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Erster Monat des Sommers – 23. Tag

 

»Kann ich mit dir sprechen, Esa?«

Esa blickte zum Eingang des Zimmers hinüber, wo Henet mit einschmeichelndem Lächeln stand.

»Was gibt’s?«, fragte die Alte scharf.

»Nichts Besonderes, aber ich hielt es für besser…«

Esa unterbrach sie kurz angebunden: »Komm herein. Und du…«, sie klopfte der kleinen schwarzen Sklavin, die Perlen aufreihte, mit ihrem Stock auf die Schulter, »geh in die Küche. Hol mir ein paar Oliven, und mach mir Granatapfelsaft.«

Das Mädchen eilte davon, und Esa winkte Henet ungeduldig herbei.

»Es ist nur dies, Esa.«

Esa betrachtete den Gegenstand, den Henet ihr hinhielt. Es war ein Schmuckkästchen mit Schiebedeckel, auf dem zwei Knöpfe befestigt waren.

»Was ist damit?«

»Es gehörte Nofret, und ich habe es jetzt gefunden – in ihrem Zimmer.«

»Und?«

»All ihre Juwelen, ihre Salbendosen und Parfümkrüge, alle Dinge sind mit ihr begraben worden.«

Esa band die Schnur von den Knöpfen los und schob den Deckel zurück. Das Kästchen enthielt eine Kette aus kleinen Karneolperlen und die Hälfte eines grünglasierten Amuletts.

»Es ist wohl übersehen worden«, meinte Esa.

»Die Einbalsamierer haben alles fortgenommen.«

»Einbalsamierer sind nicht zuverlässiger als andere Menschen.«

»Ich sage dir, Esa, dies war nicht im Zimmer, als ich das letzte Mal hineinschaute.«

Esa schaute Henet scharf an.

»Worauf willst du hinaus? Dass Nofret aus der Unterwelt zurückgekehrt ist und sich hier im Hause aufhält? Du bist nicht so dumm, wie du dich manchmal stellst, Henet. Was hast du davon, wenn du solch törichte Zaubergeschichten verbreitest?«

Henet schüttelte nachdrücklich den Kopf.

»Wir wissen alle, was Satipy widerfahren ist – und warum!«

»Vielleicht wussten es einige von uns sogar schon früher. Wie, Henet? Ich hatte immer das Gefühl, dass du mehr über Nofrets Tod weißt als wir Übrigen.«

»O Esa, du glaubst doch wohl nicht…«

»Was soll ich nicht glauben?«, fiel Esa ein. »Ich habe Satipy in den beiden letzten Monaten zu Tode erschrocken im Hause herumschleichen sehen, und gestern ist mir eingefallen, dass jemand sie mit seinem Wissen in Angst gehalten haben könnte – ihr vielleicht gedroht hat, Yahmose oder gar Imhotep alles zu verraten…«

Henet widersprach in schrillem Ton.

Esa schloss die Augen und lehnte sich zurück.

»Ich bin überzeugt, dass du es niemals zugeben würdest.«

»Warum hätte ich das überhaupt tun sollen?«

»Keine Ahnung«, antwortete Esa. »Du tust viele Dinge, Henet, die ich nicht im Geringsten erklären kann.«

»Du glaubst wohl, ich hätte versucht, mir mein Schweigen bezahlen zu lassen. Ich schwöre bei den neun Göttern…«

»Bemüh die Götter nicht. Du bist ehrlich genug, Henet, soweit die Ehrlichkeit geht. Und vielleicht wusstest du nichts von Nofrets Todesursache. Aber du weißt die meisten Dinge, die sich in diesem Hause ereignen. Und wenn ich schwören müsste, so würde ich schwören, dass du dieses Kästchen selber in Nofrets Zimmer gebracht hast – warum, das ahne ich allerdings nicht. Aber irgendein Grund steckt dahinter. Du kannst Imhotep täuschen, mich täuschst du nicht.«

»Ich will Imhotep das Kästchen bringen und ihm sagen…«

»Ich werde es ihm selber geben. Scher dich fort, Henet, und verbreite keine dummen abergläubischen Geschichten. Ohne Satipy herrscht mehr Friede im Haus. Die tote Nofret hat uns mehr Gutes gebracht als die lebende. Doch nachdem nun die Schuld getilgt ist, soll jeder zu seinem Tagewerk zurückkehren.«

 

»Was soll das alles?«, rief Imhotep, der einige Minuten später aufgeregt in Esas Zimmer kam. »Henet ist zutiefst bestürzt. Tränenüberströmt erschien sie bei mir. Warum kann niemand im Hause dieser treu ergebenen Frau die gewöhnlichste Freundlichkeit zeigen!«

Ungerührt lachte Esa.

