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Erster Monat des Sommers – 11. Tag

 

Die letzten Zeremonien waren beendet, die Beschwörungen gesprochen. Montu, ein Priester des Hathortempels, ergriff den Besen und fegte sorgfältig die Kammer aus, indes er den Zauberspruch murmelte, um die Fußspuren aller bösen Geister zu entfernen, ehe die Tür für immer geschlossen wurde.

Dann wurde das Grab versiegelt, und alle Überreste von der Arbeit der Einbalsamierer – Töpfe und Tücher – wurden in eine kleine benachbarte Kammer gebracht, die man ebenfalls versiegelte.

Imhotep straffte die Schultern, holte tief Atem und entspannte seine Begräbnismiene. Alles war nach Vorschrift gelaufen. Er tauschte Höflichkeiten mit den Priestern aus, die nun auch wieder ein weltliches Gehaben annahmen.

Alle gingen zum Haus hinunter, wo ihrer Erfrischungen harrten. Die Männer blieben beisammen und sprachen miteinander.

Renisenb blickte auf die Klippe und die versiegelte Grabkammer zurück. Sie fühlte sich erleichtert, als wäre etwas, wovor sie sich gefürchtet hatte, doch nicht eingetroffen. Nun war alles zu Ende, ohne dass in letzter Minute eine Anklage erhoben worden war.

»Alles zu Ende«, murmelte sie vor sich hin.

»Hoffentlich, Renisenb, hoffentlich«, sagte Henet leise neben ihr.

Renisenb drehte ihr den Kopf zu.

»Was meinst du damit? Hat mein Vater dich gefragt, was du über Nofrets Tod denkst?«

»Gewiss, zumal er wusste, dass ich mit meinen Gedanken nicht hinterm Berg halten würde.«

»Und was sagtest du zu ihm?«

»Nun, natürlich sagte ich, es sei ein Unfall gewesen. Du glaubst doch wohl nicht, sagte ich, dass einer deiner Familienangehörigen der Frau ein Leid angetan hätte? Das würde niemand wagen. Dazu haben alle viel zu viel Achtung vor dir. Sie murren vielleicht, sagte ich, aber das ist auch alles.« Henet nickte kichernd.

»Und mein Vater glaubte dir?«

Wieder nickte Henet recht befriedigt.

»Oh, deinem Vater ist klar, wie ergeben ich ihm bin. Er weiß meine Dienste zu schätzen. Ach, ich bin euch allen ergeben und erwarte keinen Dank dafür.«

»Du warst auch Nofret ergeben«, bemerkte Renisenb.

»Wie kommst du darauf, Renisenb? Ich hatte einem Befehl zu gehorchen.«

»Sie dachte, sie könne auf dich zählen.«

Abermals kicherte Henet.

»Nofret war weniger klug, als sie meinte. Eine stolze Frau, die glaubte, die Erde gehöre ihr. Nun, jetzt steht sie den Richtern in der Unterwelt gegenüber, und ihre Schönheit wird ihr dort nicht helfen. Jedenfalls haben wir nichts mehr mit ihr zu schaffen.« Sie berührte schnell eins der Amulette, die sie trug. »Ich hoffe es wenigstens.«

 

»Renisenb, ich möchte mit dir über Satipy sprechen.«

»Ja, Yahmose?«

Renisenb betrachtete voller Mitgefühl das freundliche, sorgenvolle Gesicht ihres Bruders.

Yahmose sagte bedeutsam: »Mit Satipy stimmt etwas nicht. Ich weiß nicht, was es ist. Beim geringsten Geräusch fährt sie zusammen und fängt an zu zittern. Sie isst zu wenig. Sie schleicht herum, als hätte sie Angst vor ihrem eigenen Schatten. Ist dir diese Veränderung nicht auch aufgefallen, Renisenb?«

»Ja, sie ist uns allen aufgefallen.«

»Ich habe sie gefragt, ob sie krank ist, ob ich einen Arzt kommen lassen soll, aber sie sagt, sie sei vollkommen gesund. Nachts schläft sie jedoch nicht gut, sie schreit im Schlaf auf. Ob sie wohl irgendwelche Sorgen hat, von denen wir nichts wissen?«

Renisenb schüttelte den Kopf.

»Wie wäre das möglich? Den Kindern fehlt nichts. Nichts ist geschehen – nur Nofret ist gestorben, und um Nofret wird Satipy wohl kaum trauern.«

Yahmose lächelte schwach.

