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Zweiter Monat des Winters – 10. Tag

 

Renisenb trat aus dem Hause und schützte die Augen gegen die jähe Helligkeit.

Namenlose Furcht erfüllte sie. Immer wieder sagte sie zu sich: Ich muss Nofret warnen… ich muss Nofret warnen…

Hinter sich hörte sie Männerstimmen, die Stimmen Horis und Yahmoses, die sich mischten, und dann erhob sich darüber Ipys klarer Knabensopran.

»Satipy und Kait haben Recht. Ihr seid keine Männer! Aber ich bin ein Mann, bin im Herzen ein Mann, wenn auch nicht an Jahren. Nofret hat sich über mich lustig gemacht, mich ausgelacht, mich wie ein Kind behandelt. Ich werde ihr beweisen, dass ich kein Kind mehr bin. Ich fürchte mich vor dem Zorn meines Vaters nicht. Ich kenne meinen Vater. Er ist behext – diese Frau hat ihn mit einem Zauber gebannt. Wenn sie vernichtet würde, dann würde sich sein Herz wieder mir zukehren – mir! Ich bin der Sohn, den er am meisten liebt. Ihr alle behandelt mich, als ob ich ein Kind wäre, aber ihr werdet sehen. Ja, ihr werdet sehen!«

Als er aus dem Haus eilte, stieß er mit Renisenb zusammen, die fast umgefallen wäre. Sie ergriff seinen Arm.

»Ipy, Ipy, wohin gehst du?«

»Ich suche Nofret. Sie soll sehen, ob sie mich auslachen kann!«

»Warte ein wenig. Man darf nichts übereilt tun.«

Der Knabe lachte zornig.

»Du bist wie Yahmose. Klugheit! Vorsicht! Nichts übereilt tun! Yahmose ist wie ein altes Weib. Und Sobek prahlt nur mit großen Worten. Lass mich los, Renisenb.« Er machte sich frei. Im gleichen Augenblick trat Henet heraus, und er fuhr auf sie zu: »Wo ist Nofret?«

»Sag es ihm nicht!«, schrie Renisenb, aber Henet antwortete schon: »Sie ist zu den Flachsfeldern gegangen, den hinteren Weg.«

Ipy lief ums Haus herum, und Renisenb bemerkte vorwurfsvoll: »Du hättest es ihm nicht sagen sollen, Henet.«

»Nie habt ihr Vertrauen zu mir«, klagte Henet. »Aber ich weiß genau, was ich tue. Der Junge braucht Zeit, um sich abzukühlen. Er wird Nofret bei den Flachsfeldern nicht finden.«

Sie lächelte schlau. »Nofret ist dort im Pavillon – mit Kameni.«

Renisenb machte sich auf den Weg über den Hof. Da kam Teti, ihren hölzernen Löwen hinter sich her ziehend, auf sie zugelaufen, und Renisenb hob die Kleine hoch. In diesem Augenblick erkannte sie die Kraft, die Satipy und Kait trieb. Die beiden Frauen kämpften für ihre Kinder.

Als Renisenb sich dem Pavillon näherte, drehten Nofret und Kameni, die dort standen, sich um.

Renisenb sprach rasch und atemlos: »Nofret, ich komme, um dich zu warnen. Du musst auf der Hut sein.«

Nofrets Gesicht spiegelte verächtliche Belustigung. »Bellen die Hunde also? Mir kann niemand ein Leid antun. Dein Vater würde es sofort erfahren und Rache üben. Das wird ihnen klar werden, wenn sie erst einmal nachdenken.« Sie lachte. »Wie dumm sie waren mit ihren kleinen Beleidigungen und Belästigungen! Sie haben mir die ganze Zeit den Sieg zugespielt.«

»Du hat das alles also längst geplant?«, versetzte Renisenb langsam. »Und ich hatte Mitleid mit dir – ich fand uns unfreundlich. Ich habe kein Mitleid mehr mit dir, Nofret. Ich glaube, du bist böse.«

»Ich habe dir nichts angetan, Renisenb. Gegen dich habe ich nichts gesagt. Frag Kameni.« Nofret ging über den Hof und die Stufen zum Hause empor. Henet trat heraus, und die beiden Frauen verschwanden miteinander.

Renisenb wandte sich an Kameni: »Du hast ihr also geholfen, Kameni, uns dies anzutun?«

»Was blieb mir anderes übrig?«, entgegnete Kameni.