»Du hast sie beschuldigt, ein Schmuckkästchen gestohlen zu haben.«

»Behauptet sie das? Ich tat nichts dergleichen. Hier ist das Kästchen. Sie hat es in Nofrets Zimmer gefunden.«

Imhotep nahm das Kästchen entgegen.

»Ja, das habe ich ihr geschenkt.« Er öffnete es. »Hm, nicht viel drin. Sehr nachlässig von den Einbalsamierern, dass sie es nicht mit ihren übrigen persönlichen Besitztümern begraben haben. Wenn ich ihre Löhne bedenke, so hätte man mehr Sorgfalt erwarten dürfen. Nun, all dies dünkt mich ein unnötiges Aufheben.«

»Durchaus.«

»Ich werde das Kästchen Kait schenken – nein, Renisenb. Sie hat sich Nofret gegenüber immer höflich betragen.« Er seufzte. »Es ist unmöglich, in Frieden zu leben. Diese Weiber… endlose Tränen und Streitigkeiten.«

»Nun, jetzt ist zumindest eine Frau weniger da!«

»Ja, wirklich. Der arme Yahmose! Trotzdem ist es wohl besser so. Satipy hat gesunde Kinder geboren, aber in vieler Hinsicht war sie ein sehr unbefriedigendes Weib. Gewiss, Yahmose hat ihr zu sehr nachgegeben. Nun ja, all das ist jetzt vorbei. Ich muss sagen, über Yahmoses Verhalten habe ich mich in letzter Zeit recht gefreut. Seine Schüchternheit hat sich gegeben, und er hat mehrmals ausgezeichnete Urteilskraft bewiesen.«

»Er war immer ein guter, folgsamer Sohn.«

»Ja, ja, aber er war langsam und scheute sich vor Verantwortung.«

Esa entgegnete trocken: »Du hast ihm nie erlaubt, eine Verantwortung zu übernehmen.«

»Nun, all das wird jetzt anders werden. Ich will einen Teilhabervertrag aufsetzen. In wenigen Tagen soll er unterzeichnet werden. Meine drei Söhne sollen alle Teilhaber werden.«

»Ipy doch wohl nicht?«

»Er wäre gekränkt, wenn ich ihn überginge. Ein so lieber, warmherziger Junge…«

»Er ist gewiss nicht langsam«, warf Esa ein.

»Du sagst es. Auch Sobek hat sich neuerdings vorteilhaft geändert. Er vertut nicht mehr die Zeit, und er fügt sich meinem und Yahmoses Wort.«

»Ich glaube, dass du richtig handelst, Imhotep. Es war verkehrt, die Söhne nicht zufrieden zu stellen. Aber ich denke doch, dass Ipy noch zu jung ist, um Teilhaber zu werden. Es ist lächerlich, einem Knaben in diesem Alter eine so wichtige Position zu geben. Wie willst du dann Macht über ihn haben?«

»Damit hast du sicher nicht unrecht«, sagte Imhotep nachdenklich. Dann stand er auf. »Ich muss gehen. Es gibt tausend Dinge zu tun. Die Einbalsamierer sind gekommen. Diese Todesfälle sind kostspielig, sehr kostspielig.«

»Hoffen wir, dass dies der letzte ist«, tröstete Esa. »Bis meine Zeit kommt.«

»Du wirst hoffentlich noch viele Jahre leben, meine liebe Mutter.«

»Ich bin überzeugt, dass du das hoffst«, sagte Esa lächelnd. »Keine Sparsamkeit bei mir, bitte! Ich möchte für die andere Welt gut ausgestattet sein. Viele Speisen und Getränke und viele Sklavenpuppen, ein reich verziertes Spielbrett, Parfümöle und Schminke, und ich bestehe auf den teuersten Deckelkrügen, auf denen aus Alabaster.«

»Ja, ja, natürlich.« Unruhig trat Imhotep von einem Fuß auf den anderen. »Selbstverständlich wird dir alle Achtung erwiesen werden, wenn der traurige Tag kommt. Ich muss gestehen, dass ich Satipy gegenüber anders empfinde. Man wünscht keinen Skandal, aber unter diesen Umständen…«

Er beendete den Satz nicht, sondern eilte von dannen.

Esa lächelte spöttisch vor sich hin, als ihr klar wurde, dass Imhotep mit keinem Wort mehr jemals andeuten würde, sein geschätztes Weib sei vielleicht keinem Unfall zum Opfer gefallen.