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Erster Monat des Sommers – 30. Tag

 

Über den Fund des Halsbandes erschrak Renisenb sehr.

Sie folgte ihrem ersten Impuls und legte es wieder in das Kästchen, das sie fest zumachte.

Sie verbrachte dann eine schlaflose Nacht.

Am Morgen aber hatte sie sich zu dem Entschluss durchgerungen, sich einem Menschen anzuvertrauen. Sie vermochte die Last dieser bestürzenden Entdeckung nicht allein zu tragen. Sie holte das Halsband hervor und verbarg es in den Falten ihres Linnengewandes. Kaum hatte sie dies getan, da kam Henet hereingestürzt. Ihre Augen glänzten vor Vergnügen, weil sie eine Neuigkeit berichten konnte.

»Stell dir nur vor, Renisenb, wie entsetzlich! Der Viehhirte wurde heute früh draußen bei den Kornschobern schlafend gefunden, und obwohl man ihn geschüttelt und ihm ins Ohr geschrien hat, war er nicht zu wecken. Es ist, als hätte er Mohnsaft getrunken, aber wer mag ihm den Saft eingegeben haben?« Henets Hand berührte eines der vielen Amulette, die sie trug. »Amon schütze uns vor den bösen Geistern der Toten! Der Junge erzählte, dass er sie gesehen hat. Und deshalb kehrte sie zurück und gab ihm den Mohnsaft ein, um seine Augen für immer zu schließen! Oh, sie ist mächtig, diese Nofret! Keiner von uns ist mehr in diesem Haus sicher. Dein Vater sollte Amon eine ganze Herde Ochsen opfern – jetzt ist Sparsamkeit nicht angebracht. Imhotep trägt sich mit der Absicht, deine Mutter anzurufen; das hat Mersu ihm geraten. Hori ist schon damit beschäftigt, den Brief an die Tote abzufassen. Dein Vater wollte sich erst an Nofret wenden, aber der heilige Priester Mersu wies darauf hin, dass jetzt schärfere Maßnahmen notwendig sind. Deine Mutter, die eine vornehme Dame von edler Herkunft war, wird dafür sorgen, dass diese Frau ihre Kinder nicht zugrunde richtet.«

Renisenb hatte den Plan gehabt, Hori aufzusuchen und ihn von dem Fund des Löwenhalsbandes in Kenntnis zu setzen. Doch wenn Hori mit den Priestern des Isistempels beschäftigt war, konnte sie nicht allein mit ihm sprechen.

Einen Augenblick erwog sie den Gedanken, sich an ihren Vater zu wenden. Aber sie hatte ihren früheren kindlichen Glauben an Imhoteps Allmacht völlig verloren. Sie wusste jetzt, dass er nur Würde und Überlegenheit vortäuschte und in Augenblicken der Gefahr keine Stärke besaß. Wenn Yahmose nicht krank gewesen wäre, hätte sie mit ihm reden können… doch vermutlich hätte er darauf bestanden, die Sache Imhotep zu unterbreiten. Imhotep durfte auf keinen Fall etwas davon erfahren, das fühlte Renisenb mit immer größerer Gewissheit. Er hätte es sofort allen verkündet, und Renisenb war überzeugt, dass die Sache geheimbleiben musste – warum, das wusste sie selber nicht zu sagen.

Nein, sie brauchte Horis Rat. Hori würde wie immer wissen, was zu tun war. Wenn er ihr das Halsband abnahm, so nahm er ihr auch Angst und Sorgen ab.

Kait kam keinesfalls in Frage. Kait hörte nie richtig zu, und so liebevoll sie war, sie war dumm.

Renisenb dachte: Dann ist da noch Kameni… und meine Großmutter.

Der Gedanke, sich Kameni anzuvertrauen, hatte etwas Angenehmes. Sie sah sein Antlitz vor sich, wie es von Munterkeit zu Anteilnahme wechselte… aber ob die Anteilnahme nur ihr gelten würde?

Sie wurde den Verdacht nicht los, dass Nofret und Kameni durch eine nähere Freundschaft mehr verbunden gewesen waren, als es den Anschein gehabt hatte. Denn hatte Kameni Nofret nicht geholfen, Imhotep seiner Familie zu entfremden? Er hatte sich damit verteidigt, es sei ihm keine andere Wahl geblieben – doch ob das stimmte? So etwas sagte sich leicht. Alles, was Kameni äußerte, klang selbstverständlich und richtig. Sein Lachen war so fröhlich, dass es ansteckend wirkte. Und sein Blick… Renisenb brach verwirrt ab. Kamenis Augen waren nicht freundlich und beruhigend wie Horis Augen. Sie forderten heraus.

