerlich seine Wut. Und dann, gerade als er hoffen durfte, endlich den Lohn für seinen Fleiß zu erhalten und von seinem Vater zum Teilhaber ernannt zu werden, gerade da kam Nofret. Nofret war der zündende Funke. Sie verletzte alle drei Brüder in ihrer Männlichkeit, und sie bewirkte, dass Satipys beißende Zunge für Yahmose unerträglich wurde. Satipys Hohnworte, ihre Behauptung, sie wäre mehr Mann als er, raubten ihm die Selbstbeherrschung. Er traf Nofret auf diesem Pfad hier, und in seiner rasenden Wut stieß er sie hinunter.«

»Aber es war doch Satipy…«

»Nein, nein. In diesem Punkt habt ihr euch alle geirrt. Satipy war Zeuge seiner Tat – sie stand unten. Verstehst du jetzt?«

»Yahmose befand sich doch mit dir auf der Pflanzung.«

»Ja, während der letzten Stunde. Aber du musst dir einmal klarmachen, Renisenb, dass Nofrets Leiche schon kalt war, als du sie fandest. Du hast selber ihre Wange berührt. Du dachtest, sie wäre kurz vorher erst abgestürzt, doch das war unmöglich. Sie muss schon mindestens seit zwei Stunden tot gewesen sein, sonst hätte sich ihr Gesicht in der heißen Sonne nicht kalt angefühlt. Satipy sah, wie es geschah. Sie trieb sich hier herum, von Angst erfüllt, ohne zu wissen, was sie tun sollte, dann erblickte sie dich und versuchte dich zurückzuhalten.«

»Hori, seit wann weißt du das alles?«

»Ich vermutete es schon bald. Satipys Benehmen brachte mich darauf. Offensichtlich fürchtete sie sich vor jemandem, und ich war dann überzeugt, dass die Person, vor der sie sich fürchtete, Yahmose war. Sie beherrschte ihn nicht mehr, sondern trachtete danach, ihm in jeder Weise zu gehorchen. Sie hatte einen großen Schrecken erlebt, verstehst du. Gerade Yahmose, den sie als den schwächsten aller Männer verachtete, hatte Nofret getötet. Dadurch wurde für Satipy die ganze Welt auf den Kopf gestellt. Wie die meisten herrschsüchtigen Frauen war sie feige. Dieser neue Yahmose ängstigte sie. Von ihrer Furcht getrieben, begann sie im Schlaf zu reden. Es wurde Yahmose bald klar, dass sie für ihn eine Gefahr bedeutete…

Und nun, Renisenb, kannst du dir selber klarmachen, was du an jenem Tag mit eigenen Augen gesehen hast. Es war kein Geist, den Satipy sah, so dass sie strauchelte. Sie sah das gleiche wie du heute. Sie sah in dem Gesicht ihres Gatten, der ihr folgte, die Absicht, sie hinunterzustoßen, wie er die andere Frau hinuntergestoßen hatte. In ihrem Entsetzen strauchelte sie, verlor das Gleichgewicht und stürzte ab. Und als ihre Lippen im Sterben das Wort ›Nofret‹ formten, da versuchte sie dir zu sagen, dass Yahmose Nofret ermordet hatte.«

Hori schaltete eine Pause ein und fuhr dann fort:

