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Erster Monat des Sommers – 12. Tag

 

»Das glaubst du also?«

Renisenb warf Hori die Worte mehr als Feststellung den als Frage zu. Leise fügte sie mit wachsendem Entsetzen hinzu: »Satipy hat Nofret umgebracht…«

Sie saß im Eingang zu Horis kleiner Felsenkammer neben dem Grab, stützte das Kinn in die Hände und blickte ins Tal hinab.

»Wie dumm von mir«, sagte sie nach einer Weile, da Hori ihr nicht antwortete. »Ich hätte mir ja denken können, dass Satipy Nofret gefolgt ist, dass sie sich auf dem Pfad getroffen haben und dass Satipy sie hinuntergestoßen hat. Sie hatte ja erst kurz zuvor selber gesagt, dass sie mehr Mann sei als meine Brüder.«

Renisenb brach ab und schauderte.

»Und ich, als ich sie traf«, sprach sie dann weiter, »da hätte ich es mir eigentlich denken können. Sie war ganz verwandelt – sie hatte Angst. Sie versuchte mich zu überreden, mit ihr umzukehren. Sie wollte nicht, dass ich Nofrets Leiche finde. Ich muss blind gewesen sein, dass ich die Wahrheit nicht gleich erkannt habe. Aber ich zitterte so um Sobek…«

»Ja, weil du gesehen hast, wie er die Schlange tötete.«

»Der arme Sobek, wie habe ich ihm unrecht getan. Du sagtest ja, reden ist nicht dasselbe wie handeln. Sobek hat immer geprahlt und sich gebrüstet. Satipy aber war die Kühne und Ruchlose, die vor Taten nicht zurückschreckte. Und wie sie dann gleich einem Geist herumging… Wir haben uns alle darüber gewundert… warum fanden wir nicht die richtige Erklärung?« Sie sah schnell auf. »Aber du hattest sie gefunden, nicht wahr?«

»Seit einiger Zeit, ja«, antwortete Hori. »Ich war überzeugt, dass die Wahrheit über Nofrets Tod mit Satipys Veränderung zusammenhing. Die Veränderung war so auffallend, dass sie eine einschneidende Ursache haben musste.«

»Und doch hast du nichts gesagt?«

»Was hätte ich beweisen können, Renisenb?«

»Das stimmt. Aber einmal sagtest du zu mir, dass die Menschen sich in Wirklichkeit nicht verändern. Doch jetzt gibst du zu, dass Satipy verändert war.«

Hori lächelte.

»Du bist spitzfindig wie eine Rechtsgelehrte, Renisenb. Was ich sagte, ist gleichwohl wahr – die Menschen bleiben sich immer gleich. Satipy war wie Sobek kühn in Worten. Sie mag wirklich von Worten zur Tat geschritten sein, aber ich glaube, sie gehört zu jenen, die erst wissen, wie etwas ist, wenn es geschieht. Bis zu jenem besonderen Tag hat sie niemals die Furcht erlebt. Als die Furcht kam, war sie unvorbereitet. Da erkannte sie, dass Mut darin besteht, dem Unvorhergesehenen entgegenzutreten – und diesen Mut hatte sie nicht.«

Renisenb murmelte leise: »Als die Furcht kam… Ja, so war es seit Nofrets Tod. Satipy stand die Furcht ins Gesicht geschrieben. Die Angst starrte aus ihren Augen, als sie starb und ›Nofret‹ hauchte. Es war, als hätte sie etwas gesehen. Wir sahen nichts auf dem Pfad. Es war nichts dort.«

»Für uns nicht.«

»Aber für sie? Sie sah Nofret, die Rache nehmen wollte… Nofret ist jedoch tot und in ihrem Grab versiegelt. Was hat sie also gesehen?«

»Das Bild, das ihr eigener Geist ihr gemalt hat.«

»Hori…« Renisenb streckte Hilfe suchend die Hand aus. »Ist es nun zu Ende? Nachdem Satipy tot ist…«

Tröstend hielt er ihre Hand.

