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Vierter Monat des Winters – 6. Tag

 

Imhotep saß Esa gegenüber.

»Sie erzählen alle die gleiche Geschichte«, sagte er verdrossen.

»Das ist wenigstens schicklich«, gab Esa zurück.

»Schicklich!«, schnaubte er. »Ob sie die Wahrheit sprechen, das muss ich entscheiden. War es ein Unfall?« Er schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht vergessen, dass die Ankündigung meiner Absichten leidenschaftliche Gefühle geweckt haben könnte.«

»Ja, wirklich, das war der Fall. Sie schrien in der Haupthalle, dass ich hier in meinem Zimmer jedes Wort verstehen konnte. War es dir mit diesen Absichten übrigens ernst?«

Imhotep bewegte sich unbehaglich, während er murmelte: »Ich schrieb im Zorn. Meiner Familie musste eine scharfe Lehre erteilt werden.«

»Mit andern Worten«, sagte Esa, »du hast nur gedroht. Wie üblich hast du Staub aufgewirbelt und nicht überlegt.«

Imhotep beherrschte seine aufsteigende Gereiztheit.

»Das hat jetzt gar keine Bedeutung. Es handelt sich nun um Nofrets Tod. Wenn tatsächlich jemand in meiner Familie so pflichtvergessen und jähzornig sein könnte, mein Weib umzubringen, ich weiß nicht, was ich ihm antun würde!«

»Dann ist es ja ein Glück, dass alle dieselbe Geschichte erzählen«, erwiderte Esa. »Niemand hat irgendetwas anderes angedeutet, nicht wahr?«

»Niemand.«

»Warum betrachtest du den Fall dann nicht als abgeschlossen? Du hättest Nofret mitnehmen sollen. Ich habe es dir damals geraten.«

»Du glaubst also…«

Esa unterbrach ihn nachdrücklich: »Ich glaube, was mir gesagt wird, solange ich mit meinen Augen nichts anderes sehe oder mit meinen Ohren nichts anderes höre. Du hast Henet wohl gefragt? Was meint sie dazu?«

»Sie ist betrübt. Um meinetwillen.«

Esa hob die Brauen.

»Wirklich? Dann solltest du den Fall als abgeschlossen betrachten. Es gibt viele andere Angelegenheiten, die auf dich warten.«

»Das stimmt.« Imhotep stand mit der ihm eigenen übertriebenen Würde auf. »Yahmose wartet in der Haupthalle auf mich mit dringenden Angelegenheiten. Ich habe viele Entscheidungen zu treffen. Wie du sagst, persönlicher Kummer darf uns von der Erfüllung der Pflichten nicht abhalten.« Er ging hinaus.

Esa lächelte ein wenig sardonisch vor sich hin, dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. Sie seufzte und schüttelte den Kopf.

 

Yahmose wartete zusammen mit Kameni auf seinen Vater. Hori, erklärte er, beaufsichtige gerade die Arbeit der Einbalsamierer und der Leute, die die letzten Vorbereitungen zum Begräbnis trafen.

Es hatte einige Wochen gedauert, bis Imhotep nach Erhalt der Nachricht von Nofrets Tod heimgekehrt war, und die Vorbereitungen zum Begräbnis waren inzwischen fast vollendet. Die Leiche hatte lange in der Lauge gelegen, war hergerichtet, geölt und mit Salzen eingerieben worden und lag im Sarg.

Yahmose sagte, er habe jene kleine Grabkammer neben dem Felsengrab gewählt, die dafür bestimmt war, dereinst Imhotep selber aufzunehmen. Er führte im Einzelnen aus, was er veranlasst hatte, und Imhotep drückte seine Billigung aus.

»Du hast es recht gemacht, Yahmose«, sagte er freundlich. »Du hast Entschlusskraft und Überlegung bewiesen.«

Yahmose errötete leicht ob des unerwarteten Lobes.