»Esa fand durch eine Bemerkung, die Henet in ganz anderem Zusammenhang machte, die Wahrheit heraus. Henet beklagte sich, dass ich sie nicht ansähe, sondern auf etwas hinter ihr blickte. Dann sprach Henet von Satipy. Blitzartig erkannte Esa, wie einfach die Lösung des Rätsels war. Satipy hatte nicht etwas hinter Yahmose gesehen, sondern sie hatte Yahmose gesehen. Um sich zu überzeugen, brachte Esa die Rede darauf, aber so, dass außer Yahmose niemand ahnen konnte, was sie meinte – falls ihr Verdacht zutraf. Ihre Worte überraschten ihn, und er verriet sich irgendwie, vielleicht nur mit einem Blick oder einer kleinen Bewegung; jedenfalls hatte sie nun die Gewissheit, dass ihr Verdacht stimmte. Aber Yahmose wusste nun, dass sie ihn verdächtigte. Und nachdem einmal ein Verdacht sich erhob, fügte alles sich ineinander, sogar die Geschichte, die der Viehhirte erzählt hatte – ein Knabe, der seinem Herrn Yahmose vollkommen ergeben war und alles tat, was er ihm befahl, der auch willig die Medizin schluckte, die ihn in ewigen Schlaf versenkte…«

»O Hori, es ist so schwer zu glauben, dass Yahmose so etwas tun konnte! Nofret, ja… das verstehe ich. Aber wozu die anderen Morde?«

»Es lässt sich nicht leicht erklären, Renisenb, aber wenn das Herz sich erst einmal dem Bösen geöffnet hat… das Böse blüht wie der Mohn im Korn. Vielleicht hatte sich Yahmose sein ganzes Leben lang nach Gewalttaten gesehnt, ohne sie ausführen zu können. Er verabscheute die untergeordnete Rolle des Schwächlings, die er spielen musste. Ich glaube, dass ihm die Ermordung Nofrets ein starkes Machtgefühl verliehen hat. Das wurde ihm zuerst durch Satipy klar, die ihn nun fürchtete. All die Kümmernisse, die so lange in seinem Herzen begraben gelegen hatten, hoben jetzt den Kopf – wie die Schlange sich damals hier erhob. Sobek war schöner, Ipy klüger als er – deshalb mussten sie aus dem Weg geräumt werden. Ja, Yahmose wollte der Herrscher im Hause sein, die einzige Stütze seines Vaters! Satipys Tod trug dann dazu bei, dass ihm das Töten Freude und Befriedigung bereitete. Sein Machtgefühl wuchs dadurch. Danach verlor er gänzlich die Beherrschung über den Geist, von da an war er ganz und gar vom Bösen besessen.

Du warst keine Nebenbuhlerin, Renisenb. Soweit er dessen noch fähig war, liebte er dich. Aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dein Gatte den Besitz mit ihm teilen sollte. Ich glaube, dass Esa deiner Heirat mit Kameni aus zweierlei Gründen zustimmte – erstens nahm sie an, dass Yahmose, falls er wieder zuschlug, eher auf Kameni als auf dich zielen würde, und auf jeden Fall vertraute sie darauf, dass ich über dich wachen würde; und zweitens wollte Esa die Dinge auf die Spitze treiben, denn sie war ein kühner Mensch. Ich sollte Yahmose, der ja nicht ahnte, dass auch ich ihn verdächtigte, bei der Tat ertappen.«

»Das hast du ja auch getan«, sagte Renisenb. »O Hori, ich erschrak fürchterlich, als ich zurückblickte und ihn sah.«

»Ich weiß, Renisenb; aber es musste sein. Solange ich mich an Yahmoses Seite hielt, warst du sicher, doch das konnte nicht ewig so weitergehen. Ich wusste, dass er dich an der gleichen Stelle vom Pfad hinunterstoßen würde, sobald sich ihm eine Gelegenheit bot. Damit hätte er die abergläubischen Erklärungen der Todesfälle bekräftigt.«

»Die Botschaft, die Henet mir brachte, stammte also nicht von dir?«

Hori schüttelte den Kopf.