»Ja, ja, Renisenb, gewiss. Du jedenfalls brauchst dich nicht zu fürchten.«

»Aber Esa sagt, dass Nofret mich gehasst hat…«

»Nofret hasste leicht. Manchmal glaube ich, dass sie alle Menschen hier gehasst hat. Aber du hast ihr ja nichts zuleide getan. Und darum ist nichts in deinem Geist, das sich als Richter gegen dich erhebt.«

»Ich würde also, meinst du, nichts sehen, wenn ich bei Sonnenuntergang allein den Pfad hinunterginge und mich umdrehte? Ich wäre ganz sicher?«

»Du wirst sicher sein, Renisenb, weil ich mit dir gehe.« Renisenb schüttelte den Kopf.

»Nein, Hori, ich will allein gehen.«

»Warum denn, kleine Renisenb? Wirst du dich nicht fürchten?«

»Doch, ich glaube wohl«, antwortete sie. »Trotzdem muss ich es tun. Alle zittern und beben im Haus und laufen zu den Tempeln, um Amulette zu kaufen, und sagen, es sei nicht gut, zur Zeit des Sonnenuntergangs diesen Pfad zu beschreiten. Aber es war keine Magie, die Satipy straucheln und hinunterstürzen ließ; es war die Angst vor dem Bösen, das sie getan hatte. Ich hingegen habe nichts Böses getan, und wenn Nofret mich auch gehasst hat, so kann ihr Hass mir doch nicht schaden. Das glaube ich. Und da es besser ist zu sterben, als dauernd in Furcht zu leben, will ich die Furcht überwinden.«

Lächelnd stand sie auf.

Hori erhob sich ebenfalls.

»Deine Worte zeigen den Mut, den ich immer bei dir gespürt habe. Schau, Renisenb, dies ist Ägypten, unsere Heimat, die der Krieg für lange Jahre in kleine Königreiche zerstückelt hat. Aber bald wird es ein geeintes Land sein… Ober- und Unterägypten in ein Reich verschmolzen, das seine frühere Größe erlangt, wie ich hoffe und glaube! Dann wird Ägypten tapfere Männer und Frauen brauchen – Frauen wie dich, Renisenb, nicht Männer wie Imhotep, die stets mit ihren eigenen kleinen Gewinnen und Verlusten beschäftigt sind, auch nicht faule und prahlerische Männer wie Sobek oder Jünglinge wie Ipy, die nur daran denken, was sie für sich selbst ergattern können, nein, auch keine gewissenhaften, braven Söhne wie Yahmose. Verstehst du, was ich meine, Renisenb?«

»Ich glaube, ein wenig. Du bist anders als die Menschen dort unten, das weiß ich seit einiger Zeit. Wenn ich hier oben bin, dann scheinen mir die Dinge dort unten«, sie wies hinab, »keine Bedeutung mehr zu haben. All die Zwiste, der Hass und das unaufhörliche Getriebe. Hier ist man fern von all dem. Manchmal bin ich froh, hierher flüchten zu können. Und doch… ich weiß nicht… da unten ist etwas, das mich zurückruft.«

Hori ließ ihre Hand los und trat einen Schritt zurück. Dann sagte er freundlich: »Ja, ich verstehe – Kameni, der im Hof singt.«

»Ich dachte nicht an Kameni.«

»Du hast vielleicht nicht an ihn gedacht. Aber trotzdem glaube ich, Renisenb, dass du seine Lieder hörst, ohne es zu wissen.«

Sie sah ihn mit gerunzelten Brauen an.

»Was für sonderbare Dinge du sagst, Hori. Hier oben kann man ihn doch gar nicht singen hören. Er ist viel zu weit entfernt.«

Hori seufzte leise und schüttelte den Kopf.

Die Belustigung, die sich in seinen Augen spiegelte, verwirrte sie. Sie war ein wenig ärgerlich, weil sie nicht verstand, was er meinte.