»Opi und Montu sind allerdings ziemlich teure Einbalsamierer«, fuhr Imhotep fort. »Ich hätte unbekanntere gewählt.«

»Während deiner Abwesenheit musste ich entscheiden, und ich war darauf bedacht, dass dem Weib, dem du so zugetan warst, die gebührenden Ehren erwiesen werden.«

Imhotep nickte und klopfte seinem Sohn die Schulter.

»Es war ein gut gemeinter Fehler, das erkenne ich an, und die unnötigen Ausgaben wurden mir zuliebe gemacht. Gleichwohl heißt es sparen…«, er räusperte sich. »Wir wollen sehen, wie wir die Ausgaben verringern können. Lies mir den Kostenanschlag vor, Kameni.«

Kameni raschelte mit dem Papyrus.

Yahmose stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

 

Kait ging zum See und blieb an der Stelle stehen, wo die Kinder und Mütter sich aufhielten.

»Du hattest Recht, Satipy«, sagte sie. »Ein totes Weib ist wirklich nicht dasselbe wie in lebendes Weib!«

Satipy blickte sie mit verschwommenen Augen an, und Renisenb fragte schnell statt ihrer: »Wie meinst du das, Kait?«

»Für die Lebende war nichts gut genug – Kleider, Juwelen, sogar die Erbschaft, die Imhoteps eigenem Fleisch und Blut gehören sollte! Aber jetzt ist Imhotep eifrig damit beschäftigt, die Begräbniskosten zu verringern. Wozu für eine Tote Geld verschwenden? Ja, Satipy, du hattest Recht.«

Satipy murmelte: »Was sagte ich denn? Ich weiß es nicht mehr.«

»Es ist am besten so«, stimmte Kait zu. »Ich weiß es auch nicht mehr. Und Renisenb hat es ebenfalls vergessen.«

Renisenb blickte Kait wortlos an. In Kaits Stimme hatte eine leichte Drohung geschwungen, die Renisenb Unbehagen bereitete. Sie hatte Kait eigentlich immer für einen etwas dummen, unterwürfigen Menschen gehalten. Jetzt fiel ihr auf, dass Kait und Satipy die Rollen vertauscht zu haben schienen. Offenbar beherrschte die ruhige Kait nun Satipy.

Oder gewann man diesen Eindruck, weil Satipy sich verändert hatte? fragte sich Renisenb. Ihre Stimme schrillte nicht mehr, und sie hatte ihr selbstbewusstes Gehaben gänzlich abgelegt. Renisenb meinte zuerst, der Schrecken über Nofrets Tod habe die Veränderung bewirkt, aber so lange konnte der Schrecken doch nicht anhalten. Anstatt, wie man es von Satipy erwartet hätte, sich unverblümt über den plötzlichen Tod der Frau auszulassen, zuckte sie nur zusammen, sooft Nofrets Name fiel. Sie schien auch Yahmose sanfter zu behandeln, und er zeigte infolgedessen mehr Sicherheit und Entschlossenheit. Jedenfalls brachte Satipys Verwandlung nur Gutes, fand Renisenb, doch irgendwie war sie ihr unheimlich…

Mit einem Mal merkte Renisenb, dass Kait sie mit gerunzelten Brauen betrachtete.

Offensichtlich erwartete Kait ein Wort der Zustimmung. »Renisenb weiß es auch nicht mehr«, wiederholte sie.

Renisenb fühlte plötzlich eine ganz starke Auflehnung. Sie wollte sich von niemandem befehlen lassen, was sie wusste und was nicht, und sie begegnete Kaits Blick mit trotzigem Widerspruch.

»Frauen, die einem Haushalt angehören, müssen zusammenhalten«, sagte Kait.

Renisenb fand ihre Stimme wieder.

»Warum?«

»Weil sie die gleichen Interessen haben.«

Renisenb schüttelte den Kopf.

»So einfach ist das nicht.«

»Willst du Unannehmlichkeiten heraufbeschwören, Renisenb?«

»Nein. Was meinst du übrigens mit Unannehmlichkeiten?«

»Alles, was damals in der großen Halle gesagt worden ist, wird am besten vergessen.«

Renisenb lachte.

