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Erster Monat des Winters – 4. Tag

 

Renisenb hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, fast jeden Tag einmal zum Grab hinaufzugehen. Manchmal waren Yahmose und Hori dort zusammen, manchmal traf sie Hori allein, bisweilen war niemand dort, aber stets fühlte Renisenb sich erleichtert und voller Frieden, als wäre sie etwas Unbenennbarem entronnen. Am meisten freute sie sich, wenn sie Hori allein vorfand. Er empfing sie mit Würde und ohne Neugier, so dass sie sich in seiner Nähe wohl fühlte. Sie saß immer im Schatten des Eingangs zur Felsenkammer, schlug die Hände um das eine hoch gezogene Knie und schaute über den grünen Gürtel der Pflanzungen auf den blass schimmernden Nil und die dahinter verschwimmende Ferne.

Das erste Mal war sie hierher geflohen, um einer Frauenwelt zu entrinnen, die sie nicht zu vertragen vermochte. Auch jetzt hegte sie noch oft den Wunsch zu fliehen, aber dieses Verlangen beruhte nicht nur auf der Auflehnung gegen das häusliche Dasein, sondern auf einem dumpfen Bangen.

Eines Tages sagte sie zu Hori: »Ich habe Angst…«

»Warum hast du Angst, Renisenb?«

Er sah sie ernst an.

»Weißt du noch, wie du mir einmal von den beiden Übeln sprachst, von dem einen, das von außen, und dem andern, das von innen kommt?«

Hori nickte.

»Damals meintest du Früchte und Getreide, wie du mir erklärtest. Aber ich habe darüber nachgedacht – mit den Menschen verhält es sich ebenso.«

»Hast du das also herausgefunden? Du hast Recht, Renisenb.«

Sie bemerkte schroff: »Es vollzieht sich dort unten im Hause. Das Übel ist gekommen – von außen. Und ich weiß, wer es gebracht hat. Nofret.«

»Glaubst du?«, erwiderte Hori langsam.

»Ja, ja«, beharrte Renisenb heftig. »Früher stritten Satipy und Kait miteinander, um sich die Zeit zu vertreiben, und sie genossen den Zank. Jetzt aber verletzen sie sich absichtlich gegenseitig, und wenn sie sehen, dass ihre bösen Worte getroffen haben, freuen sie sich. Es ist entsetzlich, Hori, entsetzlich! Gestern geriet Satipy so sehr in Zorn, dass sie Kait mit einer langen Goldnadel in den Arm stach, und vor ein paar Tagen ließ Kait eine schwere Kupferpfanne mit kochendem Fett auf Satipys Fuß fallen. Ach, es ist überall dasselbe – Satipy schmäht Yahmose bis spät in die Nacht hinein, wir alle können sie hören. Und Sobek geht ins Dorf, hält sich dort bei schlechten Frauen auf, kommt betrunken heim und prahlt laut mit seiner Tüchtigkeit!«

»Einiges davon ist sicherlich wahr«, sagte Hori bedächtig. »Aber warum gibst du Nofret die Schuld?«

»Weil es ihr Werk ist! Die Dinge, die sie sagt – es sind Kleinigkeiten, aber geschickt angebracht –, bringen immer den Stein ins Rollen. Sie ist wie der Stachelstock, mit dem man den Ochsen antreibt. Manchmal denke ich, dass Henet sie aufhetzt…«

»Das könnte wohl sein«, meinte Hori nachdenklich.

Renisenb erschauerte.

»Ich mag Henet nicht. Ich hasse die Art, wie sie herumschleicht. Wie konnte meine Mutter sie nur herbringen und sie so lieben?«

»Henet behauptet, dass deine Mutter sie geliebt hat«, entgegnete Hori trocken.

»Warum liebt Henet Nofret so sehr, folgt ihr und flüstert ihr dauernd etwas zu? O Hori, glaub mir, ich habe Angst! Ich hasse Nofret! Ich wünschte, sie ginge fort. Sie ist grausam und böse!«

»Was für ein Kind du noch bist, Renisenb.« Dann raunte Hori ihr zu: »Gib Acht, da kommt Nofret.«

Renisenb wandte den Kopf. Sie sah Nofret den steilen Pfad heraufkommen.

Als Nofret oben angelangt war, blickte sie um sich und lächelte mit belustigter Neugier.

»Hierher entschlüpfst du also jeden Tag, Renisenb.«

Renisenb antwortete nicht. Sie ärgerte sich wie ein Kind, dessen Zufluchtsort entdeckt worden ist.

»Und das ist das berühmte Grab?«

»Du sagst es, Nofret«, gab Hori zurück.