»Imhotep hat mir ausdrücklich befohlen, ihm unverzüglich zu schreiben, sowie Nofret mich darum ersuchen würde.«

»Dann trifft dich keine Schuld. Du musstest dem Befehl meines Vaters gehorchen.«

»Ich habe es nicht gern getan, und es stimmt, Renisenb, über dich war kein Wort der Klage dabei.«

»Als ob mich das kümmert!«

»Aber mich kümmert es. Was Nofret mir auch gesagt hätte, ich hätte kein Wort geschrieben, das gegen dich gerichtet gewesen wäre. Renisenb, bitte glaube mir. Ich schrieb auch keine einzige Lüge, das schwöre ich dir.«

»Sicher waren keine Lügen dabei«, erwiderte Renisenb traurig. »Dazu ist Nofret viel zu klug.«

Die alte Esa hatte Recht behalten. Die böswilligen Streiche, die Kait und Satipy ausgeheckt hatten, waren Nofret äußerst gelegen gekommen. Kein Wunder, dass sie mit katzenhaftem Lächeln herumgegangen war.

»Sie ist schlecht«, sagte Renisenb aus ihren Gedanken heraus.

»Ja«, stimmte Kameni zu, »sie ist ein schlimmes Geschöpf.«

Renisenb sah ihn neugierig an.

»Du kanntest sie schon, ehe sie hierher kam, nicht wahr?«

Kameni errötete verlegen.

»Ich kannte sie nicht gut… ich hatte von ihr gehört. Ein stolzes Mädchen, hieß es, ehrgeizig und hart, eine, die nicht verzeiht.«

Renisenb warf in plötzlicher Ungeduld den Kopf zurück.

»Ich glaube nicht, dass mein Vater seine Drohungen wahr machen wird. Er ist augenblicklich erzürnt, aber so ungerecht kann er nicht sein. Wenn er zurückkehrt, wird er vergeben.«

»Wenn er zurückkehrt«, entgegnete Kameni, »wird Nofret dafür sorgen, dass er seine Meinung nicht ändert. Du kennst Nofret nicht, Renisenb. Sie ist sehr klug und sehr entschlossen… und sie ist, vergiss das nicht, sehr schön.«

»Ja«, stimmte Renisenb zu, »sie ist schön.« Sie wandte sich ab, um fortzugehen. Aus irgendeinem Grunde tat ihr der Gedanke an Nofrets Schönheit weh.

 

Renisenb verbrachte den Nachmittag beim Spiel mit den Kindern. Dadurch wurde der unbestimmte Schmerz in ihrem Herzen gelindert. Erst kurz vor Sonnenuntergang fiel ihr mit Verwunderung auf, dass weder Satipy noch Kait draußen gewesen war.

Kameni befand sich längst nicht mehr im Hof. Renisenb begab sich langsam ins Haus. Im Wohnraum war niemand, und sie ging weiter zum Frauenquartier. Esa döste im Winkel ihres Zimmers, und ihre kleine Sklavin ordnete Linnentücher. In der Küche wurde Brot gebacken.

Renisenb fühlte sich von einer seltsamen Leere bedrückt. Wo waren alle?

In Nofrets Zimmer hing starker Parfümduft. Renisenb starrte von der Tür aus auf die kleine hölzerne Nackenstütze, auf einen Schmuckkasten, ein Häufchen Perlenarmbänder und einen mit einem blauen Skarabäus verzierten Ring. Wo mochte Nofret sein?

Sie wandte sich ab und ging weiter. Am Hinterausgang traf sie mit Henet zusammen, die gerade hereinkam.

»Wo sind alle, Henet? Außer meiner Großmutter ist niemand im Hause.«

»Wie soll ich das wissen? Ich habe gearbeitet, habe beim Weben geholfen und für hundert Dinge gesorgt. Ich habe keine Zeit zum Sapzierengehen.«

Das bedeutete, dachte Renisenb, dass jemand spazieren gegangen war. Vielleicht war Satipy ihrem Mann gefolgt, um ihm weiter zuzusetzen. Aber wo war Kait? Es sah Kait so gar nicht ähnlich, längere Zeit von ihren Kindern fortzubleiben. Und wieder dachte sie: Wo mag nur Nofret sein?