»Ganz im Gegenteil. Außerdem hat die Veränderung schon früher angefangen, vor Nofrets Tod, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht genau. Mir ist sie erst nachher aufgefallen. Krank ist Satipy nicht. Mir scheint, dass sie sich fürchtet.«

»Sich fürchtet?«, wiederholte Yahmose mit großer Verwunderung. »Aber wovor denn? Satipy hat stets den Mut einer Löwin gehabt.«

»Ich weiß«, sagte Renisenb hilflos. »Das dachten wir immer, aber die Menschen ändern sich – es ist sonderbar.«

»Meinst du, dass Kait etwas weiß? Hat Satipy mit ihr gesprochen?«

»Sie würde wohl eher mit ihr als mit mir sprechen, aber ich glaube es nicht.«

»Was denkt Kait denn?«

»Kait? Kait denkt nie etwas.«

Kait hatte nichts weiter getan, überlegte Renisenb, sondern nur aus Satipys ungewöhnlicher Schwäche Vorteil gezogen und für sich und ihre Kinder die schönsten Stücke des. neu gewobenen Linnens errafft, was Satipy früher niemals zugelassen hätte.

»Hast du schon mit Esa gesprochen?«, fragte Renisenb. »Unsere Großmutter versteht sich auf Frauen.«

»Esa sagte nur, ich solle froh sein über die Veränderung«, gab Yahmose leicht verärgert zurück.

Nach kurzem Zögern erkundigte sich Renisenb: »Und Henet?«

»Henet?« Yahmose runzelte die Stirn. »Nein, mit Henet würde ich über solche Dinge nicht sprechen. Die denkt nur an sich. Mein Vater hat sie verwöhnt.«

»Ja, schon. Aber Henet weiß immer sehr viel.«

Yahmose sagte langsam: »Würdest du sie fragen? Und mir dann mitteilen, was sie meint?«

»Gern, wenn du willst.«

Renisenb schob die Unterredung mit Henet auf, bis sie mit ihr allein war. Sie befanden sich auf dem Weg zum Webhaus. Zu ihrer Überraschung schien die Frage Henet in Verlegenheit zu bringen. Sie zeigte sich nicht wie sonst zungenfertig. Sie berührte ein Amulett, das sie trug, und spähte über die Schulter zurück.

»Das geht mich nichts an«, antwortete sie schließlich. »Wenn es Unannehmlichkeiten gibt, so möchte ich nichts damit zu schaffen haben.«

»Wieso Unannehmlichkeiten?«

Henet warf Renisenb einen Seitenblick zu.

»Uns braucht das jedenfalls nicht zu kümmern. Wir beide haben uns nichts vorzuwerfen. Das ist mir ein großer Trost.«

»Meinst du, dass Satipy…«

»Ich meine gar nichts, Renisenb. Ich bin wenig mehr als eine Dienerin in diesem Hause, und es ziemt mir nicht, meine Meinung über Dinge kundzutun, die mich nichts angehen. Wenn du mich fragst: Es ist eine Veränderung zum Guten, und dabei sollten wir es belassen. Jetzt muss ich aber gehen und Acht geben, dass das Datum im Linnen richtig eingezeichnet wird. So unachtsam sind diese Weiber…«

Irgendwie unbefriedigt sah Renisenb sie im Webhaus verschwinden. Langsam kehrte sie ins Haus zurück. Geräuschlos trat sie in Satipys Zimmer, und Satipy fuhr erschrocken herum, als Renisenb sie an der Schulter berührte.

»Oh, du hast mich erschreckt, ich dachte…«

»Satipy, was ist los mit dir? Willst du es mir nicht sagen? Yahmose sorgt sich um dich…«

Satipy stammelte mit großen, entsetzten Augen: »Yahmose? Was… was hat er gesagt?«

»Er macht sich Sorgen. Du hast im Schlaf aufgeschrien.«

Ihre Augen wurden noch größer, und sie packte Renisenb am Arm.

»Glaubt Yahmose… was hat er zu dir gesagt?«

»Wir glauben beide, dass du krank bist oder… oder unglücklich.«

»Unglücklich?«, wiederholte Satipy. »Ja, vielleicht ist es das.«

»Nein, du hast Angst, nicht wahr?«

Satipy sah sie mit plötzlicher Feindseligkeit an.

»Wovor sollte ich denn Angst haben?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Renisenb. »Aber es stimmt, nicht wahr?«

Mühsam nahm Satipy ihre frühere hochmütige Haltung an. Sie warf den Kopf zurück.

»Ich habe vor niemandem und nichts Angst! Wie kannst du es wagen, so etwas von mir zu denken? Und ich will nicht, dass du mit Yahmose über mich redest. Yahmose und ich verstehen einander.« Sie machte eine Pause und sagte dann scharf: »Nofret ist tot – eine gute Lösung. So empfinde ich es. Und du kannst allen erzählen, dass ich es so empfinde.«

»Nofret?« Renisenb sprach den Namen fragend aus.

Satipy geriet in eine Erregung, die ihr früheres Wesen wieder weckte.

