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Erster Monat des Winters – 5. Tag

 

Als Renisenb am folgenden Morgen erwachte, fühlte sie sich von bösen Vorahnungen bedrückt. Sie stand früh auf und verließ das Haus. Ihre Schritte führten sie, wie so oft, zum Nil. Einige Fischer befanden sich schon draußen, und ein großes Boot bewegte sich mit kräftigen Ruderschlägen Richtung Theben.

Renisenb empfand eine unbestimmte Sehnsucht. Wonach sehne ich mich? dachte sie. Nach Khay? Aber Khay ist tot, er wird nie mehr zurückkehren. Ich will nicht mehr an Khay denken. Das alles ist vorbei.

Da bemerkte sie am Ufer eine Gestalt, die ebenfalls dem Boot, das gen Theben fuhr, nachblickte, und die Regungslosigkeit dieser Gestalt rührte Renisenb, rührte sie zutiefst, obwohl sie dann Nofret erkannte.

Nofret starrte auf den Nil hinaus. Nofret war allein. Woran mochte sie denken?

Mit einem kleinen Schrecken wurde Renisenb mit einem Mal klar, wie wenig sie alle eigentlich von Nofret wussten. Sie hatten sie als Fremde, als Feindin empfangen und keine Neugier empfunden, etwas aus ihrem Leben oder von der Umgebung, der sie entstammte, zu erfahren.

Es muss traurig sein für Nofret, dachte Renisenb plötzlich, so allein, ohne Freunde, unter lauter Menschen, die sie nicht liebten.

Langsam ging Renisenb weiter, bis sie neben ihr stand. Nofret wandte sekundenlang den Kopf, dann schaute sie wieder aufs Wasser hinaus. Ihr Gesicht war ausdruckslos.

Renisenb sagte schüchtern: »Es sind viele Boote auf dem Fluss.«

»Ja.«

Von dem unbestimmten Gefühl bewegt, Freundlichkeit zu zeigen, fuhr Renisenb fort:

»Ist es hier wie in deiner Heimat?«

Nofret lachte kurz und bitter auf.

»Nein, wirklich nicht. Mein Vater ist Kaufmann in Memphis. Dort geht es fröhlich und unterhaltsam zu. In Memphis gibt es Musik und Tanz und Gesang. Und mein Vater reist ziemlich viel. Ich war mit ihm in Syrien. Ich war mit ihm auf großen Schiffen auf den weiten Meeren.«

Sie sprach voller Stolz und schien aufzuleben.

»Dann muss es hier sehr langweilig sein für dich«, meinte Renisenb zögernd.

Nofret stieß ein ungeduldiges Lachen aus.

»Hier ist es öde – nichts als Pflügen und Säen und Ernten, Reden über den Stand des Getreides und über Flachspreise.« Renisenb spürte, welcher Zorn und welche Verzweiflung die Frau neben ihr erfüllten. Sie dachte: Sie ist so alt wie ich, noch jünger. Und sie ist das Weib eines braven, umständlichen, ein wenig lächerlichen alten Mannes… Was wusste sie überhaupt von Nofret? Was hatte Hori gestern auf ihren Ausbruch, Nofret sei grausam und schlecht, geantwortet? »Was für ein Kind du noch bist.« Das hatte er gesagt. Renisenb begriff jetzt, was er gemeint hatte. Ihre Worte waren oberflächlich gewesen – man konnte einen Menschen nicht so einfach abtun. Welche Kümmernisse, welche Bitterkeit, welche Verzweiflung lagen hinter Nofrets grausamem Lächeln? Was hatte Renisenb, was hatte einer von ihnen getan, damit Nofret sich heimisch fühlte?

Renisenb sagte weich: »Du hasst uns alle. Ich verstehe dich. Wir waren unfreundlich zu dir, aber es ist noch nicht zu spät. Können wir nicht, du und ich, Nofret, wie Schwestern miteinander sein? Du bist fern von deiner Heimat, du bist allein – kann ich dir helfen?«

Ihre Worte verloren sich in der Stille. Nofret drehte sich langsam zu ihr um.

Eine Weile blieb ihr Gesicht ausdruckslos. Sekundenlang glaubte Renisenb sogar einen weicheren Schimmer in ihren Augen wahrzunehmen. Es war, als ob Nofret zögerte – als ob Renisenbs Worte etwas in ihr gerührt hätten.

Es war ein seltsamer Moment, an den Renisenb sich später erinnern sollte.

Dann veränderte sich Nofrets Ausdruck allmählich. Er wurde bösartig, und in ihren Augen glomm es auf. Vor dem wütenden Hass ihres Blickes wich Renisenb unwillkürlich einen Schritt zurück.

Nofret sagte mit leiser, heftiger Stimme: »Geh! Ich will nichts von euch, von keinem von euch. Dumme Narren, das seid ihr alle…«

Sie wandte sich ab und ging mit lang ausgreifenden Schritten dem Hause zu.

Renisenb folgte ihr langsam. Sonderbarerweise hatte Nofrets Antwort sie nicht erzürnt; sie hatte in einen Abgrund des Hasses und des Elends geblickt, und Renisenb war nur verwirrt und versuchte nachzuempfinden, wie entsetzlich es sein musste, solche Gefühle zu hegen.

 

Als Nofret durch das Tor ging und den Hof überquerte, kam eins von Kaits Kindern hinter einem Ball her gesprungen.

