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Zweiter Monat des Sommers – 1. Tag

 

Die Beratung im Tempel war beendet. Hori und die beiden Tempelschreiber hatten die Bittschrift an Imhoteps verstorbene Gattin Ashayet aufgesetzt.

Nachdem Hori das Schreiben verlesen hatte, nickte Mersu beifällig. »Gut ausgedrückt. Nichts ist vergessen worden. Der Geist Ashayets wird sich gewiss des Hauses erbarmen.«

Imhotep erhob sich.

»Ich danke dir, heiliger Priester. Mein Opfer wirst du erhalten, ehe morgen die Sonne untergeht – Vieh, Öl und Flachs. Wollen wir übermorgen die Schale mit der Inschrift in der Opferkammer des Grabes niedersetzen?«

»Wir wollen es in drei Tagen tun. Die Inschrift muss angebracht werden, und wir müssen die Vorbereitungen für die Zeremonie treffen.«

»Wie du wünschst. Ich möchte verhindern, dass uns noch mehr Unheil trifft.«

»Ich begreife deine Sorge, Imhotep. Aber fürchte dich nicht. Der gute Geist Ashayets wird diese Bitten gewiss erhören.«

»Möge Isis es zulassen! Ich danke dir, Mersu, auch für die Heilung meines Sohnes Yahmose. Komm, Hori, wir haben noch viel zu tun. Lass uns zum Haus zurückkehren. Ach, diese Bittschrift nimmt mir wirklich eine Last von der Seele. Die erhabene Ashayet wird ihren unglücklichen Mann gewiss nicht im Stich lassen.«

 

Als Hori, die Papyrusrolle unterm Arm, den Hof betrat, lief Renisenb vom See her auf ihn zu.

»Hori, willst du bitte mit mir zu Esa kommen? Sie wartet auf dich.«

»Natürlich. Ich muss nur erst sehen, ob Imhotep…«

Imhotep war jedoch von Ipy aufgehalten worden, und Vater und Sohn sprachen leise miteinander.

Hori brachte seine Schreibsachen fort und begab sich dann mit Renisenb zu Esa.

Esa machte bei ihrem Eintritt ein erfreutes Gesicht.

»Hier bringe ich dir Hori, Großmutter«, sagte Renisenb.

»Gut. Ist es schön draußen?«

»Ja… ja, ich denke wohl.«

Renisenb war etwas verdutzt.

»Dann gib mir meinen Stock. Ich will hinaus.«

Esa verließ selten das Haus, und Renisenb wunderte sich. Sie stützte die alte Frau, und zusammen gingen sie durch die Haupthalle auf den Vorplatz hinaus.

»Möchtest du hier sitzen, Großmutter?«

»Nein, Kind, ich möchte zum See gehen.«

Esa kam nur langsam vorwärts, doch obwohl sie hinkte, war sie kräftig und zeigte keinerlei Ermüdung. Sie blickte sich um und wählte eine Stelle, wo nah beim See ein Blumenbeet angelegt war und eine große Sykomore willkommenen Schatten spendete.

Nachdem sie sich niedergelassen hatten, sagte Esa mit grimmiger Befriedigung: »So, nun können wir miteinander reden, ohne einen Lauscher befürchten zu müssen.«

»Du bist klug, Esa«, bemerkte Hori beifällig.

»Niemand darf erfahren, was wir hier besprechen. Dir vertraue ich, Hori. Du bist seit deiner Kindheit bei uns. Du warst immer treu und verschwiegen. Renisenb steht mir von all meinen Enkelkindern am nächsten. Ihr darf kein Leid geschehen, Hori.«

Der Blick, mit dem Hori stumm antwortete, genügte der Frau.

»Nun sage mir, Hori, was ist heute beschlossen worden?«

Hori berichtete von der Bittschrift, und Esa hörte ihm aufmerksam zu.

Als er geendet hatte, sagte sie: »Schau dir das einmal an.« Sie holte das Löwenhalsband hervor und händigte es ihm aus.

Renisenb erzählte ihm, wo sie es gefunden hatte.

»Was hältst du davon, Hori?«, fragte Esa.

