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Zweiter Monat des Sommers – 17. Tag

 

Am folgenden Tag wurde das Fest des jungen Mondes gefeiert. Imhotep war gezwungen, zum Grab hinaufzugehen und die Opfer darzubringen. Yahmose bat seinen Vater, es diesmal ihm zu überlassen; aber Imhotep zeigte sich eigensinnig. Mit einem schwachen Abglanz seines früheren Hochmuts entgegnete er: »Wie kann ich sicher sein, dass alles richtig gemacht wird, wenn ich es nicht selber besorge? Hab ich jemals meine Pflicht vernachlässigt? Hab ich nicht euch alle erhalten, auch ernährt…«

Seine Stimme erstarb. Dann stöhnte er: »Ach, ich vergaß. Meine beiden Söhne sind von mir gegangen. Ihr beide, Yahmose und Renisenb, ihr seid mir geblieben. Aber wie lange noch, wie lange…«

»Noch viele Jahre hoffentlich«, sagte Yahmose.

Er sprach ziemlich laut wie zu einem Schwerhörigen.

»Wie? Was?« Imhotep schien tief in Gedanken versunken. Er sagte unvermittelt: »Es hängt von Henet ab, nicht wahr? Ja, es hängt von Henet ab.«

Yahmose und Renisenb wechselten einen Blick.

»Ich verstehe dich nicht, Vater«, warf Renisenb ein.

Nachdrücklich sagte Imhotep. »Henet versteht mich.

Sie hat mich immer verstanden. Sie weiß, wie groß ihre Verantwortung ist. Und immer hat sie nur Undank geerntet. Stets war sie bescheiden und demütig. Sie soll belohnt werden.« Er richtete sich auf und fügte würdevoll hinzu: »Hör mich an, Yahmose. Henet soll alles haben, was sie wünscht. Ihre Befehle sind zu befolgen!«

»Aber warum dies, Vater?«

»Weil ich es sage. Weil es keine Todesfälle mehr geben wird, wenn Henets Wünsche erfüllt werden.«

Er nickte weise mit dem Kopf und ging von dannen. Yahmose und Renisenb blickten einander erstaunt und bestürzt an.

»Was bedeutet das, Yahmose?«

»Ich ahne es nicht. Bisweilen dünkt es mich, mein Vater weiß nicht, was er spricht oder tut…«

»Aber Henet weiß meiner Meinung nach recht gut, was sie spricht und tut. Erst kürzlich sagte sie zu mir, dass sie die Macht in diesem Hause haben würde.«

Sie sahen sich an. Dann legte Yahmose seiner Schwester die Hand auf den Arm.

»Erzürne sie nicht. Du zeigst deine Gefühle zu unverhüllt, Renisenb. Hast du gehört, was mein Vater sagte? Es wird keine Todesfälle mehr geben, wenn Henets Wünsche erfüllt werden…«

 

Henet kauerte im Wäscheraum und zählte Linnentücher. Es war altes Linnen, und sie hielt das Zeichen an der Ecke des einen Lakens näher an die Augen.

»Ashayet«, murmelte sie. »Ashayets Linnentücher. Eingezeichnet mit dem Jahr, in dem sie herkam… zusammen mit mir… Das ist lange her. Ob du wohl weißt, wofür die Linnentücher jetzt benutzt werden, Ashayet?«

Mitten im Gekicher brach sie ab und zuckte zusammen, weil hinter ihr ein Geräusch ertönte. Sie blickte über die Schulter.

Es war Yahmose.

»Was tust du da, Henet?«

»Die Einbalsamierer brauchen noch mehr Tücher. Ganze Stöße haben sie schon verbraucht. Es ist entsetzlich, wie viele Linnentücher diese Begräbnisse verschlingen! Wir müssen diese alten verwenden. Sie sind gut und noch nicht abgenutzt. Das Linnen deiner Mutter, Yahmose, das Linnen deiner Mutter…«

»Wer hat gesagt, dass du es nehmen darfst?«

Henet lachte.