Mit einem wütenden Stoß schob Nofret die Kleine beiseite, so dass sie hinfiel. Das Kind begann zu weinen; Renisenb eilte zu ihm, hob es auf und sagte unwillig: »Das hättest du nicht tun sollen, Nofret! Sie hat sich am Kinn verletzt, schau nur.«

Nofret lachte schneidend.

»Ich soll also Acht geben, dass diese verwöhnten Bälger sich nicht verletzen? Warum? Nehmen ihre Mütter Rücksicht auf meine Gefühle?«

Kait war aus dem Hause gelaufen, als sie das kleine Mädchen weinen hörte. Sie lief zu ihm und untersuchte die Wunde. Dann wandte sie sich an Nofret:

»Teufelin und Schlange! Böses Weib! Warte, was wir dir antun werden!«

Sie hob den Arm und schlug Nofret mit aller Kraft ins Gesicht.

Renisenb stieß einen Schrei aus und packte Kait am Arm, ehe sie zum zweiten Mal zuschlagen konnte.

»Kait, Kait, das darfst du nicht tun!«

»Wer sagt das? Lass Nofret für sich selber sorgen. Sie ist hier nur eine unter vielen.«

Nofret stand ganz still. Deutlich zeichnete sich der Schlag auf ihrer Wange ab. Das Armband, das Kait trug, hatte die Haut neben dem einen Auge aufgerissen, und Blut rann hernieder.

Aber es war Nofrets Reaktion, die Renisenb erschreckte. Nofret zeigte keinen Zorn. Stattdessen hatte sie einen rätselhaften, frohlockenden Ausdruck in den Augen, und wieder verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem befriedigten Lächeln.

»Danke, Kait«, sagte sie.

Dann ging sie ins Haus.

 

Nofret rief, die Lider gesenkt, gedämpft nach Henet.

Henet kam herbeigeeilt, blieb stehen und fing an zu lamentieren.

Nofret unterbrach sie schroff:

»Hol mir Kameni. Sag ihm, er soll seine Schreibsachen und Papyrus mitbringen, um einen Brief an den Herrn zu schreiben.«

Henets Augen hefteten sich auf Nofrets Wange.

»An den Herrn… ich verstehe… Wer hat es getan?«

»Kait.« Nofret lächelte ruhig vor sich hin.

Henet schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge.

»Das ist schlimm, sehr schlimm. Der Herr muss es erfahren, ja, gewiss.«

Nofret sagte sanft: »Du und ich, Henet, wir denken gleich.«

Sie löste einen in Gold gefassten Amethyst von ihrem Gewand und drückte ihn der Frau in die Hand. »Wir beide, Henet, das weiß ich, sind ehrlich auf Imhoteps Wohlergehen bedacht.«

»Das ist zu viel für meine geringen Dienste.«

»Imhotep und ich wissen Treue zu schätzen.« Nofret lächelte immer noch; ihre Augen waren schmal und katzenhaft. »Hol Kameni«, befahl sie abermals, »und komm mit ihm her. Ihr beide sollt bezeugen, was geschehen ist.«

Kameni kam etwas widerwillig; seine Stirn war gerunzelt.

Nofret sprach gebieterisch: »Du erinnerst dich an Imhoteps Anweisungen?«

»Gewiss«, antwortete Kameni.

»Es ist so weit. Setz dich und schreib, was ich dir sage.« Als Kameni zauderte, fuhr sie ungeduldig fort: »Du wirst schreiben, was du mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hast, und Henet wird bestätigen, was ich sage. Die Nachricht muss im Geheimen und mit aller Eile übersandt werden.«

»Es gefällt mir nicht…«, begann Kameni.

Nofret fuhr ihn an: »Ich habe keine Beschwerde gegen Renisenb. Sie ist weich und dumm, aber sie hat mir nichts getan. Bist du nun zufrieden?«

Kamenis bronzefarbenes Gesicht wurde von Röte übergossen.

»Daran dachte ich nicht…«

»Ich nahm es an«, entgegnete Nofret sanft. »Fang an, folge dem erhaltenen Befehl – schreib.«

»Ja, schreib«, mischte Henet sich ein. »Imhotep muss Bescheid wissen. Mag etwas auch sehr unangenehm sein, man hat der Pflicht zu gehorchen. So habe ich es immer gehalten.«

Nofret lachte leise.

»Davon bin ich überzeugt, Henet. Du tust deine Pflicht! Und Kameni wird tun, was seines Amtes ist. Und ich… ich tue, was mir Vergnügen macht.«

Aber immer noch zögerte Kameni. Seine Miene war düster.

»Nofret, du würdest dir besser noch Zeit lassen und überlegen.«

»Nimm dich in Acht, Kameni«, gab Nofret sanft zurück. »Ich habe großen Einfluss auf Imhotep. Er hört auf mich. Bis jetzt war er mit dir zufrieden…« Bedeutungsvoll schwieg sie.

»Drohst du mir, Nofret?«, fragte Kameni zornig.

»Vielleicht.«

Kameni betrachtete Nofret voller Ärger. Dann beugte er das Haupt.

»Ich will tun, was du sagst, Nofret, aber ich glaube, dass du es bereuen wirst.«

»Drohst du mir, Kameni?«

»Ich warne dich…«