»Nofret – Nofret – Nofret! Ich mag den Namen nicht mehr hören! Wir brauchen ihn in diesem Hause nicht mehr zu hören, den Göttern sei Dank dafür.«

Ihre Stimme, die sich zu einem schrillen Kreischen erhoben hatte, erstarb plötzlich, als Yahmose eintrat.

Er sagte mit ungewöhnlicher Strenge: »Sei still, Satipy. Wenn mein Vater dich hörte, gäbe es neue Unannehmlichkeiten. Wie kannst du dich so töricht benehmen?«

Auch Satipys demütiges Zusammenfallen war ungewöhnlich. Sie murmelte: »Entschuldige, Yahmose… ich habe nicht überlegt.«

»Nun, sei in Zukunft vorsichtig! Ihr Weiber habt keinen Verstand.«

Yahmose ging hinaus; er hielt sich straffer als sonst, und seine Schritte wirkten entschlossener, als hätte es ihm gut getan, einmal seine Überlegenheit zu zeigen.

Renisenb begab sich langsam in Esas Zimmer. Sie hoffte, sich bei ihrer Großmutter Rat holen zu können.

Esa aber, die mit Wohlbehagen Weintrauben verzehrte, wollte die Angelegenheit nicht ernst nehmen: »Satipy? Satipy? Warum dieses Aufheben um Satipy? Liebst du es, von ihr wie eine Sklavin behandelt zu werden, dass du solch ein Wesen davon machst, wenn sie sich ausnahmsweise einmal anständig benimmt?« Sie spuckte die Kerne aus und bemerkte: »Ich fürchte, es wird ohnehin nicht dabei bleiben, falls Yahmose nicht dafür sorgt.«

»Yahmose?«

»Ja, ich hatte gehofft, Yahmose wäre endlich zu Verstand gekommen und hätte Satipy tüchtig durchgeprügelt. Das braucht sie, und wahrscheinlich würde es ihr noch Freude machen. Yahmose mit seiner schlappen Art muss eine Prüfung für sie gewesen sein.«

»Yahmose ist lieb«, entgegnete Renisenb entrüstet. »Er ist freundlich zu allen und sanft wie eine Frau – wie Frauen sein sollten«, fügte sie zögernd hinzu.

»Nein, Frauen sind nicht sanft, und wenn sie es sind, möge Isis ihnen beistehen! Und es gibt wenige Frauen, die einen freundlichen, sanften Gatten zu schätzen wissen. Sie haben lieber einen heftigen Polterer wie Sobek oder einen hübschen, jungen Mann wie Kameni – he, Renisenb? Kameni singt sehr schöne Liebeslieder, nicht wahr, Renisenb?«

Renisenb spürte, dass sie errötete.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, gab sie würdevoll zurück.

»Ihr glaubt alle, die alte Esa wisse nicht, was vor sich geht! Ich weiß recht gut Bescheid.« Sie blickte Renisenb mit ihren halb blinden Augen an. »Ich weiß vielleicht vor dir Bescheid, Kind. Ärgere dich nicht. So ist das Leben, Renisenb. Khay war dir ein guter Gatte, aber er steuert sein Boot jetzt über die Felder der Opfer. Allerdings wissen wir von Kameni nicht viel – er stammt aus dem Norden. Imhotep schätzt ihn, aber ich habe Imhotep immer für einen Dummkopf gehalten. Er lässt sich durch Schmeicheleien allzuleicht beeinflussen. Wegen eines schönen Mädchens sich zum Narren zu machen und tatenlos zuzusehen, wie sie das ganze Haus durcheinander bringt – ich musste lachen, das kannst du mir glauben! In gewisser Weise gefiel sie mir, offen gestanden. Sie hatte den Teufel in sich und ließ alle zu dem werden, was sie wirklich sind. Aber warum hat sie dich eigentlich gehasst, Renisenb?«

»Hat sie mich denn gehasst?«, gab Renisenb erstaunt zurück. »Ich… ich bot ihr einmal meine Freundschaft an.«

»Und sie wollte nichts davon wissen? Sie hat dich wirklich gehasst, Renisenb.« Esa machte eine Pause und fragte dann scharf. »Ob es wohl wegen Kameni war?«

Wieder errötete Renisenb.

»Wegen Kameni? Ich weiß nicht, was du meinst.«

Esa sagte nachdenklich: »Sie und Kameni kamen beide aus dem Norden, aber Kameni hat dir nachgeblickt, wenn du über den Hof gegangen bist.«

»Ich muss nach Teti schauen«, erklärte Renisenb brüsk und stand auf.

Mit heißen Wangen lief sie über den Hof auf den See zu.