»Du bist dumm, Kait, die Diener, die Sklaven, meine Großmutter, alle müssen es gehört haben. Weshalb Geschehenes ungeschehen machen wollen?«

Satipy fiel mit plötzlicher Gereiztheit ein: »Hör auf davon zu reden, Kait. Wenn Renisenb Unannehmlichkeiten heraufbeschwören will, so lass sie doch.«

»Das will ich ja gar nicht«, entgegnete Renisenb unwillig. »Ich finde es nur dumm, einen falschen Anschein zu erwecken.«

»Nein, es ist klug«, sagte Kait. »Du musst an Teti denken.«

»Teti fehlt nichts.«

»Niemandem fehlt etwas… nachdem Nofret tot ist«, lächelte Kait.

Es war ein ernstes, ruhiges, zufriedenes Lächeln, und wieder fühlte Renisenb Auflehnung im Innern.

Immerhin hatte Kait Recht. Friede herrschte, und es fehlte niemandem etwas. Der Eindringling, der Störenfried, war für immer fort.

Warum aber hegte Renisenb kameradschaftliche Gefühle für die tote Frau, die sie nicht geliebt hatte? Weshalb dieses Bedauern und dieses Mitleid für die böse, schlechte Nofret? Renisenb schüttelte verwirrt den Kopf. Sie saß am Wasser, nachdem die andern sich entfernt hatten, und versuchte vergeblich, sich über alles klar zu werden.

Die Sonne stand tief, als Hori, der den Hof überquerte, Renisenb sah, zu ihr kam und sich neben ihr niederließ.

»Es ist spät, Renisenb. Du solltest hineingehen.«

Seine ernste, ruhige Stimme beschwichtigte sie wie stets.

Sie bekannte ihm ihre Sorgen:

»Wieso sind alle mit einem Mal anders, Hori? Satipy ist nicht wieder zu erkennen. Man kann sich doch nicht in einem Tag ändern.«

»In einem Tag – nein.«

»Und Kait, die immer so still und ergeben war, beherrscht uns nun alle. Sogar Sobek scheint Angst vor ihr zu haben. Auch Yahmose ist anders; er erteilt Befehle und erwartet, dass man ihm gehorcht!«

»Und all das verwirrt dich, Renisenb?«

»Ja. Weil ich es nicht verstehe. Manchmal meine ich, dass vielleicht auch Henet ganz anders ist, als sie sich gibt.«

Renisenb lachte wie über etwas ganz und gar Lächerliches, aber Hori stimmte nicht ein. Seine Miene blieb ernst und nachdenklich.

»Du hast über die Menschen noch nicht viel nachgedacht, nicht wahr, Renisenb? Sonst wüsstest du wohl…« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Du weißt doch, dass alle Gräber eine Scheintür haben.«

»Ja, natürlich«, gab sie verwundert zurück.

»Nun, mit den Menschen verhält es sich ebenso. Sie schaffen sich eine Scheintür, um zu täuschen. Wenn sie sich ihrer Schwäche, ihrer Untüchtigkeit bewusst sind, machen sie sich eine Tür der Selbstsicherheit und Überlegenheit, und nach einer Weile glauben sie selber daran. Sie glauben, und jeder glaubt, dass sie die vorgetäuschten Eigenschaften haben. Aber hinter der Tür, Renisenb, da ist nackter Felsen… Und wenn dann die Wirklichkeit kommt und sie mit der Feder der Wahrheit berührt, offenbart sich ihr wahres Ich. Kaits Sanftheit und Unterwürfigkeit brachten ihr alles, was sie sich wünschte – einen Gatten und Kinder –, Dummheit erleichterte ihr das Leben, aber als die Wirklichkeit in Form von Gefahr drohte, kam ihre wahre Natur zum Vorschein. Sie hat sich nicht verändert, Renisenb – diese Strenge und Unbarmherzigkeit gehörten schon immer zu ihrem Charakter.«

Renisenb sagte naiv: »Aber mir gefällt das nicht. Es erschreckt mich. Jeder soll anders sein, als man meint… Und wie verhält es sich mit mir? Ich bin doch immer dieselbe.«

»Wirklich?«, lächelte er. »Warum hast du dann all die Stunden grübelnd hier gesessen? Hat das die frühere Renisenb auch getan?«

»O nein. Da war es nicht nötig…« Sie hielt inne.