»Imhotep hat mir freie Hand gegeben. Ich brauche nicht mehr zu fragen. Er vertraut der alten Henet. Er weiß, dass sie für alles richtig sorgen wird. Seit langer Zeit sorge ich für das meiste in diesem Hause. Ich glaube, jetzt werde ich meine Belohnung erhalten!«

»Es sieht so aus, Henet.« Yahmoses Ton war milde. »Mein Vater sagte, dass alles von dir abhängt.«

»Wirklich? Oh, das ist schön zu hören. Aber vielleicht bist du nicht dieser Ansicht, Yahmose?«

»Nun, ich bin nicht ganz sicher.« Immer noch war sein Ton milde, aber er beobachtete sie scharf.

»Du würdest wohl besser einer Meinung mit deinem Vater sein, Yahmose. Wir wollen doch keine… Unannehmlichkeiten mehr, nicht wahr?«

»Ich verstehe nicht recht. Meinst du, wir wollen keine Todesfälle mehr?«

»Es wird noch mehr geben, Yahmose. O ja…«

»Wer wird als nächster sterben, Henet?«

»Wie kommst du darauf, dass ich das weiß?«

»Weil ich glaube, dass du sehr viel weißt. Du wusstest zum Beispiel, dass Ipy sterben würde. Du bist sehr klug, Henet.«

Sie warf den Kopf zurück.

»Das wird dir also endlich klar! Ich bin nicht mehr die arme, dumme Henet. Ich weiß Bescheid.«

»Was weißt du denn, Henet?«

Henets Ton änderte sich; er wurde scharf.

»Ich weiß zumindest, dass ich in diesem Hause tun kann, was mir beliebt. Niemand wird mich mehr zurückhalten. Imhotep stützt sich auf mich. Und du wirst das auch tun, wie, Yahmose?«

»Und Renisenb?«

Henet lachte böse.

»Renisenb wird fort sein.«

»Glaubst du, dass Renisenb die nächste sein wird?«

»Vielleicht meinte ich nur, dass Renisenb heiraten und fortziehen wird.«

»Was meinst du in Wirklichkeit, Henet?«

Henet kicherte. »Esa sagte einmal, ich hätte eine gefährliche Zunge. Vielleicht stimmt das!« Sie lachte schrill und wiegte sich hin und her. »Nun, Yahmose, kann ich in diesem Hause endlich tun, was mir beliebt?«

Yahmose betrachtete sie eine Weile, ehe er antwortete: »Ja, Henet. Du bist so klug. Du sollst tun, was dir beliebt.«

Er wandte sich ab und traf Hori, der soeben aus der Haupthalle kam und zu ihm sagte: »Da bist du ja, Yahmose. Imhotep wartet auf dich. Es ist Zeit, zum Grab zu gehen.«

Yahmose nickte. »Ich komme.« Er senkte die Stimme: »Hori, ich glaube, Henet ist von den Teufeln besessen.«

»Sie ist eine merkwürdige und böse Frau, scheint mir.«

»Hori, ich glaube, Renisenb droht Gefahr.«

»Von Henet?«

»Ja. Sie hat mir gerade angedeutet, dass Renisenb als nächste gehen wird.«

Imhoteps aufgebrachte Stimme ertönte: »Muss ich denn den ganzen Tag warten? Was für ein Benehmen ist das! Niemand nimmt mehr Rücksicht auf mich. Wo ist Henet? Henet versteht mich.«

Aus dem Wäscheraum erklang Henets frohlockendes Gekicher: »Hast du das gehört, Yahmose?«

Yahmose erwiderte ruhig: »Ja, Henet, ich verstehe. Du hast Macht. Du und mein Vater und ich, wir drei zusammen…«

Hori entfernte sich. Yahmose sprach noch einige Worte mit Henet, die ihm zunickte, ihr Gesicht strahlte in bösartigem Vergnügen.

Dann gesellte Yahmose sich zu Imhotep und Hori und entschuldigte sich wegen der Verzögerung. Die drei Männer gingen miteinander zum Grab hinauf.

 

Für Renisenb verstrich der Tag nur langsam.

Von innerer Unruhe getrieben, trat sie auf den Vorplatz, begab sich zum See und kehrte ins Haus zurück.

Zur Mittagszeit kam Imhotep wieder. Er ließ sich auf dem Vorplatz nieder, wo Renisenb sich zu ihm setzte.

Ab und zu blickte sie zu ihrem Vater auf. Sein Gesicht trug immer noch den geistesabwesenden, verwirrten Ausdruck. Er sprach wenig. Ein paarmal seufzte er tief.