»Ich ließ dir keine Mitteilung zukommen.«

»Aber warum hat Henet dann…« Renisenb hielt verwirrt inne. »Ich begreife nicht, was für eine Rolle Henet bei all den Geschehnissen gespielt hat.«

»Ich glaube, Henet kennt die Wahrheit«, sagte Hori nachdenklich. »Heute Morgen hat sie Yahmose gegenüber einige Andeutungen fallen lassen – eine gefährliche Handlungsweise. Er bediente sich ihrer, um dir hier aufzulauern, und sie gab sich bereitwillig dazu her, weil sie dich hasst, Renisenb.«

»Ich weiß.«

»Henet glaubt wohl, dass ihr Wissen ihr Macht verleihen würde. Aber ich bezweifle, dass Yahmose sie noch lange hätte leben lassen. Vielleicht hat er sie sogar schon…«

Renisenb erschauerte.

»Yahmose war wahnsinnig«, sagte sie. »Er war von bösen Geistern besessen, aber so stand es nicht immer mit ihm.«

»Nein, und gleichwohl… erinnerst du dich, Renisenb, ich erzählte dir doch einmal, dass Sobek als Kind Yahmose heftig schlug und dass deine Mutter blass und zitternd herzukam und rief: ›Das ist gefährlich!‹ Wahrscheinlich meinte sie damit, es sei gefährlich, Yahmose so etwas anzutun. Vergiss nicht, am nächsten Tag war Sobek krank – man hielt es für eine Fleisch- oder Fischvergiftung; doch deine Mutter wusste wohl Bescheid über die sonderbare, zurückgedämmte Wut, die in der Brust ihres sanften, schwachen Söhnchens schwelte, und sie befürchtete, dass sie eines Tages aufflammen könnte…«

Wieder lief Renisenb ein Schauer über den Rücken.

»Ist denn niemand, was er scheint?«, fragte sie.

Hori lächelte sie an.

»Doch, einige wohl. Kameni und ich sind so, wie du uns siehst, denke ich. Kameni und ich…«

Die letzten Worte sprach er mit besonderer Betonung, und mit einem Mal wurde Renisenb klar, dass sie an einem Scheideweg ihres Lebens stand.

Hori fuhr fort:

»Wir lieben dich beide, Renisenb. Du weißt das sicher.«

»Und doch hast du zugelassen, dass meine Heirat beschlossen wurde«, erwiderte sie langsam. »Du hast nichts gesagt.«

»Es geschah zu deinem Schutz. Esa dachte ebenso. Ich musste unbeteiligt und fern bleiben, damit ich Yahmose dauernd überwachen konnte, ohne seine Feindschaft zu erregen.« Bewegt fügte Hori hinzu: »Du musst bedenken, Renisenb, dass Yahmose jahrelang mein Freund war. Ich liebte Yahmose sehr. Ich versuchte, deinen Vater zu beeinflussen, dass er ihm die Stellung verlieh, die er sich wünschte. Es gelang mir nicht. Dann war es zu spät. Obwohl ich zumindest überzeugt war, dass Yahmose Nofret getötet hatte, wollte ich es nicht glauben. Ich suchte sogar Entschuldigungsgründe für seine Tat. Yahmose, mein unglücklicher, gequälter Freund, war mir sehr teuer. Als dann Sobek, Ipy und schließlich auch Esa tot waren, da wusste ich, dass das Böse in Yahmose das Gute endgültig ausgelöscht hatte. Und so ist Yahmose durch meine Hand gestorben. Er hat einen schnellen, fast schmerzlosen Tod erlitten.«

»Tod… immerzu Tod…«

»Nein, Renisenb, heute siehst du nicht dem Tod entgegen, sondern dem Leben. Mit wem willst du dieses Leben teilen? Mit Kameni oder mit mir?«

Renisenb blickte über das Tal auf den Silberstreifen des Nils.

Vor ihr erstand sehr deutlich das lächelnde Antlitz Kamenis wie sie es an jenem Tag im Boot gesehen hatte. Schön, stark, fröhlich war er… Sie fühlte wieder ihr Blut klopfen. Sie liebte Kameni. Kameni konnte den Platz einnehmen, den Khay in ihrem Leben innegehabt hatte.