Renisenb beschloss, zu Esa zu gehen. Esa war klug und verfügte über einen praktischen Sinn.

Sowie Renisenb das Halsband erwähnte, blickte Esa schnell ringsum, legte den Finger auf die Lippen und streckte die andere Hand aus. Renisenb holte das Halsband hervor und legte es in die Hand der Alten. Esa betrachtete es und verstaute es dann in ihrem Gewand.

Gebieterisch sagte sie leise: »Jetzt nichts mehr davon. In diesem Hause lauschen hundert Ohren. Ich habe heute Nacht wachgelegen und nachgedacht. Es gibt viel zu tun.«

»Mein Vater und Hori bereiten im Isistempel eine Bittschrift an meine Mutter vor, in der sie ihre Hilfe anrufen.«

»Ich weiß. Lass deinen Vater sich mit den Geistern der Toten befassen. Meine Gedanken kreisen um die Dinge dieser Welt. Wenn Hori zurückkommt, bring ihn zu mir.«

»Hori weiß, was getan werden muss«, sagte Renisenb zuversichtlich.

»Wo ist eigentlich Ipy?«, fragte Esa unvermittelt.

»Er überwacht das Einordnen der Kornvorräte. Mein Vater hat ihm dieses Amt anvertraut.«

Esa lächelte.

»Das wird dem jungen Gänserich gut tun. Er bläht sich sicher voller Wichtigkeit. Wenn er zum Essen hereinkommt, schick ihn zu mir.«

»Ja, Esa.«

»Und sonst, Renisenb, Schweigen…«

 

»Du wolltest mich sprechen, Großmutter?«

Ipy lächelte herausfordernd, er hielt den Kopf etwas schräg, und zwischen seinen weißen Zähnen steckte eine Blume. Er sah sehr selbstzufrieden aus.

»Falls du mir deine kostbare Zeit opfern kannst«, sagte Esa, die Augen zusammenkneifend.

Ihr spöttischer Ton machte Ipy keinen Eindruck.

»Es ist wahr, ich habe heute sehr viel zu tun. Ich führe die Aufsicht, solange mein Vater im Tempel ist.«

»Junge Schakale bellen laut«, bemerkte Esa.

Aber Ipy blieb unerschütterlich.

»Hast du mir nicht mehr zu sagen, Großmutter?«, gab er gelassen zurück.

»O doch. Erstens einmal ist dies ein Trauerhaus. Dein Bruder Sobek ist schon in den Händen der Einbalsamierer. Aber dein Gesicht ist fröhlich, als hätten wir heute einen Festtag.«

Ipy lächelte.

»Du heuchelst nie, Esa. Möchtest du, dass ich ein Heuchler werde? Du weißt recht wohl, dass zwischen mir und Sobek keine Liebe war. Er beauftragte mich stets mit den demütigendsten Arbeiten auf dem Felde. Häufig verspottete er mich und lachte mich aus. Und als mein Vater mich zusammen mit meinen älteren Brüdern zum Teilhaber machen wollte, überredete Sobek ihn, davon abzustehen.«

»Wie kommst du darauf, dass Sobek ihn dazu überredet hat?«, fragte Esa scharf.

»Kameni sagte es mir.«

»Kameni?« Esa zog die Brauen in die Höhe. »Das finde ich merkwürdig.«

»Kameni sagte, er habe es von Henet gehört – und wir alle sind uns darin einig, dass Henet immer alles weiß.«

»Trotzdem hat Henet sich diesmal geirrt«, entgegnete Esa trocken. »Zweifellos waren deine beiden Brüder der Meinung, dass du noch zu jung für eine solche Verantwortung bist, ich aber war diejenige, die deinem Vater geraten hat, dich auszuschließen.«

»Du, Großmutter?« Mit unverhohlenem Erstaunen blickte er sie an. Dann spiegelte sein Gesicht Zorn, die Blume fiel von seinen Lippen. »Warum hast du das getan? Es ging dich doch gar nichts an.«

»Alles, was meine Familie betrifft, geht mich an.«

»Und mein Vater hat auf dich gehört?«

»Nicht sofort«, antwortete Esa trocken. »Aber ich will dir eine Lehre erteilen, mein schönes Kind. Frauen wirken im Geheimen und machen sich die Schwächen der Männer zunutze. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich Henet eines Abends mit dem Spielbrett auf den Vorplatz schickte.«

»Ja, ich weiß. Mein Vater und ich spielten zusammen. Was soll das?«

»Ihr spieltet drei Runden. Und jedes Mal hast du, da du besser spielst, deinen Vater geschlagen.«

»Ja.«

»Das ist alles«, sagte Esa und schloss die Augen. »Dein Vater schätzt es nicht, geschlagen zu werden, noch dazu von einem Knaben. Deshalb entsann er sich meiner Worte und fand, dass du noch zu jung bist, um Teilhaber zu werden.«

Ipy starrte sie eine Weile an; dann lachte er – das Lachen klang nicht sehr vergnügt.