»Du bist alt und weise«, gab Hori zurück. »Was denkst du?«

»Du gehörst zu den Menschen, die nicht gern eine Meinung äußern, wenn sie sich nicht auf Tatsachen stützen können. Nicht wahr, du wusstest von Anfang an, auf welche Weise Nofret umgekommen ist?«

»Ich vermutete die Wahrheit, Esa. Es war nur ein Verdacht.«

»Und auch jetzt haben wir nur einen Verdacht. Aber hier, wo wir unter uns sind, können wir darüber sprechen. Es scheint mir, dass es für die tragischen Geschehnisse drei Erklärungen gibt. Der Viehhirte hat vielleicht die Wahrheit gesagt, hat wirklich Nofrets Geist gesehen, der gekommen ist, um sich zu rächen. Wir wissen, dass Geister Böses bewirken können. Aber ich glaube, dass es noch andere Möglichkeiten gibt, denn ich neige dazu, den Deutungen der Priester nicht völlig zu vertrauen.«

»Welche Möglichkeiten?«, warf Hori ein.

»Vielleicht hat jemand aus einem Grund, den wir noch herausfinden müssen, zwei Söhnen Imhoteps den Tod gewünscht. Satipy hat Nofret getötet und später an der gleichen Stelle, wo sie den Mord verübte, eine Vision gehabt, so dass sie in ihrem Schuldgefühl strauchelte und abstürzte – das ist durchaus klar. Der Mensch, der Imhoteps Söhnen den Tod wünschte, hat sich die Furcht vor Nofrets bösem Geist zunutze gemacht, das meine ich.«

»Wer sollte Yahmose oder Sobek töten wollen?«, rief Renisenb entsetzt.

»Kein Diener«, antwortete Esa. »Die Diener hätten das nicht gewagt. So haben wir nur unter wenigen zu wählen.«

»Einer von uns? Das kann nicht sein, Großmutter!«

»Frag Hori«, entgegnete Esa trocken. »Wie du siehst, erhebt er keinen Widerspruch.«

Renisenb wandte sich ihm zu: »Hori, bestimmt…«

Ernst schüttelte er den Kopf.

»Renisenb, du bist jung und vertrauensvoll. Du glaubst, dass die Menschen, die du kennst und liebst, so sind, wie sie scheinen. Du weißt nichts von der Bitterkeit, die im menschlichen Herzen sein kann.«

»Aber wer…?«

Esa fiel lebhaft ein: »Kehren wir zu der Geschichte zurück, die der Viehhirte erzählt hat. Er sah eine Frau in gefärbtem Linnengewand, die Nofrets Halsband trug. Wenn es aber kein Geist war, dann sah er eine Frau, die absichtlich wie Nofret erscheinen wollte. Es kann Kait gewesen sein, es kann Henet gewesen sein – du kannst es gewesen sein, Renisenb! Lasst mich fortfahren. Eine weitere Möglichkeit ist die, dass der Junge gelogen hat. Er berichtete eine Geschichte, weil es ihm so befohlen worden ist. Er gehorchte einem Menschen, der das Recht hatte, ihm zu befehlen, und vielleicht war er sich in seinem Unverstand nicht einmal darüber klar, was der Wahrheit entsprach und was nicht. Wir werden es nie erfahren, denn der Knabe ist tot – an sich auch ein wesentlicher Punkt, der mich in dem Glauben bestärkt, dass der Junge auf Befehl gehandelt hat. Wenn man ihn heute näher befragt hätte, wäre die Lüge vielleicht herausgekommen. Mit Geduld lässt sich unschwer ausfindig machen, ob ein junger Mensch lügt.«

»Du glaubst also, dass wir einen Giftmörder in unserer Mitte haben?«, fragte Hori.

»Ja. Und du?«

»Ich glaube es auch.«

Renisenb blickte bestürzt von einem zum andern.

»Aber der Beweggrund ist mir ganz unerklärlich«, fuhr Hori fort.

»Wenn wir den Beweggrund wüssten«, erwiderte Esa, »dann wüssten wir alles zur Aufklärung der Todesfälle Notwendige. Wir können nur davon ausgehen, wer angegriffen worden ist. Sobek gesellte sich unerwartet zu Yahmose, wohlgemerkt, nachdem Yahmose zu trinken angefangen hatte. Darum steht fest, dass der Täter zwar Yahmose, aber wohl kaum auch Sobek töten wollte.«

»Aber wer könnte Yahmose den Tod wünschen?«, rief Renisenb ungläubig. »Yahmose ist doch sicher derjenige von uns, der am ehesten keine Feinde hat. Er ist immer ruhig und freundlich.«

»Darum ist der Beweggrund offensichtlich nicht in persönlichem Hass zu suchen«, erklärte Hori.

