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Zweiter Monat des Sommers – 15. Tag

 

Die alte Esa humpelte müde in ihr Zimmer.

Bis jetzt hatte sie nur körperliche Müdigkeit gekannt, doch nun musste sie sich eingestehen, dass auch seelische Müdigkeit sie ergriffen hatte.

Sie wusste, dass sie einen Beweis für ihre Vermutungen finden musste, doch sie brachte nur noch die Kraft auf, auf der Hut zu sein und sich zu schützen. Denn der Mörder – darüber gab sie sich keinerlei Illusionen hin – war bereit, einen weiteren Mord zu begehen.

Nun, sie mochte nicht das nächste Opfer sein. Sie war überzeugt, dass die Waffe Gift sein würde. Ein Überfall kam nicht in Frage, weil sie nie allein, sondern stets von Dienern umgeben war. Oh, gegen Gift wusste sie sich zu wappnen. Renisenb musste ihr die Speisen kochen und bringen. In ihrem Zimmer stand ein Weinkrug im Ständer, aber sie trank den Wein erst, nachdem ein Sklave davon gekostet und sie vierundzwanzig Stunden gewartet hatte, um sich zu vergewissern, dass er keine schlimme Wirkung ausübte. Sie ließ Renisenb an ihren Mahlzeiten teilnehmen, obwohl sie vorläufig für Renisenb noch nicht fürchtete. Möglich, dass man für Renisenb überhaupt nicht zu fürchten brauchte. Aber dessen konnte man nicht sicher sein.

An diesem Abend fühlte sie sich besonders müde. Sie hatte mit Imhotep die Frage von Renisenbs Wiederverheiratung besprochen. Imhotep war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hatte sein großspuriges Auftreten abgelegt und verließ sich auf den starken Willen und die Entschlossenheit seiner Mutter.

Was Esa betraf, so hatte sie Angst gehabt, etwas Verkehrtes zu äußern. Menschenleben konnten von einem falsch gewählten Wort abhängen.

Ja, sagte sie endlich, der Gedanke einer Heirat war gut. Und es blieb keine Zeit, unter hervorragenderen Familienmitgliedern einen Gatten zu suchen. Schließlich war die weibliche Linie entscheidend, der Gatte würde nur die Renisenb und ihren Kindern zufallende Erbschaft verwalten.

Deshalb handelte es sich um die Wahl zwischen Hori, der, Sohn eines kleinen benachbarten Landeigentümers, seine Lauterkeit und freundschaftlichen Gefühle bewiesen hatte, und dem jungen Kameni, dessen Anrecht sich auf seine Verwandtschaft mit der Familie gründete.

Esa überlegte ihre Antwort sorgfältig. Jetzt ein verkehrtes Wort, und Unheil konnte hereinbrechen.

Dann brachte sie ihre Entscheidung mit der ganzen Kraft ihrer beeindruckenden Persönlichkeit vor: Kameni sei zweifellos der richtige Gatte für Renisenb. Die infolge der kürzlichen Todesfälle sehr einfachen Hochzeitsfeierlichkeiten könnten in einer Woche stattfinden. Natürlich vorausgesetzt, dass Renisenb einwilligte. Kameni sei ein schöner, junger Mann, sie würden gesunde Kinder bekommen. Überdies liebten die beiden sich.

Nun, dachte Esa, musste man sehen, wie das Spiel lief, sie jedenfalls hatte ihren Zug getan.

Argwöhnisch blickte sie um sich, als sie ihr Zimmer betrat. Vor allem untersuchte sie den Weinkrug. Er war bedeckt und versiegelt, wie sie ihn verlassen hatte. Sie versiegelte ihn stets, ehe sie ihr Zimmer verließ, und das Petschaft hing sicher an ihrem Hals.

Sie rief ihre kleine Sklavin.

»Weißt du, wo Hori ist?«

Das Mädchen antwortete, Hori sei oben beim Grab in der Felsenkammer.

Esa nickte befriedigt.

»Geh zu ihm hinauf. Sag ihm, dass er morgen früh, wenn Imhotep, Yahmose und Kameni auf dem Feld sind, um die Ernte zu begutachten, und Kait mit den Kindern zum See gegangen ist, zu mir kommen soll. Hast du verstanden? Wiederhole.«

Die kleine Sklavin tat, wie geheißen, dann ging sie, die Botschaft zu überbringen.