»Du bist klug, Esa, wenn du auch alt bist. Wir beide haben den hellsten Verstand von der Familie. Du hast bei unserem Spiel die erste Runde gewonnen. Aber du wirst sehen, die zweite gewinne ich. Pass also auf, Großmutter.«

»Das werde ich«, gab Esa zurück. »Pass aber du auf dich selber auf. Einer deiner Brüder ist tot, der andere wäre fast gestorben. Du bist ebenfalls der Sohn deines Vaters – vielleicht gehst du den gleichen Weg. Auch du hast Nofret beleidigt.«

Ipy lachte spöttisch.

»Nofret! Ich habe da so meine eigenen Gedanken, Großmutter. Und ich versichere dir, Nofret und ihre Geisterkunststücke machen mir keine Sorge. Dieses dumme Weib!«

Hinter ihm ertönte ein schriller Schrei, und Henet rief weinend: »Törichtes Kind! Die Tote herauszufordern! Und nicht einmal ein Amulett hast du zu deinem Schutz!«

»Ich schütze mich selber. Geh mir aus dem Weg, Henet, ich habe Arbeiten zu erledigen. Diese faulen Bauern sollen erfahren, wie es ist, einen wirklichen Herrn über sich zu haben.«

Ipy stieß Henet beiseite und schritt hinaus.

Esa schnitt Henets Klagen kurz ab.

»Antworte mir, Henet, hast du Kameni gesagt, dass Sobek Imhotep überredet hat, Ipy von der Teilhaberschaft auszuschließen?«

Henets Stimme senkte sich zu ihrem üblichen Jammerton.

»Ich habe gewiss zu viel zu tun, als dass ich meine Zeit damit verbringen könnte, alles mögliche zu erzählen – noch dazu gerade Kameni. Ich habe sicher kein Wort mit ihm geredet, wenn er nicht zu mir gekommen ist und mich angesprochen hat. Er hat ein angenehmes Auftreten, das musst du zugeben, Esa, und ich bin nicht die Einzige, die das findet. Und wenn eine junge Witwe ein neues Bündnis eingehen will, nun, dann wünscht sie sich gewöhnlich einen schönen, jungen Mann. Allerdings weiß ich nicht, was Imhotep dazu sagen würde. Kameni ist nur zweiter Schreiber.«

»Kümmere dich nicht darum, was Kameni ist! Beantworte meine Frage!«

»Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich gesagt habe und was nicht. Eine Bemerkung geht einem leicht von den Lippen, wie es so ist… Sobek hat wirklich gesagt, dass Ipy noch zu jung ist. Auch Yahmose hat diese Meinung geäußert, wenn auch weniger laut und nicht so oft. Schließlich hat man die Zunge zum Sprechen bekommen.«

»Hoffentlich hat deine Zunge nicht den Tod heraufbeschworen, Henet.«

»Was denkst du auch, Esa? Ich habe sicher zu keinem Menschen ein Wort gesagt, das nicht die ganze Welt hören dürfte. Ich bin allen so ergeben, dass ich für jeden sterben könnte. Ach, meine Liebe und Treue wird immer unterschätzt!«

»Oh, da wird ja meine lecker gebratene Ente gebracht«, fiel Esa ein, als die kleine Sklavin mit einer Platte eintrat. »Sie riecht wunderbar. Und da du so treu ergeben bist, Henet, kannst du ein paar Bissen essen – für den Fall, dass meine Mahlzeit vergiftet ist.«

»Vergiftet!«, schrie Henet auf. »Wie kannst du nur so etwas sagen, Esa! Die Ente ist in unserer Küche gebraten worden.«

»Auf alle Fälle muss jemand sie kosten. Am besten du, Henet, da du ja auch bereit bist, für jeden von uns zu sterben. Es ist sicher kein schmerzvoller Tod. Meine kleine Sklavin möchte ich nicht verlieren. Sieh nur, wie knusprig und saftig die Ente ist. Also, mach den Mund auf. Köstlich, nicht wahr? Aber du wirst ja ganz blass. Hat dir mein kleiner Scherz nicht gefallen?«

Esa lachte spöttisch. Dann wurde sie plötzlich wieder ernst und widmete sich mit Hingabe ihrem Lieblingsgericht.