Nofret betrachtete ihn mit ihrem katzenhaften Lächeln.

»Ich zweifle nicht daran, dass du es gewinnbringend findest, Hori. Du bist ein guter Geschäftsmann, wie ich gehört habe.«

In ihrer Stimme schwang ein wenig Bosheit, aber Hori blieb ruhig und lächelte auf seine ernste Weise zurück.

»Es ist für uns alle gewinnbringend. Der Tod bringt immer Gewinn.«

Nofret schauderte leicht, während ihre Augen über die Opfertische, den Eingang zum Schrein und die Schreintür glitten. Dann sagte sie mit Nachdruck:

»Ich hasse den Tod!«

»Das solltest du nicht«, erwiderte Hori ruhig. »Der Tod ist die Hauptquelle des Reichtums in Ägypten. Der Tod hat die Juwelen gekauft, die du trägst, Nofret. Der Tod nährt und kleidet dich.«

Sie starrte ihn an.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, dass Imhotep Ka-Priester ist, Totenpriester – all sein Land, sein Vieh, sein Holz, sein Flachs, seine Gerste, sein ganzer Besitz stammt aus der Grabstiftung.« Er machte eine Pause und fuhr dann nachdenklich fort: »Wir sind ein seltsames Volk, wir Ägypter. Wir lieben das Leben, und deshalb bereiten wir uns schon sehr früh auf den Tod vor. Dahinein wird der Reichtum Ägyptens gesteckt – in Pyramiden, in Gräber, in Grabstiftungen.«

Nofret fiel heftig ein: »Willst du wohl aufhören, vom Tod zu reden, Hori! Ich mag das nicht!« Brüsk drehte sie sich um und schritt den Pfad hinab.

Renisenb stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ich bin froh, dass sie gegangen ist«, sagte sie. »Du hast sie erschreckt, Hori.«

»Ja. Habe ich auch dich erschreckt, Renisenb?«

»N… nein. Was du sagtest, ist wahr.«

Hori bemerkte mit plötzlicher Erbitterung: »Alle Ägypter sind vom Tod wie besessen! Weil wir Augen im Leib haben, aber nicht in der Seele. Wir können uns kein anderes Leben vorstellen als dieses eine – kein Leben nach dem Tod. Wir haben keinen richtigen Glauben an einen Gott.«

Renisenb sah ihn verwundert an.

»Wie kannst du das sagen? Wir haben viele, viele Götter – so viele, dass ich sie nicht alle zu nennen vermag. Erst neulich sprachen wir davon, welche Götter wir vorziehen. Sobek ist ganz für Sakhmet, und Kait preist immer Meskhant. Kameni schwört auf Thoth, was durchaus natürlich ist, weil er Schreiber ist. Satipy ist für den falkenköpfigen Horus und auch für unsern eigenen Mereseer. Yahmose findet, dass Ptah verehrt werden muss, weil er alle Dinge erschaffen hat. Ich selber liebe Isis. Und Henet ist ganz für unsern Ortsgott Amun. Und dann ist da Re, der Sonnengott, und Osiris, vor dem die Herzen der Toten gewogen werden.«

Atemlos hielt Renisenb inne. Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit durch etwas anderes erregt.

»Schau dort!«, rief sie. »Nofret spricht mit Sobek. Sie lacht. Oh!« Sie ließ einen erstickten Aufschrei hören. »Nein, es ist nichts. Ich dachte, er würde sie schlagen. Sie geht ins Haus zurück, und er kommt hier herauf.«

Sobek sah wie eine Gewitterwolke aus.

»Möge ein Krokodil dieses Weib verschlingen!«, wütete er. »Mein Vater war noch törichter als sonst, als er sie hierher brachte!«

»Was hat sie zu dir gesagt?«, erkundigte Hori sich neugierig.

»Sie hat mich wie gewöhnlich beleidigt! Sie fragte mich, ob mein Vater mir noch mehr Holzverkäufe anvertraut hätte. Ihre Zunge ist gespalten wie die einer Schlange. Ich würde sie am liebsten umbringen.«

Er ging über die Plattform, ergriff einen großen Stein und warf ihn ins Tal hinunter. Als der Stein über die Felsen kollerte, schien er sich an dem Geräusch zu erfreuen. Er packte einen noch größeren Stein, doch sprang er im gleichen Augenblick jählings zurück, weil eine Schlange, die darunter gelegen hatte, den Kopf hob. Zischend reckte sie sich, und Renisenb erkannte, dass es eine Brillenschlange war.