Als hätte Henet ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Was Nofret betrifft, so ging sie vor längerer Zeit zum Grab hinauf. O ja, Hori passt zu ihr.« Henet lachte spöttisch. »Hori ist ebenfalls schlau.« Sie glitt etwas näher zu Renisenb. »Ich wünschte, du wüsstest, Renisenb, wie unglücklich ich über all dies war. Sie kam damals zu mir, weißt du – sie blutete, und man sah die Spuren von Kaits Fingern auf ihrer Wange. Und sie ließ Kameni holen, und ich musste bezeugen, was ich gesehen hatte, und natürlich konnte ich nicht sagen, ich hätte es nicht gesehen! Oh, sie ist schlau. Und ich denke die ganze Zeit an deine liebe Mutter…«

Renisenb ließ sie stehen und ging in den goldenen Abendsonnenschein hinaus. Sie beschleunigte den Schritt, als sie sich dem Klippenpfad zuwandte. Sie wollte zum Grab hinauf und Hori suchen. Hori war wie die Felsen: unerschütterlich, unbeweglich, standhaft.

Da sah sie plötzlich Satipy auf sie zukommen. Satipy musste ebenfalls oben beim Grab gewesen sein. Wie sonderbar Satipy ging, sie schwankte hin und her, stolperte, als ob sie nichts sähe…

Als Satipy Renisenb erblickte, blieb sie jählings stehen, ihre Hand fuhr zur Brust empor. Renisenb, die sich ihr näherte, erschrak über den Ausdruck ihres Gesichts.

»Was ist geschehen, Satipy?«

»Was soll geschehen sein? Nichts natürlich.«

»Wo warst du?«

»Ich ging zum Grab hinauf – um Yahmose zu suchen. Er war nicht dort. Niemand war dort.«

Renisenb starrte sie an. Das war eine neue Satipy, die sie gar nicht kannte. Eine Satipy ohne Tatkraft und ohne Leben.

»Komm, Renisenb, komm ins Haus zurück.«

Satipy legte ihre leicht bebende Hand auf Renisenbs Arm und versuchte sie zurückzudrängen, aber bei der Berührung lehnte sich etwas in Renisenb auf.

»Nein, ich will zum Grab.«

»Aber es ist niemand oben, das sagte ich dir doch.«

»Ich sitze gern dort und schaue auf den Fluss hinaus.«

»Aber die Sonne geht schon unter, es ist spät.«

Renisenb schüttelte die Hand ab.

»Lass mich, Satipy!«

»Komm mit mir zurück!«

Aber Renisenb war schon vorbei und schritt weiter. Es war dort etwas, ihr Instinkt sagte es ihr, und sie lief schneller.

Dann gewahrte sie es, das dunkle Bündel, das im Schatten des Felsens lag. Sie eilte weiter, bis sie dicht davor stand.

Da lag Nofret mit zusammengekrümmtem Körper und offenen, blinden Augen…

Renisenb bückte sich und berührte die kalte Wange. Sie richtete sich wieder auf und blickte auf die Tote hinab. Sie hörte kaum, dass Satipy zu ihr trat.

»Sie muss gefallen sein«, sagte Satipy. »Sie ist von der Klippe heruntergestürzt. Vielleicht hat eine Schlange sie erschreckt.«

Renisenb zuckte zusammen, denn unwillkürlich musste sie an Sobek und die Schlange denken. Sie fühlte eine plötzliche Erleichterung, als sie Horis Stimme vernahm: »Was ist geschehen?«

Hori und Yahmose waren miteinander gekommen. Satipy erklärte ihnen zungenfertig, dass Nofret vom oberen Pfad herabgestürzt sein musste.

Yahmose meinte: »Sie hat uns wohl gesucht, aber Hori und ich waren mindestens eine Stunde fort, um die Berieselungsanlage zu besichtigen. Als wir zurückkamen, sahen wir euch hier stehen.«

»Wo ist Sobek?«, fragte Renisenb, und sie kannte ihre eigene Stimme nicht wieder.

Hori drehte scharf den Kopf nach ihr um. Yahmoses Ton war nur verwundert, als er zurückgab: »Sobek? Ich habe ihn den ganzen Nachmittag nicht mehr gesehen, seit er im Zorn aus dem Haus lief.«

Renisenb bemerkte, dass Hori die Tote betrachtete, und sie glaubte zu wissen, was er dachte.

Satipy wiederholte eindringlich:

»Sie ist vom oberen Pfad herabgestürzt. Der Weg ist schmal und recht gefährlich.«

Als würde eine Last von ihr genommen, hörte Renisenb Horis ernste Stimme bestätigen:

»Ja, sie ist gestürzt.«

Seine Augen begegneten ihrem Blick. Sie dachte: Er weiß es genau wie ich. Wir beide wissen es und werden es immer wissen.

Unsicher sagte sie:

»Ja, sie ist gestürzt.«

Und wie ein endgültiges Echo stimmte Yahmose mit sanftem Ton bei:

»Sie muss vom oberen Pfad heruntergestürzt sein.«