»Der Beweggrund liegt tiefer«, meinte Esa. »Was wäre geschehen, Hori, wenn das Los Yahmose getroffen hätte?«

Nachdenklich gab Hori Bescheid: »Wenn Yahmose wie beabsichtigt gestorben wäre, dann hätten Imhoteps übrige Söhne, Sobek und Ipy, den Hauptgewinn gehabt – ein Teil des Besitztums wäre zweifellos für Yahmoses Kinder bestimmt worden, aber die Leitung wäre vor allem auf Sobek übergegangen. Vermutlich hätte er während Imhoteps Abwesenheit als Ka-Priester fungiert, und nach Imhoteps Tod wäre er der rechtmäßige Nachfolger geworden. Obwohl Sobek der Nutznießer gewesen wäre, kann er nicht der Schuldige sein, da er selber von dem Wein getrunken hat und der Vergiftung zum Opfer gefallen ist. So wie die Dinge liegen, hätte nur eine Person Nutzen aus dem Tod der beiden Brüder gezogen, und diese Person ist Ipy.«

»Das stimmt«, nickte Esa. »Aber betrachten wir einmal Ipy als Charakter. Er ist jung und ungeduldig, er hat viele schlechte Anlagen, er ist in dem Alter, wo ihm die Erfüllung seiner Wünsche als das Wichtigste im Leben erscheint. Er empfand Zorn und Grimm auf seine Brüder, weil sie ihn nach seiner Ansicht von der Teilhaberschaft ausgeschlossen hatten. Auch soll Kameni unkluge Dinge zu ihm gesagt haben…«

»Kameni?«, unterbrach Renisenb sie. Kaum war der Name ihren Lippen entschlüpft, so errötete sie und schloss fest den Mund.

Hori drehte den Kopf zu ihr herum. Der durchdringende Blick, mit dem er sie betrachtete, verletzte sie auf unerklärliche Weise.

»Jawohl, Kameni«, bestätigte Esa und sah sie ebenfalls an. »Ob Henet ihn dazu veranlasst hat oder nicht, ist eine andere Frage. Die Tatsache bleibt, dass Ipy ehrgeizig und anmaßend ist und dass er sich, wie er selber zu mir sagte, für den fähigsten Kopf in der Familie hält.«

»Das hat er gesagt?«, warf Hori ein.

»Er war liebenswürdig genug, mir ein gleiches Maß an Klugheit einzuräumen.«

Renisenb fragte ungläubig: »Glaubst du, dass Ipy seine Brüder mit voller Absicht vergiftet hat?«

»Ich bedenke eine Möglichkeit, weiter nichts. Wir sprechen über einen Verdacht – einen Beweis haben wir noch nicht. Wenn Ipy es wirklich getan hat, so werden wir den Beweis für seine Schuld allerdings schwerlich finden, denn Ipy ist schlau. Wir wollen aber nun jedes Mitglied des Hauses im Lichte des Verdachts betrachten. Wie gesagt, die Diener schließe ich aus, weil ich überzeugt bin, dass sie eine solche Tat niemals gewagt hätten. Aber ich schließe Henet keineswegs aus.«

»Henet?«, rief Renisenb. »Aber Henet ist uns allen treu ergeben. Sie beteuert es immer wieder.«

»Eine Lüge lässt sich ebenso leicht wie die Wahrheit vorbringen. Ich kannte Henet schon, als sie in jungen Jahren mit deiner Mutter hierher kam. Sie war eine mittellose, unglückliche Verwandte deiner Mutter. Ihr Mann hatte sich nicht viel aus ihr gemacht – Henet war auch als junge Frau wenig reizvoll – und sich von ihr getrennt. Das einzige Kind, das sie zur Welt brachte, starb noch als Säugling. Sie betonte damals immer wieder, wie sehr sie an deiner Mutter hinge, aber ich habe gesehen, wie ihre Augen deiner Mutter folgten, und ich kann dir sagen, Renisenb, es war keine Liebe in dem Blick. Nein, bitterer Neid sprach daraus, und was Henets Beteuerungen betrifft, so misstraue ich ihnen gründlich.«

»Und du selber, Renisenb«, fiel Hori ein, »fühlst du für Henet Zuneigung?«

»N… nein«, antwortete Renisenb widerstrebend. »Ich habe mir oft Vorwürfe gemacht, weil ich sie nicht mag.«

»Meinst du nicht, dass du instinktiv spürst, wie falsch ihre Worte sind, und dass du sie deshalb nicht magst? Beweist sie ihre angebliche Ergebenheit jemals durch einen wirklichen Dienst? Hat sie nicht immer nur Zwietracht zwischen uns gesät, indem sie Dinge weitererzählte, die verletzend wirkten?«