Vom Vorplatz her rief Kameni ihr zu. »Ich habe ein neues Lied gemacht, Renisenb. Bleib und hör es an.«

Sie schüttelte den Kopf und eilte weiter. Ihr Herz klopfte zornig. Kameni und Nofret… Kameni und Nofret… Warum flößte die alte Esa mit ihrer Boshaftigkeit ihr solche Gedanken ein?

Von weitem drang Kamenis wohllautende Stimme zu ihr herüber: »Ich will sagen zu Ptah: Gib mir mein Weib heute Nacht…«

 

»Renisenb!«

Zweimal musste Hori rufen, bis sie ihn hörte und sich von der Betrachtung des Nils abwandte.

»Renisenb, woran hast du gedacht?«

Renisenb antwortete trotzig: »Ich dachte an Khay.«

Hori sah sie lächelnd an.

»Ich verstehe. Was hast du? Warum bist du so erregt? Hat jemand dich geärgert?«

»Ja, Esa. Sag mir, Hori, kannten Kameni und Nofret sich gut, bevor sie hierher kamen?«

Hori stand eine Weile ganz still. Dann sagte er, während er neben Renisenb zum Haus zurückging: »Ach so. Das ist es also…«

»Was meinst du damit? Ich habe dich nur etwas gefragt.«

»Worauf ich keine Antwort weiß. Nofret und Kameni kannten sich – wie gut, das weiß ich nicht. Aber das spielt doch eigentlich keine Rolle, nicht wahr? Nofret ist tot und begraben, und Kameni scheint nicht um sie zu trauern.«

»Das stimmt«, sagte Renisenb, die daran gar nicht gedacht hatte. Impulsiv wandte sie sich ihm zu.

»O Hori, wie du zu trösten verstehst!«

Er lächelte.

»Der kleinen Renisenb setzte ich den Löwen instand. Jetzt… hat sie anderes Spielzeug.«

»Können wir nicht zum Grab hinaufgehen?«, schlug Renisenb vor, ehe sie das Haus erreichten. »Ich möchte nicht zu den anderen. Oben ist es so schön, man ist dort über allem.«

»So empfinde ich es auch. Man blickt über alles hinweg, über alles Kleine und Unbedeutende.«

»Schau, Hori!« Renisenb deutete zur Klippe hinauf. »Yahmose und Satipy waren oben beim Grab. Sie kommen herunter.«

»Es mussten dort einige Sachen fortgeräumt werden, einige Linnenballen, die die Einbalsamierer nicht gebraucht haben«, erklärte Hori. »Yahmose wollte Satipy mit hinaufnehmen und sie um Rat fragen, was damit geschehen soll.«

Während Renisenb hinaufsah, fiel ihr ein, dass die beiden, die da herunterkamen, sich der Stelle näherten, wo Nofret abgestürzt sein musste. Satipy schritt voran, Yahmose etwas hinter ihr.

Plötzlich drehte Satipy den Kopf herum, um mit Yahmose zu sprechen.

Und dann blieb Satipy jählings stehen, als wäre sie versteinert, und starrte zurück. Ihre Arme fuhren empor, wie um einen Schlag abzuwehren. Sie rief etwas, stolperte, taumelte, und dann, als Yahmose auf sie zusprang, stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus und stürzte kopfüber auf die Felsen hinunter.

Renisenb, die die Hand an die Kehle gepresst hielt, sah den Fall ungläubig.

Satipy lag, eine verkrümmte Masse, genau an der Stelle, wo die tote Nofret gelegen hatte.

Renisenb riss sich zusammen und begann zu laufen. Yahmose kam rufend den Pfad heruntergerannt.

Renisenb erreichte ihre Schwägerin und beugte sich über sie. Satipys Augen standen weit offen, die Lider zitterten. Ihre Lippen bewegten sich, versuchten Worte zu bilden. Renisenb bückte sich tiefer zu ihr nieder. Das gläserne Entsetzen in Satipys Augen ängstigte sie.

Dann erklang die Stimme der Sterbenden. Es war nur ein heiseres Krächzen.

»Nofret…«

Satipys Kopf sank zurück. Die Kinnlade fiel herab.

Hori war Yahmose entgegengegangen. Die beiden Männer kamen miteinander herbei. Renisenb wandte sich an ihren Bruder: »Was hat sie gerufen, bevor sie abstürzte?«

Yahmose atmete stoßweise, er vermochte kaum zu sprechen.

»Sie blickte an mir vorbei, als ob sie hinter mir jemanden kommen sähe, aber es war niemand auf dem Weg.«

Hori bestätigte: »Es war niemand da.«

Yahmoses Stimme senkte sich zu einem schreckendurchbebten Flüstern: »Und dann sagte sie…«

»Was sagte sie?«, forschte Renisenb ungeduldig.

»Sie sagte… sie sagte…« Seine Stimme zitterte: »Nofret…«