»Siehst du? Du sagst es selbst. Du bist nicht mehr das glückliche, gedankenlose Geschöpfchen, das alles hinnahm. Worüber hast du denn gegrübelt?«

»Über Nofret… warum ich sie nicht vergessen kann. Sie war böse und grausam und versuchte uns weh zu tun, und nun ist sie tot – weshalb kann ich es nicht dabei belassen?«

»Kannst du das nicht?«

»Nein.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Manchmal ist mir, als wüsste ich, was sie empfunden hat. Sie war sehr unglücklich, das weiß ich jetzt, Hori. Sie wollte uns wehtun, weil sie so unglücklich war.«

»Das kannst du nicht wissen, Renisenb.«

»Nein, natürlich nicht mit Bestimmtheit, aber ich fühle es. Das Elend, die Bitterkeit, der glühende Hass… das sah ich alles auf ihrem Antlitz geschrieben, aber ich begriff es damals nicht! Sie muss einen Mann geliebt haben, und dann hat sie ihn nicht bekommen… vielleicht ist er gestorben oder fortgezogen. Dadurch ist sie so grausam geworden. Sie wurde das Weib eines alten Mannes, meines Vaters, sie kam hierher, und wir liebten sie nicht, und sie wollte uns ebenso unglücklich machen, wie sie unglücklich war… ja, so war es!«

Hori betrachtete sie neugierig. »Du scheinst deiner Sache sehr sicher zu sein.« Dann fragte er ruhig: »Du glaubst nicht, dass Nofret durch einen Unfall umgekommen ist, nicht wahr? Du denkst, jemand hat sie hinuntergestoßen, ist es so?«

Leidenschaftlich wehrte Renisenb ab, als sie ihre Meinung in Worten ausgedrückt hörte: »Nein, nein, sag das nicht!«

»Ist es nicht wahr, Renisenb?«

»Ja, es ist wahr.«

Hori senkte den Kopf.

»Und du glaubst, dass Sobek es getan hat?«

»Wer sonst hätte es gewesen sein können? Erinnerst du dich an die Schlange und an seine Worte, als er damals aus dem Haus lief?«

»Ja, ich erinnere mich. Aber nicht immer tun diejenigen Menschen am meisten, die am meisten sagen.«

»Doch du glaubst auch, dass sie getötet wurde?«

»Ja. Aber das ist nur ein Verdacht, Renisenb. Ich habe keinen Beweis. Es wird wohl auch nie bewiesen werden. Deshalb habe ich Imhotep zugeredet, den Urteilsspruch zu unterzeichnen, dass es ein Unfall war. Jemand hat Nofret hinuntergestoßen, aber wir werden nie erfahren, wer es war.«

»Du meist also nicht, dass Sobek es war?«

»Ich glaube es nicht. Aber wie gesagt, wir werden es nie erfahren – darum ist es am besten, nicht mehr darüber nachzudenken.«.

»Wenn nicht Sobek – wer war es dann?«

Hori schüttelte den Kopf.

»Vielleicht irren meine Gedanken sich… darum ist es besser zu schweigen.«

»Aber dann werden wir es nie wissen!«, rief Renisenb bestürzt.

»Vielleicht…« Hori zögerte. »Vielleicht ist es das beste.«

»Nichts zu wissen?«

»Nichts zu wissen:«

Renisenb schauderte.

»Aber dann… o Hori, ich fürchte mich!«