»Ja, das stimmt«, gab Renisenb zu. »Aber mein Vater glaubt an sie und ist ihr zugetan.«

»Mein Sohn war von jeher ein Dummkopf«, entgegnete Esa. »Alle Männer sind Schmeicheleien zugänglich, und Henet versteht sich aufs Schmeicheln. Vielleicht liebt sie ihn wirklich – manchmal möchte ich es fast annehmen –, doch gewiss liebt sie sonst niemanden in diesem Hause.«

»Aber bestimmt würde sie keinen Mord begehen«, widersprach Renisenb. »Warum sollte sie einen von uns vergiften wollen? Was für einen Nutzen hätte sie davon?«

»Nicht den Geringsten. Was das Warum betrifft, so habe ich keine Ahnung von den Gedanken, mit denen Henet sich trägt. Ich spüre nur, dass sich hinter ihrer kriecherischen Art seltsame Ideen und Gefühle verbergen. Und da dem so ist, würden wir ihre Beweggründe wohl kaum verstehen.«

Hori nickte beifällig.

»Dann ist da noch Kait«, fuhr Esa nach kurzer Pause fort.

»Nein, nein!«, wehrte Renisenb ab. »Kait hätte niemals versucht, Sobek zu töten! Das ist unmöglich.«

»Nichts ist unmöglich«, versetzte Esa. »Das habe ich im Laufe meines Lebens wenigstens gelernt. Kait ist dumm, und dummen Frauen habe ich stets misstraut. Sie sehen nur ihre eigene begrenzte Umgebung und nur ein Ding auf einmal. Kait lebt in einer kleinen Welt, die nur sie selbst und ihre Kinder und Sobek als den Vater ihrer Kinder einschließt. Sie hätte gut denken können, dass es ihren Kindern zugute kommt, wenn Yahmose aus dem Weg geräumt wäre. Sobek hat nie die Zufriedenheit seines Vaters erregt; Yahmose war der Sohn, auf den Imhotep sich stützte. Wenn aber Yahmose nicht mehr am Leben war, dann hätte Imhotep sich auf Sobek stützen müssen. So hätte sie die Sache wohl ansehen können.«

Renisenb schauderte. Wider Willen musste sie zugeben, dass ihre Großmutter Kait richtig schilderte. Alle Liebesfähigkeit, über die Kait verfügte, richtete sich auf ihre Kinder. Die übrige Welt bedeutete ihr nichts.

Bedachtsam wandte Renisenb ein: »Sie wäre sich doch sicher klar darüber gewesen, dass Sobek zurückkehren und ebenfalls von dem Wein trinken könnte?«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Esa. »Dazu ist Kait zu wenig weitsichtig, zu dumm. Sie hätte nur gesehen, was sie zu sehen wünschte – Yahmose, der von dem vergifteten Wein trank und starb, und die Erklärung, dass der Geist der bösen, schönen Nofret sich gerächt hat. Mit Möglichkeiten hätte Kait nicht gerechnet, und da sie Sobek keineswegs den Tod wünschte, kam es ihr überhaupt nicht in den Sinn, dass er zurückkehren könnte.«

»Und jetzt ist Sobek tot, und Yahmose lebt! Wie schrecklich muss das für sie sein, wenn deine Annahme stimmt!«

»Solche Dinge widerfahren einem, wenn man dumm ist«, erwiderte Esa. »Und nun kommen wir zu Kameni.«

»Kameni?« Renisenb empfand die Notwendigkeit, den Namen ruhig und ohne Widerspruch zu wiederholen. Abermals bemerkte sie mit Unbehagen, dass Horis Augen auf ihr ruhten.