Sobek hob einen schweren Stock auf und griff sie wütend an. Ein wohlgezielter Hieb zertrümmerte ihr den Kopf, aber Sobek fuhr fort, auf sie einzuschlagen, wobei er atemlos etwas vor sich hin murmelte. Renisenb war nicht sicher, ob sie richtig hörte, aber sie glaubte »Nofret« zu verstehen…

»Hör auf, Sobek!«, rief Renisenb. »Hör auf – sie ist ja tot!«

Sobek hielt inne, dann warf er den Stock weg und lachte.

»Eine Giftschlange weniger auf der Welt!«

Seine gute Laune schien wiederhergestellt, und er lachte immer noch, als er den Pfad hinunterschritt.

Renisenb lachte leise: »Ich glaube, Sobek tötet gern.«

»Ja.« Es lag keine Verwunderung in dem Wort. Hori bestätigte nur eine Tatsache, die ihm offenbar schon bekannt war.

Renisenb blickte ihn an und sagte: »Schlangen sind gefährlich… aber wie schön diese Brillenschlange war…«

Hori bemerkte träumerisch: »Ich weiß noch, als wir alle Kinder waren, griff Sobek einmal Yahmose an. Yahmose war ein Jahr älter, aber Sobek war größer und stärker. Er hatte einen Stein, mit dem er auf Yahmoses Kopf losschlug. Deine Mutter kam herbeigerannt und trennte die beiden. Ich weiß noch, wie sie rief: ›Das darfst du nicht tun, Sobek, es ist gefährlich!‹« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Sie war sehr schön… fand ich als Kind. Du gleichst ihr, Renisenb.«

»Wirklich?« Renisenb freute sich. Dann fragte sie: »War Yahmose schwer verletzt?«

»Nein, es war weniger schlimm, als es aussah. Dagegen war Sobek am nächsten Tag sehr krank. Vielleicht hatte er etwas gegessen, das ihm nicht bekommen war; doch deine Mutter sagte, sein Wutausbruch sei daran schuld und die Hitze.«

»Sobek ist jähzornig«, sagte Renisenb. Sie betrachtete die tote Schlange und schauderte.

Als Renisenb zum Haus zurückkehrte, saß Kameni mit einer Papyrusrolle auf dem Vorplatz und sang. Sie blieb stehen und lauschte seinen Worten.

»Ich will nach Memphis gehen«, sang Kameni, »ich will zu Ptah gehen, dem Herrn der Wahrheit. Ich will zu Ptah sagen: Gib mir mein Weib heute Abend. Ihre Schönheit dämmert herauf. Sie ist schön wie eine Lotosblume…«

Er sah auf und lächelte Renisenb an.

»Gefällt dir mein Lied, Renisenb?«

»Was für ein Lied ist das?«

»Ein Liebeslied aus Memphis.« Er wandte die Augen nicht von ihr ab, indes er weitersang: »Ihre Arme sind voller Blumen, ihr Haar ist gesalbt. Sie ist wie eine Prinzessin…«

Renisenb errötete. Schnell ging sie ins Haus, und sie stieß beinahe mit Nofret zusammen.

»Warum so in Eile, Renisenb?«

Nofrets Stimme klang scharf. Renisenb musterte sie leicht erstaunt. Nofret lächelte nicht. Ihr Gesicht war grimmig und gespannt, und Renisenb bemerkte, dass sie die Hände zu Fäusten ballte.

»Verzeih mir, Nofret, ich sah dich nicht. Es ist dunkel hier, wenn man aus der Helligkeit von draußen kommt.«

»Ja, es ist hier dunkel… Draußen ist es angenehmer, da kann man Kameni zuhören. Er singt schön, nicht wahr?«

»O ja.«

»Und doch bleibst du nicht, um ihm zu lauschen? Kameni wird enttäuscht sein.«

Wieder färbten sich Renisenbs Wangen rot. Nofrets kalter, forschender Blick bereitete ihr Unbehagen.

»Liebst du Gesang nicht, Renisenb?«

»Kümmert es dich, Nofret, was ich liebe und was nicht?«

»Kleine Katzen haben also Krallen.«

»Wie meinst du das?«

Nofret lachte.

»Du bist nicht so dumm, wie du tust, Renisenb. Dir gefällt Kameni wohl? Oh, das wird ihn zweifellos freuen.«

»Ich finde dich ganz abscheulich«, stieß Renisenb hervor.

Sie lief an Nofret vorbei, die spöttisch hinter ihr her lachte. Aber dieses Lachen wurde in der Erinnerung überdeckt von Kamenis Stimme, die sang, während seine Augen auf ihrem Antlitz ruhten…