Einmal stand er auf und rief nach Henet. Aber gerade da war Henet mit dem Linnen zu den Einbalsamierern gegangen.

Renisenb erkundigte sich, wo Hori und Yahmose wären.

»Hori wollte nach den fernen Flachsfeldern sehen«, gab Imhotep Bescheid. »Die Ernte muss aufgeschrieben werden. Yahmose ist bei den Pflanzungen. Es ruht jetzt alles auf ihm… Wehe über Sobek und Ipy! Meine Söhne, meine schönen Söhne…«

Renisenb versuchte ihn schnell abzulenken.

»Kann Kameni nicht die Arbeit beaufsichtigen?«

»Kameni? Wer ist Kameni?«

»Kameni, der Schreiber. Kameni, den ich heiraten werde.«

Er starrte sie an.

»Du, Renisenb? Aber du sollst doch Khay heiraten.«

Sie seufzte, sagte jedoch nichts mehr. Es dünkte sie grausam, ihn in die Gegenwart zurückzureißen.

Doch nach einer Weile richtete er sich auf und rief plötzlich: »Natürlich, Kameni! Er ist in die Brauerei gegangen, um dem Aufseher einige Anweisungen zu geben. Ich muss zu ihm.«

Er schritt davon, wobei er vor sich hin murmelte, aber er hatte wieder seine frühere stolze Haltung angenommen, so dass Renisenb sich ein wenig getröstet fühlte. Vielleicht war diese Geistestrübung nur vorübergehend. Sie blickte um sich. Die Stimmung im Haus und auf dem Hof hatte heute etwas Finsteres. Die Kinder hielten sich auf der anderen Seite des Sees auf. Kait war nicht bei ihnen, und Renisenb fragte sich, wo sie wohl sein mochte.

Da kam Henet auf den Vorplatz heraus. Sie schaute rings umher und glitt dann zu Renisenb. Sie gab sich wieder ganz demütig und schmeichlerisch.

»Ich habe auf eine Gelegenheit gewartet, um mit dir allein zu sprechen, Renisenb.«

»Warum, Henet?«

Henet senkte die Stimme.

»Ich habe dir etwas auszurichten – von Hori.«

»Was denn?«, fragte Renisenb eifrig.

»Er lässt dich bitten, zum Grab hinaufzukommen.«

»Jetzt?«

»Nein, du sollst eine Stunde vor Sonnenuntergang dort sein. Wenn er nicht da ist, möchtest du auf ihn warten. Es ist wichtig, lässt er dir sagen.« Henet machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Ich sollte eine Gelegenheit abpassen, dir das unter vier Augen mitzuteilen. Niemand darf es wissen.«

Henet verschwand ebenso leise, wie sie gekommen war.

Renisenbs Lebensgeister hoben sich. Sie freute sich auf den Frieden und die Ruhe oben beim Grab. Ein wenig wunderte sie sich nur, dass Hori seine Botschaft gerade Henet anvertraut hatte.

Brauche ich Henet überhaupt zu fürchten? dachte Renisenb. Ich bin stärker als sie.

Sie reckte sich stolz. Sie fühlte sich jung und voller Lebenslust.

 

Nachdem Henet die Botschaft ausgerichtet hatte, begab sie sich wieder ins Wäschezimmer. Sie lachte still vor sich hin.

Sie beugte sich still über die in Unordnung geratenen Linnenstöße. »Bald brauchen wir noch mehr von euch«, sagte sie zu den Laken. »Hörst du mich, Ashayet? Ich bin jetzt hier die Herrin, und ich kann dir verraten, dass dein Linnen bald eine neue Leiche umhüllen wird. Wer wird es wohl sein, was glaubst du? Hihi! Du hast nicht viel ausrichten können, nicht wahr? Weder du noch deiner Mutter Brüder, der Nomarch! Gerechtigkeit? Welche Gerechtigkeit gibt es in dieser Welt? Beantworte mir das!«

Hinter den Linnenballen entstand eine Bewegung. Henet wandte den Kopf.

Da wurde ein großes Tuch über sie geworfen, das ihr Mund und Nase erstickte. Eine unerbittliche Hand wickelte den Stoff immer fester um ihren Leib, umhüllte sie wie eine Leiche, bis ihr Widerstand erstarb…