»Ja, wir können Kameni nicht ausschließen. Uns ist kein Beweggrund bekannt, der ihn veranlasst haben könnte, uns Unglück zu bringen, aber was wissen wir überhaupt von ihm? Er stammt aus dem Norden, aus dem gleichen Gebiet wie Nofret. Er hat ihr geholfen – gern oder ungern, wer vermag es zu entscheiden? –, Imhoteps Herz gegen seine Kinder zu kehren. Ich habe ihn öfters beobachtet, und ich muss gestehen, dass ich aus ihm nicht klug werde. Er scheint mir im Ganzen ein durchaus gewöhnlicher junger Mann zu sein, der über eine gewisse Gescheitheit verfügt, und der, abgesehen von seiner Schönheit, jenes gewisse Etwas hat, das Frauen anzieht. Ja, die Weiber werden Kameni immer lieben, und doch glaube ich – mag sein, dass ich mich irre –, dass er nicht zu jenen gehört, die es darauf anlegen, Frauenherzen zu gewinnen. Er macht immer einen fröhlichen Eindruck, und er schien um Nofret nicht sehr zu trauern. Aber alle diese Dinge sind äußerlich. Wer weiß, was im Herzen eines Menschen vorgeht? Ein entschlossener Mann kann leicht eine Rolle spielen… Hat Kameni in Wirklichkeit leidenschaftlichen Anteil an Nofrets Tod genommen, und will er sich rächen? Da Satipy Nofret getötet hat, sollte deshalb ihr Gatte ebenfalls sterben? Und auch Sobek, der Nofret gedroht hat? Sind Kait und Ipy in Gefahr, weil sie ihr übel wollten? Es scheint phantastisch, aber wer kann es wissen?« Esa blickte Hori schlau an. »Vielleicht weißt du etwas, Hori?«

Hori schwieg eine Weile, dann antwortete er: »Ich habe meine eigenen Gedanken, wer den Wein vergiftet hat und warum es geschehen ist, aber ganz klar bin ich mir noch nicht…« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich könnte keine endgültige Anklage erheben.«

»Wir sprechen ja nur über mögliche Verdächtigungen. Äußere dich also, Hori.«

Wieder schüttelte er den Kopf.

»Nein, Esa. Es ist ein nebelhafter Gedanke. Und wenn ich auf dem richtigen Weg wäre, dann würdest du es besser nicht erfahren. Das Wissen könnte gefährlich sein. Das gleiche gilt für Renisenb.«

»Dann ist das Wissen aber auch für dich gefährlich, Hori?«

»Ja, es ist gefährlich… Ich glaube, Esa, dass wir alle in Gefahr sind, Renisenb vielleicht am wenigsten.«

Esa betrachtete ihn eine Zeit lang stumm. »Ich würde viel darum geben«, sagte sie dann, »wenn ich wüsste, mit was für Gedanken du dich trägst.«

Hori sann eine Weile vor sich hin, ehe er zur Antwort gab: »Die Gedanken eines Menschen lassen sich nur an seinem Benehmen erkennen. Wenn ein Mensch sich sonderbar und außergewöhnlich benimmt…«

»Dann verdächtigst du ihn?«, fragte Renisenb.

»Nein, das meine ich nicht. Wer bewusst böse Absichten hat, der muss darauf bedacht sein, sie um jeden Preis zu verbergen. Darum wagt er es nicht, sich irgendwie auffällig zu betragen.«

»Ich verstehe«, sagte Esa und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Wie steht es mit uns dreien? Wieso sind wir verdächtig?«

»Auch dies müssen wir bedenken«, gab Hori zurück. »Mir hat man großes Vertrauen entgegengebracht. In meinen Händen ruhten die Vertragsabschlüsse und die Verfügung über die Ernte. Als Schreiber habe ich mit allen Abrechnungen zu tun gehabt. Es könnte sein, dass ich sie gefälscht habe – Kameni hat im Norden eine solche Fälschung aufgedeckt. Yahmose hätte einen Verdacht fassen können. Dann wäre es notwendig gewesen, ihn zum Schweigen zu bringen.« Er lächelte schwach über seine eigenen Worte.

»O Hori, wie kannst du nur so etwas sagen!«, rief Renisenb. »Wer dich kennt, würde das niemals glauben.«

»Niemand kennt einen anderen Menschen wirklich, Renisenb. Muss ich dich immer wieder darauf aufmerksam machen?«

»Und inwiefern bin ich verdächtig?«, fragte Esa. »Nun, ich bin alt. Ein alter Kopf wird manchmal krank, so dass das Herz zu hassen beginnt, wo es zu lieben pflegte. Ich hätte meiner Enkel überdrüssig werden können. Alte Leute sind oft unberechenbar.«

»Und ich?«, fragte Renisenb. »Warum hätte ich meine Brüder, die ich liebe, töten sollen?«

»Wenn Yahmose, Sobek und Ipy nicht mehr am Leben sind«, antwortete Hori, »dann bist du Imhoteps einziges Kind. Er würde dir dann einen Gatten suchen, und alles hier wäre euer Eigentum. Ihr wäret die Hüter der Enkel Imhoteps.« Er lächelte. »Aber wir, die wir unter der Sykomore sitzen, wir verdächtigen dich nicht, Renisenb.«

»Wir, die wir unter der Sykomore sitzen, wir lieben dich«, sagte Esa.