Sie dachte: Wir werden glücklich miteinander sein. Und wir werden gesunde, schöne Kinder haben. Es wird Tage der Arbeit geben und Tage der Freude. Das Leben wird wieder sein, wie ich es mit Khay kannte. Was könnte ich mehr verlangen? Was wünsche ich mir anderes?

Langsam wandte sie Hori das Gesicht zu. Es war, als ob sie ihm ohne Worte eine Frage gestellt hätte.

Er schien sie zu verstehen, denn er antwortete: »Als du noch ein Kind warst, liebte ich dich schon. Ich liebte deinen ernsten Ausdruck und das Vertrauen, mit dem du zu mir kamst und mich batest, dir dein zerbrochenes Spielzeug instand zu setzen. Und dann kehrtest du nach achtjähriger Abwesenheit zurück und kamst mit den Gedanken, die dich bewegten, zu mir. Und deine Gedanken sind wie die meinen, Renisenb; sie schweifen über den Fluss hinaus und erfassen Neues.«

»Ich weiß, Hori. Ich habe das auch so empfunden. Aber nicht immer. Es gibt Augenblicke, wo ich dir nicht zu folgen vermag.«

Sie war verwirrt. Wie das Leben mit Hori sein würde, das konnte sie sich nicht vorstellen. Trotz seiner Güte, trotz seiner Liebe zu ihr blieb er in gewisser Weise unberechenbar und unverständlich. Mit ihm erlebte man reiche Stunden von großer Schönheit – aber wie würde es im Alltag sein?

Sie hielt ihm beide Hände hin.

»O Hori, entscheide du für mich. Sag mir, was ich tun soll.«

Er lächelte sie an, wie er einst das Kind Renisenb angelächelt hatte. Aber er ergriff ihre Hände nicht.

»Ich kann dir nicht sagen, was du mit deinem Leben machen sollst, Renisenb. Es ist dein Leben, über das nur du entscheiden kannst.«

Da wurde ihr klar, dass sie keine Hilfe erhielt, dass ihre Sinne nicht angesprochen wurden, wie es durch Kameni geschehen war. Wenn Hori sie berührt hätte…, aber er berührte sie nicht.

Und die Wahl stellte sich ihr mit einem Mal in einer einfachen Form dar: ein leichtes Leben oder ein schweres Leben. Da verlockte es sie sehr, sich abzuwenden und den gewundenen Pfad hinabzugehen, hinunter zu dem normalen, glücklichen Leben, das sie kannte, das sie früher mit Khay geteilt hatte. Dort erwartete sie Sicherheit, tägliche Freuden und Leiden, nichts gab es zu fürchten außer Alter und Tod.

Tod… Von Lebensgedanken hatte sie wieder den Kreis zum Tod gezogen. Khay war gestorben. Vielleicht musste auch Kameni sterben, und dann verblasste sein Gesicht wie Khays Antlitz langsam in ihrer Erinnerung…

Sie betrachtete Hori, der ruhig neben ihr stand. Sonderbar, dachte sie, dass sie nie wirklich gewusst hatte, wie Hori aussah. Sie hatte es nie zu wissen brauchen.

Nun sprach sie, und der Ton ihrer Stimme war genau wie damals, als sie verkündet hatte, dass sie bei Sonnenuntergang den Pfad allein hinuntergehen wollte.

»Ich habe meine Wahl getroffen, Hori. Ich will mein Leben mit dir teilen, im Guten wie im Bösen, bis der Tod kommt…«

Als seine Arme sie umschlangen und die Berührung seiner Wange sie mit einer neuen Wonne erfüllte, durchströmte sie plötzlich ein berauschendes Lebensgefühl.

Wenn Hori sterben müsste, dachte sie, würde ich ihn nicht vergessen! Hori ist immerdar ein Lied in meinem Herzen. Das bedeutet, dass es keinen Tod mehr gibt.