Ja, ihr Plan war gut. Die Beratung mit Hori würde im Geheimen stattfinden, denn Henet wollte sie mit einem Auftrag zum Webhaus senden. Esa gedachte Hori vor dem Kommenden zu warnen und offen mit ihm zu reden.

Als das Mädchen mit dem Bescheid zurückkehrte, dass Hori zur verabredeten Zeit erscheinen würde, stieß Esa einen Seufzer der Erleichterung aus.

Nachdem alle diese Dinge erledigt waren, überschwemmte die Müdigkeit sie gleich einer Flut. Sie befahl der Sklavin, ihr das Gefäß mit der wohlriechenden Salbe zu bringen und sie zu massieren.

Die Behandlung tat ihr gut; sie streckte sich schließlich aus, ließ den Kopf auf der Holzstütze ruhen und schlief, von allen Befürchtungen befreit, ruhig ein.

Sie erwachte einige Stunden später mit einem seltsamen Kältegefühl. Ihre Füße, ihre Hände waren stumpf und tot. Es war, als zöge sich ihr ganzer Körper zusammen. Sie merkte, wie ihr Denkvermögen, ihr Wille gelähmt wurden und wie ihr Herzschlag sich verlangsamte.

Sie dachte: Das ist der Tod… so sterben alte Menschen.

Doch dann wusste sie es plötzlich genau. Dies war kein natürlicher Tod! Dies war der Feind, der aus dem Dunkel zuschlug.

Gift…

Aber wie? Wann? Was sie gegessen, was sie getrunken hatte, alles war gekostet worden… es war ihr kein Fehler unterlaufen.

Wie also? Wann?

Mit ihrem letzten Denkvermögen versuchte Esa das Rätsel zu lösen. Sie musste es wissen, musste, ehe sie starb.

Sie fühlte den Druck auf ihr Herz stärker werden, fühlte die tödliche Kälte und den Schmerz beim Atmen.

Wie hatte der Feind das fertig gebracht?

Und jählings wie ein Blitz kam ihr die Erkenntnis. Vor langer, langer Zeit hatte ihr Vater einen Versuch gemacht, um zu beweisen, dass Gift durch die Haut in den Körper dringen konnte; ein Schaf war geschoren und mit Salben eingerieben worden. Auf diese Weise hatte der Feind sie erreicht. Ihr Gefäß mit der wohlriechenden Salbe, die jede Ägypterin benützte. Darin war das Gift gewesen…

Und morgen konnte sie nicht mit Hori sprechen, konnte ihm nicht mitteilen, was sie wusste. Es war zu spät…

 

Am nächsten Morgen lief die erschrockene kleine Sklavin durchs Haus und schrie, ihre Herrin sei im Schlaf gestorben.

Imhotep blickte auf die tote Esa nieder. Sein Gesicht trug einen bekümmerten, doch keinen argwöhnischen Ausdruck.

»Sie war alt«, sagte er, »sie ist eines natürlichen Todes gestorben. Es war zweifellos Zeit für sie, zu Osiris zu gehen, und all die Kümmernisse haben ihr Ende beschleunigt. Aber es scheint recht friedlich gewesen zu sein. Re hat sich ihrer erbarmt, so dass weder Menschen noch böse Geister ihren Tod verursacht haben. Hier ist kein Zeichen einer Gewalttat. Schaut, wie friedlich sie aussieht.«

Renisenb weinte, und Yahmose tröstete sie. Henet schüttelte seufzend den Kopf und jammerte, welch einen Verlust sie erlitten habe und wie ergeben sie der Toten stets gewesen sei. Kameni sang nicht mehr, sondern setzte eine schickliche Trauermiene auf.

Hori kam und betrachtete die Tote. Es war die Stunde, zu der sie ihn zu sich bestellt hatte. Er fragte sich, was sie ihm wohl hatte mitteilen wollen.

Es musste etwas Entscheidendes gewesen sein.

Jetzt würde er es niemals mehr erfahren.

Aber er glaubte es erraten zu können…